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21. November 2017

Die Opfer der Eile

In Deutschland stirbt alle zwei Stunden ein Mensch im Straßenverkehr darunter jeden Tag im Durchschnitt ein bis zwei Radfahrer.

Gemessen anhand der Verkehrstoten pro hunderttausend Einwohner liegt Deutschland weltweit auf Platz 13 von 182 bewerteten Ländern. Erstaunlich, dass wir diese Menge an Todesfällen gleichmütig hinnehmen. Oder nicht unbedingt erstaunlich, sondern typisch Mensch. Würden 12 Menschen auf einmal ums Leben kommen, etwa bei einem Zugunglück, würden wir uns in den Medien und Privatgesprächen tagelang mit den Gründen beschäftigen und nach Abhilfe rufen.
Zum Beispiel durch das Senken der bereits vorhandenen Tempolimits auf 80 km/h auf Landstraßen, 30/40 km/h in Städten und 130 auf Autobahnen (wobei des dort teilweise noch keine Tempolimits gibt). Denn langsam tun hilft nicht nur dabei, in kritischen Situationen noch reagieren zu können, es verbessert auch den Verkehrsfluss. Wenn der Verkehr gleichmäßig rollt, dann geht es auch schneller vorwärts für alle. Wenn einzelne schnell fahren, wird es langsamer für alle, auch für die, die zwischendurch auf die Tube drücken. Die meisten Staus auf dicht befahrenen Autobahnen werden durch Schnellfahrer ausgelöst, wenn sie abbremsen müssen. Da man schneller bremst als wieder startet, kommt der dritte oder fünfte Auto dahinter zum Stillstand und alle weiteren danach auch. Der Stau wird schnell größer, denn Starten dauert länger als bremsen. Das gilt übrigens auch für Innenstädte. Überholvorgänge im Stadtverkehr bedeuten gleichzeitig auch Bremsmanöver, die alle nachfolgenden Autofahrer beeinträchtigen. Werden Autofahrer durch Tempokontrollen gezwungen Tempo 50 einzuhalten, und fahren alle gleich schnell, dann verringern sich Bremsmanöver und Stockungen, auch weil dann eine Grüne Welle eingehalten werden kann. Das ist wiederum besser für die Atemluft in Städten.

Tempolimits haben sehr viele Vorteile. Sie stoßen jedoch auf eine nahezu panische und völlig irrationale Ablehnung bei vielen Autofahrenden, vor allem bei Männern. Je jünger die Männer, desto eher wollen sie auch mal rasen. Für ältere Menschen  - und die werden in unserer Gesellschaft immer mehr - wäre dagegen eine ruhigerer Fahrweise wünschenswert und besser.

Wobei wir ja heute schon in Innenstädten Tempolimits haben, gegen dir wir uns eigentlich auch gar nicht mehr wehren, beispielsweise gegen Tempo 50. Kommt jedoch die Rede auf eine Senkung des Limits auf 40 km/h oder gar 30 wird die Ablehnung meist sehr leidenschaftlich vorgetragen. So als komme es auf jeden erlaubten Stundenkilometer mehr an (fürs Glück?). Dabei kommt man in Innenstädten tagsüber kaum jemals schneller als mit 30 Kilometern pro Stunde im Durchschnitt voran. Ampeln, blockierte Kreuzungen, Staus, hohes Verkehrsaufkommen verlangsamen das Reisetempo. Mit dem Fahrrad ist man deshalb auf  einer Strecke von 5 bis 6 Kilometern in der Stadt immer schneller als ein Auto.

Besonders belastet es mich immer, wenn ich höre, dass ein Kind überfahren und getötet wurde. Dann denke ich an meine Schlüsselerkenntnis als Autofahrerin: Tempo 30 ist das Tempo, bei dem Kinderköpfe nicht kaputt gehen, wenn sie gegen einen Kühler knallen. Seitdem halte ich mit in Wohngebieten an Tempo 30, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin. Kinder sind nämlich schnell hinter Autos hervorgesprungen. Zumal bei unseren zugeparkten Straßen und Straßenecken. Und so manches Kind hätte vermutlich überlebt, wenn auch auf anderen Straßen langsamer gefahren würde. Eigentlich steht doch unsere Eile auf den Straßen nicht für das Opfer, das Familien dafür bringen, die ein Kind im Straßenverkehr verlieren.

Autos sind große schwere Geschosse, ihre Fahrerinnen und Fahrer sind der Kraft und Wucht dieser Fahrzeuge nicht immer gewachsen. Jugendliche überschätzen ihre Reaktionsfähigkeiten, wenn sie unnötige Raser-Risiken eingehen. Unsere eigene innere Hast führt dazu, dass wir beim Abbiegen einen Radfahrer übersehen und ihn töten oder schwer verletzen. Einen Schutz davor sollten sich auch Autofahrende wünschen. Wer kann denn schon gut damit leben aus Unachtsamkeit, einen Menschen getötet zu haben. Solche Schuldgefühle wünsche ich niemandem.






4 Kommentare:

  1. Moin Christine,

    hat die Stadt Stuttgart irgendeine Bekenntnis zur Sicherheit im Straßenverkehr? Ein Bekenntnis zur Vision Zero, irgendetwas, das erahnen lässt, dass der Stadt Menschenleben doch wichtiger sind als Falschparker und ungestörter MIV.

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    1. Moin, Thejs. Wer ist die Stadt? Über Verkehrsmaßnahmen entscheidet der Gemeinderat. Der Gemeinderat könnte allerlei beschließen, wenn es eine Mehrheit dafür gibt. Um solche Beschlüsse zu fassen (Tempo 30 auf allen innerörtlichen Straßen zum Beispiel) bräuchte es starke Signale aus der Stadtgesellschaft. Die können sich in Briefe äußern, in Demonstrationen gegen Gehwegparken oder Krach-Rasen nachts oder gegen oberirdische Parkplätze in der Innenstadt oder für mehr Radwege oder für Tempo 30 in allen Stadtstraßen, doch diese Aktionen gibt es derzeit noch nicht. Die Stadt ist nämlich nicht die Verwaltung oder das Ordnungsamt, die sind wir alle gemeinsam.

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    2. Die Stadt, das ist für mich in erster Linie der Gemeinderat als gewählte Vertretung der Bürgerschaft und die Stadtverwaltung.
      Mir ging es weniger um konkrete Maßnahmen, sondern um einen Punkt bspw in Form eines Beschluss des Gemeinderats an die Verwaltung, dass der Schutz des Lebens im Straßenverkehr oberste Priorität hat. Im allgemeinen wird im Verkehr von der Vision Zero gesprochen.

      Bei Entscheidungen des Gemeinderats, aber auch dem Handeln der Verwaltung vermisse ich diese Priorität regelmäßig. Es wird oft ein unnötiges Verkehrsrisiko aufrecht erhalten oder erzeugt, weil bspw Parkplätze als wichtiger gesehen werden oder man nicht gegen Falschparker vorgehen mag. Noch nicht mal, wenn das Kind bereits im Brunnen gelandet ist und Radfahrende im Krankenhaus (Marktstraße) oder im Grab (Z-Übergang) landen.

      Daher war meine Frage, ob es irgendwo ein solches Bekenntnis schon gibt oder ob es sich lohnt es zu fordern.

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  2. Hallo Thijs, ich habe nirgends so ein Bekenntnis gefunden. Was ich gefunden habe, sind diverse Hinweise darauf, dass die Hauptverantwortung auf die Radfahrer abgewälzt wird, und diese sich eben irgendwie durchwursteln müssen und bei jedem Unfall im Endeffekt selbst Schuld sind. Als Fahrradfahrer muss man schließlich mit dem Fehlverhalten aller anderen Verkehrsteilnehmer rechnen - sei es türenaufreissende Autofahrer, im Blindflug abbiegende LKW-Fahrer oder smartphoneverliebte Fussgänger, die blind auf Straße oder Radweg laufen.

    Immerhin steht auf dem Internet-Auftritt der Stadt Stuttgart unter Grundsätze zur Förderung des Radverkehrs: 3. Punkt "Gefahrenstellen werden beseitigt (...)". Dazu ein klares Bekenntnis, dass zukünftig auch manche Radwege gereinigt werden sollen: 9. Punkt "Winterdienst und Reinigung wird schrittweise, insbesondere auf den Hauptradrouten, eingeführt."

    Misstrauisch macht allerdings, dass auch in aktuellen Pamphleten die einschlägigen Verwaltungsvorschriften bzgl. Sicherheit auf Radrouten nur unter Vorbehalt angewendet werden sollen. Beispielsweise das Zitat im Verkehrsstrukturplan für den Stadtbezirk Vaihingen: "So sind an Hauptverkehrsstraßen in der Regel
    Radverkehrsanlagen mit Regelmaßen nach RASt 06 bzw. ERA und in Erschließungsstraßen
    (Tempo 30-Zonen) eine gemeinsame Führung mit dem Kfz-Verkehr vorgesehen."
    Laut ERA 2010 ist das Radverkehrsaufkommen massgeblich, welche Radverkehrsführung (und in welcher Qualität/Breite) gewählt werden muss, und nicht die willkürliche Einschränkung auf Hauptverkehrsstraßen.

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