Seiten

30. August 2018

Warum verstehen sich Fußgänger/innen und Radfahrende so schlecht?

Ein bisschen musste ich schmunzeln, als ich das las. Die Stuttgarter Zeitung hat den Mischverkehrsbereich in der Tübinger Straße beim Gerber problematisiert. 

Ich finde diesen Teil der Hauptradroute 1 auch problematisch. Der Behindertenbeauftragte der Stadt, Tattermusch, beklagte allerdings, "dass Menschen mit Behinderungen sich von Autofahrern, die hier eigentlich Schrittgeschwindigkeit fahren sollten, und rücksichtslosen Radfahrern, die die Tübinger Straße für eine Radfahrerstraße halten, immer wieder erschreckt, bedrängt und angedrängt" würden. In Deutschland funktioniert ein rücksichtsvolles Miteinander nicht, so der Tenor des Artikels. Ein neues Schild müsse her, das wie in der Schweiz den Bereich so regelt: Tempo 20, Fußgänger haben Vortritt, dürfen jedoch Fahrzeuge nicht unnötig behindern und das Parken ist nur dort erlaubt, wo es Schilder gestatten.
Drei kleine Irrtümer stecken allerdings in den Aussagen. 


Autofahrer und Radfahrer müssen in der Zone am Gerber nicht Schrittgeschwindigkeit fahren (Tempo 20 ist keine Schrittgeschwindigkeit). Und es gilt bereits, dass hier nicht geparkt werden darf. Das zeigen und erklären die Schilder am Eingang des Bereichs. Die Rolle von Fußgängern machen die Schilder allerdings tatsächlich nicht klar. Aber selbstverständlich wird hier niemand angefahren (es gilt § 1 der StVO), und viele Fußgänger laufen völlig unbefangen auf der Asphaltfläche herum, die wie eine Fahrbahn wirkt. Das für den Mischverkehrsbereich passende Schild haben wir nicht, weil die StVO den Mischverkehrsbereiche nicht kennt. Das vorgeschlagene Schweizer Straßenschild sagt nun aber dasselbe. Es sagt nicht, dass Fußgänger hier Vorrang hätten. Es sagt nur, dass alle Verkehrsarten gleichberechtigt sind.

Übrigens sind Autofahrende, Radfahrende und Zufußgehende in Stuttgart extrem schlecht, was das Beachten von Verkehrszeichen betrifft. Schilder helfen nach meiner Erfahrung nirgendwo.

Was aber wieder einmal durch den Bericht klar wird.
Es gibt Menschen, die sich zu Fuß unsicher fühlen, und die sich nicht trauen, den ihnen zustehenden Raum zu beanspruchen, weil sie fürchten, sie würden angefahren. Sie können eben auch nicht mal schnell beiseite springen wie ein junger Mensch, wenn sie sich in Gefahr sehen. Stuttgart ist nicht sonderlich gut auf Monilitätseingeschränkte vorbereitet. Viele Läden sind nicht barrierefrei, Bordsteine und Treppen sind für Rollatorengänger und Rollstühle riesige Hindernisse,  Gehwege sind oft zugeparkt, die Aufzüge an den U-Haltestellen funktionieren oft nicht, die Grünphasen an Ampeln sind zur kurz, nicht überall gibt es den Behindertenknopf an der Ampel und so weiter.

Da ist die Tübinger Straße beim Gerber besser als andere Straßen, denn es gibt keine Bordsteine. Nur eben arg viel Verkehr. Zu lösen wäre das Problem, indem man ihn zunächst einmal für Autos komplett sperrt. Parkplatzsuchverkehr braucht enorm viel Raum und stört. Zumal es hier gar keine Parkplätze gibt. Wir hätten ein Gerangel weniger dort, das auch Radler zu Ausweichmanövern zwingt.

Zu einer Fußgängerzone kann man den Bereich allerdings nicht machen. Denn dann müsste man Radfahrenden eine andere Strecke anbieten. Es ist nun mal so, dass die Hauptradroute 1 hier entlang führt. Sie ist die meist befahrene Route Stuttgarts, auf der zwei- bis dreitausend Radler jeden Tag unterwegs sind.  Wir Radfahrenden finden es auch nicht lustig, dass unsere Hauptstrecke so gelegt wurde, dass sie Fußgänger/innen stört. Wir schlängeln uns hier auch ungern durch viel zu viele Autos und durch Fußgänger, die blicklos kreuzen. Wir würden gerne anders fahren, beispielsweise auf einem breiten gesicherten Radweg außerhalb der Konsumzonen, aber den haben wir nicht. Und es geht auch nicht, dass unsere Hautradroute durch Fußgängerzonen unterbrochen wird. Das wäre, als würde man eine Autobahn mal kurz durch einen Stadtkern mit Tempo 30 führen.

Wir dürfen nicht Radfahrer gegen Fußgänger ausspielen.
Die Polizei kann viel über falsch geparkte Autos erzählen, aber dem Zeitungsartikel zufolge nichts über Unfälle zwischen Radfahrenden und Fußgänger/innen. Aber der scheinbar ungeregelte Bereich erzeugt offenbar Unsicherheiten.


Es gibt zwei Typen von Fußgänger/innen.
Ich beobachte, dass sich das Verhalten von Fußgänger/innen Radfahrenden gegenüber in zwei Kategorien teilen lässt: Die einen gucken gar nicht, sie sehen keine Radler, sie gehen einfach quer und längs und lassen die Radler um sie herum fahren. Sie sind völlig unbefangen und angstfrei.
Die anderen schauen Radfahrende mit übermäßiger Sorge an, sie warten am Zebrastreifen, dass der Radler zum Stillstand anhält (wie ein Auto), bevor sie losgehen, sie haben das Gefühl, Radfahrer würden sie einfach über den Haufen fahren. Sie verstehen nicht, dass Radfahrende sie sehen und locker hinter ihnen vorbei kommen, wenn sie losgehen und die Straße queren.

Auf dem Foto sieht man, dass der Radfahrer den Teil des Zebrastreifens überfährt, wo niemand geht. Ein Auto müsste hier anhalten, Radfahrende aber eben nicht. Und das verstehen einige Fußgänger/innen nicht. Der Radler hier behindert weder die Fußgänger, die drüber gegangen sind, noch die Fußgängerin, die von links gerade losgeht. So verhält sich ein Radfahrer auf jeder Fahrbahn, die von einem Fußgänger überquert wird. Er umfährt den Fußgänger, er fährt ihn nicht über den Haufen.

Ein Radfahrer sieht Fußgänger vor sich. 
Alle Radfahrenden sind sehr aufmerksame Verkehrsteilnehmer, denn sie stürzen und verletzen sich, wenn sie mit jemandem kollidieren, sie sehen, ob jemand mit Rollator oder im Rollstuhl oder mit Gehilfen unterwegs ist. Sie sehen alle, die mit dem Handy am Ohr blind umhergehen. Aber es gibt Menschen, die glauben, Radler hätten keine Augen. Ich halte manchmal an, wenn jemand am Zebrasteifen gar nicht losgeht, nur weil er oder sie mich heran radeln sieht, und erkläre, dass man als Fußgänger einfach losgehen kann, weil der Radler einen sieht, und dann hinter einem vorbeikommt. Ich werbe für mehr Vertrauen in die grundsätzliche Fähigkeit von Radfahrenden, zu sehen, was vor ihnen passiert, und Zusammenstößen auszuweichen.

Als Fußgänger ist man dann am sichersten auf einer von Fahrrädern viel befahrenen Straße unterwegs, wenn man einfach seinen Weg verfolgt. Dann ist man für Radfahrende total gut einzuschätzen und zu umfahren.

Heute Abend übrigens meine kleine Fahrradsommertour zum Thema wie gut ist unsere Radinfrastruktur für Lastenräder, Kinderhänger, Tandems oder Dreiräder? 
18:00 Uhr am Rathaus auf dem Marktplatz
Weiter diskutieren können wir nach Ende der Tour im Flora und Fauna.




15 Kommentare:

  1. Hallo Christine,
    Du schreibst; "und viele Fußgänger laufen völlig unbefangen auf der Asphaltfläche herum, die wie eine Fahrbahn wirkt. " - ist sie das de facto denn nicht auch?
    Sie ist farblich und vom Material von den Gehwegen abgesetzt. Nur was sind die Kreuzungen, wo nur das Gehwegmaterial verlegt wurde (die Klappersteine)? Dürfen Fahrzeuge denn da überhaupt drüber fahren, da die 'Fahrbahn' ja endet?
    In meinen (unwissenden) Augen hat die Stadt hier ein Mischmasch produziert, das rechtlich gar nicht einzuordnen ist.

    AntwortenLöschen
  2. Die Beschilderung und die Markierungen sind doch eindeutig: Ein Zebrastreifen? Das muss eine Fahrbahn sein. Nirgendwo steht, dass mit Fußgängern auf der Fahrbahn zu rechnen ist. Ob eine Schweizer Mischverkehrszone in Deutschland funktionieren würde? In Wohngebieten, die man nicht zu Spielstraßen machen möchte, sicher. In Einkaufstraßen mit viel Lieferverkehr? Sicher nicht.

    Eine Fußgängerzone, in der Anwohner parken dürfen und Lieferverkehr bis 11:00 zugelassen ist und die für Fahrräder freigegeben ist, könnte auch funktionieren, würde aber nicht zur "Hauptradroute" passen.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Stimmt, das ist sozusagen das Manko dieses Mischverkehrsbereichs und unterscheidet ihn von den Schweizer Varianten oder vom Rotebühlplatz (der keiner ist, aber von den Fugßängern so betrachtet wird, weil das Pflaster identisch ist mit dem Fußgängerbereich) und es ist ein Vorteil für uns Radler, weil Fußgänger/innen achtsamer unterwegs sind. Sonst wäre es dort für uns richtig kompliziert und die Konflikte würden zunehmen.

      Löschen
  3. Bei einer Diskussion über einen ähnlichen Bereich vor wenigen Wochen auf Twitter habe ich für mich etwas Neues in der StVO entdeckt. Nämlich den verkehrsberuhigten Geschäftsbereich. Wikipedia erklärt das sehr schön, mit Links zu den Quellen: https://de.wikipedia.org/wiki/Verkehrsberuhigter_Gesch%C3%A4ftsbereich

    Und um genau sowas handelt es sich bei dere Tübinger Straße zwischen Paulinenbrücke und Königstraße. Also etwas anderes als eine Begegnungszone in der Schweiz, in der die Fußgänger Vorrang haben.

    AntwortenLöschen
  4. Ein weiteres Problem ist das Jobverständnis des Behindertenbeauftragten, der postuliert, dass Behinderte Fußgänger sind, und dass die Interessen von Behinderten und Radfahrenden gegeneinander stehen. Falsch, das Fahrrad wird gern von Behinderten genutzt. Wann tut die Stadt Stuttgart denn mal etwas für behinderte Radfahrende? Wann wird der Radverkehr barrierefrei?

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Richtig! Der Radverkehr muss Bordsteinfrei laufen, auch für die Dreiradfahrer, die nicht mehr laufen können, da kenne ich einen gut, den sehe ich immer wieder. Stuttgart muss noch ganz viel für Radfahrende tun, das ist leider so, und wir haben noch nicht mal angefangen, wirklich den Normalradverkehr zu fördern.

      Löschen
    2. Seit vielen vielen Jahrzehnten gibt es sie: die bordsteinfreien breiten Fahrbahnen mit bester Oberfläche guten Sichtbeziehungen und ausreichender Trennung zwischen Fahrverkehr und Gehverkehr.
      Wir haben nur den Fehler gemacht, dass da umweltfeindliche lebensgefährliche Blechkisten die Hoheit übernommen haben und diese Vormachtstellung (mit dem Segen der Fahrradlobby?) gegenwärtig noch weiter ausbaut bzw. zementiert wird.
      Da gibt es dann natürlich ein Hauen und Stechen um die kleinen Restflächen zwischen Fahrbahn und Häuserwand.


      Alfons Krückmann

      Löschen
  5. "Die anderen schauen Radfahrende mit übermäßiger Sorge an, sie warten am Zebrastreifen, dass der Radler zum Stillstand anhält (wie ein Auto), bevor sie losgehen, sie haben das Gefühl, Radfahrer würden sie einfach über den Haufen fahren. Sie verstehen nicht, dass Radfahrende sie sehen und locker hinter ihnen vorbei kommen, wenn sie losgehen und die Straße queren."

    Dazu möchte ich gern sagen, dass niemand das Recht hat, anderen Verkehrsteilnehmer zu sagen, sie sollen sich nicht sorgen. Kollidiert ein Radfahrer mit einem älteren Menschen, darf Letzterer sich völlig zurecht sorgen.
    Der Fussgänger hat offensichtlich kein Vertrauen in den Radfahrer. Das lässt sich nicht wegdiskutieren. Ich finde nicht, dass man einfach hergehen und sagen kann: "hab mal einfach mehr Vertrauen in Radfahrer". Es mag sein, dass der Radfahrer am Fussgänger mit unverminderter Geschwindigkeit vorbeikommt, aber ebenso könnte der Raser/Drängler auf der Autobahn sagen, dass er ja alles im Griff hätte und in den allermeisten Fällen nichts passiert. Der Bedrängelte macht sich aber trotzdem Sorgen.
    Radfahrer haben am Zebrastreifen zu halten, durch Ihrer höhere Betriebsgefahr auch sonst auf Fussgänger zu achten und zur Not auch anzuhalten. Punktum.
    Ich merke, dass sich viele Fussgänger von mir auf dem Rad gehetzt fühlen und beispielsweise förmlich über den Zebrastreifen rennen. Das ist keine gute Entwicklung.
    Es gibt unterschiedliche Wahrnehmungen, was ich auf dem Rad total im Griff habe und zur Not anhalte, sieht für den Fussgänger bedrohlich aus und er kann nicht einschätzen, ob für ihn daraus eine Gefahr entsteht. Und diese Einschätzung ist nun mal sein gutes Recht.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ich sehe die Angst mancher Fußgänger vor Radfahrenden auch nicht als gute Entwicklung an und appelliere hier, weniger defensiv den RAdlern gegenüber aufzutreten. Autos sind für Fußgänger/innen viel gefährlicher als Radfahrende. Nur werden RAdfahrende oft falsch eingeschätzt und ihre Bewegungsform nicht verstanden. Man hält sie irgendwie für gesichtslose Ungeheuer, die alles umnieten, was ihnen in den Weg tritt (ich übertreibe), und das ist eben gar nicht so. Sie sehen mehr als Autofahrer, sie sind weniger und langsamer und gewohnt auszuweichen.

      Löschen
    2. Ja, das ist so. Es ist gewiss zu einem bestimmten Teil so, dass Fussgänger ihre Erfahrungen mit Autos gemacht haben und diese auf Radfahrende übertragen. Das trifft natürlich so nicht zu.

      Eine defensivere Fahrweise im Bezug auf Fussgänger würde uns Radfahrenden trotzdem meistens helfen und auch mehr Verständnis erzeugen. Wir sind so oft die Schwächeren, da sollten wir uns in die schwächeren Fussgänger gut hineinversetzen können.

      Löschen
  6. Jörg
    Man kann nochmal ins Ausland schauen. So ist es in Holland gestattet mit Rollstühlen auf Radwegen zu fahren. In Deutschland darf man nur auf den Gehweg und wenn das nicht geht soll man ab auf die Straße.
    Eine weitere Regel in Holland: Der Fußgänger darf auf den Radweg wenn kein Gehweg vorhanden ist. In Deutschland muss er dann auf die Straße. Auf dem Radweg müsste er am Rand gehen, keine Vierer Kette bilden, die Hundeleine quer spannen etc. . Beim eine Gehweg Rad frei sieht die Welt ganz anders aus.

    Es geht einfach darum zu akzeptieren, das Fahrräder mit 100 bis 200 Watt angetrieben werden und somit zwischen 15 und 30 km/h schnell sind. Wenn sich Fußgänger erschrecken ist das erst mal ihre Sache. Sie machen es anschließend zur Sache der Radfahrer. Ich bin auch erschrocken, wie ein kleiner niedlicher Hund in meiner Wahrnehmung plötzlich mit seine Stupsnase beim Schnüffeln mein Bein berührt hat. Der soll natürlich keine fremden Leuten berühren, aber schlimm war es wirklich nicht.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Wenn wir Holländische Radwege hätten, könnten wegen mir dort auch Pferde reiten oder Flugzeuge landen.

      Löschen
  7. "Wir dürfen nicht Radfahrer gegen Fußgänger ausspielen."
    Dem ist nichts anzufügen. Ich hätte überhaupt nichts dagegen, die Tübinger komplett den Fußgängern zu überlassen und den Radfahrern eine Spur auf der Stadtautobahn zu geben :)

    AntwortenLöschen
  8. ....und führt derzeit nicht auch die nicht ausgeschilderte Umleitung (Ausfahrt) der in der Tübinger Str. geratenen Autofahrer ab Einmündung Fangelsbachstr. Richtung Stadtmitte (also Tübinger Str. Nr. 61 absärts) auch durch den "verkehrsberuhigten Geschäftsbereich" noch zusätzlich? Also genervte Autofahrer, die wieder auf ihre richtigen Strßen kommen wollen, drängeln sich da hindurch?
    Pferde habe ich noch keine gesehen, aber der Lieferverkehr mit Lkw und etlichen Kleintransportern trägt auch nicht gerade zu einer entspannten Situation bei. Dies wird beim Artikel der Stuttgarter Zeitung "wissentlich" fortgelassen, was ich für eine objektive Darstellung, die ich von der Journalisterei erwarte, durchaus fragwürdig zu nennen ist.

    AntwortenLöschen
  9. "Und es geht auch nicht, dass unsere Hautradroute durch Fußgängerzonen unterbrochen wird. Das wäre, als würde man eine Autobahn mal kurz durch einen Stadtkern mit Tempo 30 führen."

    Leider ist es ja jetzt schon so, dass diverse Abschnitte der HRR1 im Süden durch verkehrsberuhigte Bereiche führen (Möhringer Str. beim Rewe Marienplatz, Burgstallstraße am Südheimerplatz und Ecke Möhringer Str.)
    Auch hier dürfen Fußgänger "[...] die Straße in ihrer ganzen Breite benutzen" und ich "[...] muss Schrittgeschwindigkeit einhalten".

    Da habe ich innerlich auch immer das Bild von der Autobahn vor Augen...

    AntwortenLöschen