In der finnischen Hauptstadt Helsinki hat es im Juni vergangenen Jahres zuletzt einen tödlichen Verkehrsunfall gegeben. Auch im Jahr 2019 kam kein Mensch im Straßenverkehr ums Leben.
Des meldeten die Medien Anfang August. Einmütig berichten alle, dass mittlerweile in mehr als der Hälfte der Straßen Tempo 30 gilt. Helsinki ist so groß wie Stuttgart. Allerdings, in Stuttgart gilt Tempo 30 nach Angaben der Stadt für etwa 70 Prozent der Straßen, und auf vielen Hauptverkehrsachsen darf nur 40 km/h gefahren werden. Daran kann es also nicht allein liegen, dass in Helsinki ein Jahr lang keine Mensch im Verkehr getötet wurde. In Stuttgart war der Verkehr 2024 für den Tod von sieben Menschen verantwortlich, darunter zwei Fußgänger, ein Motorradfahrer, ein Leichtkraftradfahrer, ein E-Scooterfahrer und eine Beifahrerin im Auto.
Als weiterer Grund für Null Verkehrstote innerhalb eines Jahres, wird genannt, dass die Polizei die Einhaltung der Verkehrsregeln strenger überwacht. Vor allem scheint man in Finnland sehr viele Alkoholkontrollen zu machen. Durchfahrtsverbote werden mit Kameras überwacht. Außerdem investiert Helsinki in die Infrastruktur für Menschen zu Fuß und auf Fahrrädern.
Gehwege werden verbreitert und Radwege sicherer gestaltet. Bei der Verkehrsplanung werden seit vielen Jahren zuerst die Bedürfnisse des Fußverkehrs betrachtet, dann der Bedarf des Radverkehrs (der noch keine 20 Prozent am Modal Split erreicht hat). Erst dann kümmert man sich um den Öffentlichen Nahverkehr und den Autoverkehr. Autos, Lkw, Motorärder und Roller sind klar von Fußgänger:innen und Radfahrenden getrennt unterwegs oder müssen sehr langsam gefahren werden. In der Innenstadt von Helsiki, so ein Bericht des NDR, "fahren Straßenbahnen und ein paar Autos schön langsam auf engen und klar abgegrenzten Fahrbahnen". Fast 80 Prozent aller Wege werden in Helsinki mit öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt. Wo weniger Autos fahren, gibt es offenbar weniger schwere Verkehrsunfälle.
Schaut man sich mit einer online-Karte die Straßen von Helsinki an, sehen sie eigentlich nicht sonderlich anders aus als unsere. Es gibt viele Autos, es parken viele Autos am Straßenrand. Nicht überall (eigentlich fast nirgends) sieht man eine Radinfastruktur. Helsinki hat dennoch irgendwie die Verkehrskultur verändert und damit offenbar ein öffentliches Bewusstsein dafür geschaffen, dass der Straßenverkehr sicher sein muss, und zwar für Leute, die nicht in Autos sitzen. Vor allem die Sicherheit von Kindern scheint den Finn:innen wichtiger zu sein als uns.
Vielleicht sind die Finn:innen weniger aggressive Autofahrende als wir in Deutschland, mag sein. Aber ich vermute, dass eine bessere Verkehrsüberwachung und die stetige Verlangsamung des Autoverkehrs den meisten Anteil an dem Erfolg haben. In Finnland wird die Höhe der Strafen fürs Rasen in Tagessätzen berechnet (wie in der Schweiz), was für Reiche teuer wird, allerdings auch erst ab 50 km/h zu schnell. Wenn ich mich frage, was wir in Stuttgart tun müssten, damit innerhalb eines Jahres nicht mehr sieben Menschen im Straßenverkehr sterben, sondern keiner, dann wäre Tempo 30 auf etlichen Straßen mehr sicher sinnvoll, vor allem dort, wo Radfahrende ohne Radinfrastruktur auf Fahrbahnen radeln müssen oder viele Menschen zu Fuß unterwegs sind. So wird jetzt erwogen, am Olgaeck, Tempo 30 einzuführen, nachdem dort ein Autofahrer an der Stadtbahnhaltestelle in wartende Menschen gefahren war und eine Frau getötet und viele Kinder verletzt hat.
Nötig wäre aber auch eine bessere Trennung von Rad- und Autoverkehr. Und dass Autofahrer auf Gehwegen Kinder (überhaupt Menschen) totfahren können, muss technisch unmöglich gemacht werden: entweder durch Tempo 30 entlang aller Fußwege oder durch technische Systeme in Autos. Zumindest aber muss es erschwert werden (also auch weg mit Parkplätzen, die über Gehwege angefahren werden und mit den Tiefgaragenein- und Ausfahrten über Geh- und Radwege hinweg). Gehwege müssen außerdem breiter sein, damit Fußgänger:innen mehr Platz haben. Vor allem aber bräuchten wir eine vernünftige und sachliche Diskussion darüber, wie wir die Gefahren des Autoverkehrs für alle, die nicht in Autos sitzen, reduzieren und wie wir unsere Straßen zukunftsfähig gestalten können, damit auf ihnen auch Kinder und Alte zu Fuß oder auf Fahrrädern sicher unterwegs sein können. Das nützt dann allen.
Ja, die klassischen Autoländer haben da gegenüber den nicht-klassischen Autoländern einen definitiven Rückstand.
AntwortenLöschenIch schlage dennoch insgesamt vor die These von Null Verkehrstoten sprachlich zu präzisieren in Richtung "Null Verkehrs-Unfall-Tote".
Der Unterschied ist gravierend, da lokal die Todeszahlen durch Abgase und Lärm des Autoverkehrs, sowie bei globaler Perspektive in stark steigendem Maße durch die Klimawirksamkeit des Autoverkehrs die bloßen Unfalltoten bei weitem übersteigen.
'Vision zero' ist insofern auch mit unfallfreiem Autoverkehr keinesfalls erreichbar.
Alfons Krückmann
Hallo,
AntwortenLöschen2019 war ich beruflich längere Zeit in Finnland, in einer Industriestadt im Norden – vielleicht vergleichbar mit Ludwigsburg oder Esslingen. Schon kurz nach meiner Ankunft fiel mir auf, dass die Autos dort kleiner sind als bei uns. Durch die Stadt führte eine Bundesstraße, teils sogar mit zwei Spuren je Richtung. Ich wohnte in einer 30er-Zone, meine Familie war dabei, und ich besorgte mir ein Fahrrad, um mobil zu sein.
Was mir sofort auffiel: Man fährt in Finnland eher langsamer als erlaubt. In Deutschland reizt man das Limit eher aus, dort nicht. In den ersten Tagen bemerkte ich, dass Autofahrer*innen in unserer 30er-Zone jedes Mal abbremsten, wenn ich mit meinem Kind auf dem Gehweg lief. Sie fuhren mit deutlich unter 30 km/h an uns vorbei. Anfangs hielt ich das für eine Ausnahme, aber es war die Regel.
Auch an Straßen ohne Ampel oder Zebrastreifen – selbst an der großen Bundesstraße – hielten Autofahrer*innen an, sobald sie sahen, dass ich vielleicht rüber wollte. Oft wusste ich gar nicht, wie ich reagieren sollte, so ungewohnt war das für mich. Erst nach einem freundlichen Winken bin ich dann gegangen. Auch Radfahrer*innen wurden durchgelassen, wenn viel Verkehr herrschte. Man hatte den Eindruck: Es wird mitgedacht.
Die Fahrradwege waren ein echtes Highlight. Auf einer Tour bin ich 80 km in eine andere Stadt gefahren – ohne ein einziges Mal den Radweg verlassen zu müssen. Ein anderes Mal musste ich mit dem Rad eine Straße kreuzen. Von links kam nur ein Auto. In Deutschland wäre der Fahrer sicher weiter gefahren, ich wäre danach gefahren. Aber dort hielt er an und ließ mich passieren. Ich dachte noch: wie unnötig – aber gleichzeitig war ich beeindruckt.
Auch das Verhalten der Radfahrerinnen und Radfahrer war auffällig: Es gab sehr viele, und sie nutzten auch Gehwege. Doch sobald ein Fußgänger auftauchte, wurde stark gebremst und langsam vorbeigefahren.
Irgendwann fragte ich einen finnischen Kollegen, warum das so sei. Ob es an hohen Strafen liege? Er meinte: „In Finnland nimmt man Rücksicht. Der Stärkere achtet immer auf den Schwächeren.“ Strafen gebe es zwar auch, aber kein Gesetz schreibe vor, dass man bei einem Kind bremsen oder an einer Kreuzung ohne Ampel halten müsse.
Die Stadt war trotz allem genauso voll mit Autos wie bei uns. Trotzdem wirkte der Verkehr entspannter. Es ist eine Mentalitätsfrage. Dort setzen Eltern ihre Kinder früh aufs Rad und lassen sie losfahren – ohne Angst, dass sie von einem großen Auto überfahren werden. Verkehrserziehung beginnt also ganz anders.
In Deutschland sage ich meinem Sohn: „Wenn die Ampel grün wird, geh nicht sofort los, sondern schau, ob noch ein Auto kommt.“ Damit bringe ich ihm bei, dass letztlich das Auto Vorrang hat. In Finnland hingegen lernen Kinder: Der Fußgänger hat Vorrang. Das verändert das ganze Denken im Verkehr.
Natürlich ist das mein persönlicher Eindruck aus der Zeit dort. Andere mögen andere Erfahrungen gemacht haben – aber für mich hat es gezeigt, wie sehr Mentalität und Kultur den Straßenverkehr prägen können. Ich will nicht allzu pessimistisch sein, aber ob wir das in Deutschland schaffen? Ich hoffe es.
Vielen herzlichen Dank für diese eindrückliche Schilderung. Das erklärt, denke ich viel.
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