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17. Oktober 2018

Verkehrsunfall ist das falsche Wort

"Im toten Winkel der Sprache", so titelt das Neue Deutschland einen Artikel über das Wort "Unfall", das wir verwenden, wenn jemand im Straßenverkehr von einem anderen Fahrer getötet oder verletzt wird. 

In dem Artikel heißt es: "Diese absurde Verwendung des Wortes 'Unfall' verschleiert die Todesursache: dass jedes Todesopfer im Verkehr daran stirbt, dass jemand zu schnell oder unter Alkoholeinfluss gefahren ist, während der Fahrt Mitteilungen verschickt oder auf andere Weise die Tragödie verursacht hat. Alles verschwindet im toten Winkel der Sprache, wenn das Wort 'Unfall' zur Routine wird. Diese Apathie verwundert: Flugzeuge stürzen ab, Schiffe havarieren. Nur auf unseren Straßen ist alles offenbar Gottes Wille, sind alle Gesetze der Physik aufgehoben. Die Bezeichnung 'Verkehrsunfall' signalisiert, dass nichts und niemand wirklich Schuld an einem Zusammenstoß hatte." (Neues Deutschland)

In den USA vermeiden Polizei, Behörden und Medien teilweise inzwischen das Wort "Unfall" (accident) und verwenden stattdessen Worte wie "Zusammenstoß" (crash).

Die Diskussion gibt es dem Artikel zufolge schon lange in den USA. Offenbar hat die Autolobby schon sehr früh dafür gesorgt, dass drastische Unfallschilderungen aus den Presseberichten verschwinden und statt dessen das Wort "accident" verwendet wird, vielfach mit der unterschwelligen Unterstellung, die Unfallopfer hätten irgendwie eine Mitschuld, weil sie schusselig waren oder unvorsichtig. Die Industrie erfand die Zeichentrickfigur des "Otto Nobetter" ein Tollpasch, der neben offenen Benzintanks raucht, vor Zügen her rennt oder unvorsichtig über die Straße läuft, um davon abzulenken, dass Arbeitsschutzmaßnahmen oder eben Verkehrsschutz nicht funktionierten.

Wörter beeinflussen Meinungen. Sie geben vor, welche Bilder in unseren Köpfen entstehen und was wir über ein Ereignis denken. Unsere derzeitige Sprache gibt Radfahrenden und Zufußgehenden oft eine Mitschuld.

Wenn bei uns von einem abbiegenden Autofahrer immer wieder ein "Radfahrer übersehen" wird, dann klingt das nach "sorry, hab dich übersehen, kann mal passieren, reg dich nicht so auf!". Es kling nach einem unabsichtlichen Verhalten, das zu einem Unglück führte. Es klingt, als hätte man selber eigentlich nicht so viel falsch gemacht und als sei das Opfer mit daran Schuld, dass es Opfer wurde, hätte es sich mal sichtbar gemacht oder mit eingerechnet, dass es nicht sichtbar war. Die meist von der Polizei angehängte Information, ob das Opfer einen Helm trug oder nicht, trägt noch dazu bei, uns den Verdacht nahezulegen, der Radfahrer (das Kind, der Jugendliche, die Seniorin) sei mitschuld daran, dass er jetzt verletzt oder tot ist.

Der Täter, der Autofahrer (die Autofahrerin) bleibt außen vor. Dabei war er es, der eine Reihe von Taten begangen hat, die zum Tod eines Radfahrers führten: Er hat es unterlassen zu schauen, ob rechts neben ihm ein Radfahrer geradeaus fahren will. Er hat nicht genügend abgebremst, bebor er abbog, um sich Überblick über die Situation zu verschaffen, er war nicht aufmerksam, er hat sein Fahrzeug nicht mit der gebotenen Rücksichtnahme über einen Rad- oder Gehweg gesteuert. Deshalb hat er einen Radfahrer angefahren und schwer verletzt oder getötet. Das sind ein Menge Dinge, die so ein Autofahrer getan oder unterlassen hat, damit es zu dem Zusammenstoß mit einem Radfahrer kommen konnte. Menschen, die in einem so gefährlichen Gerät wie dem Auto sitzen, müssen verantwortungsvoll und vorausschauend damit umgehen. Sie sind die Nobetters. Und das sollten wir auch sagen. Übrigens gehe ich davon aus, dass kein Autofahrer absichtlich einen Radfahrer töten will, (die meisten, die einen totgefahren haben, erleiden einen Schock, sie werden ihres Lebens nicht mehr froh), aber sie (also wir alle, die wir Auto fahren), sollten uns klar machen, dass wir es viel zu oft viel zu eilig haben und viel zu oft davon ausgehen, dass Radler oder Fußgänger uns gefälligst Platz einzuräumen haben, damit wir schnell fahren können.

In Deutschland sind in diesem Jahr bereits mehr als 20 Radfahrende bei Abbiegeunfällen, die meisten davon in Berlin, getötet und außerdem etliche schwer verletzt worden. Meistens trifft es Frauen, Jugendliche, Kinder und ältere Männer, all jene, die auf Radwegen an eine Kreuzung heran und über die Straße fahren. Also diejenigen, die auf darauf vertrauen, dass Autofahrende die Verkehrsregeln einhalten so wie sie es selbst tun, die Unaggressiven, die Braven, die Ordentlichen.

Ich werde ab jetzt versuchen, für Zusammenstöße im Straßenverkehr nicht mehr das Wort Unfall zu verwenden. Mal sehen, was das in mir und bei uns Lesenden erzeugt.

Hier noch mal der Link zum dem Artikel von Nils Astrup. Vielen Dank für diese Überlegungen.
Das Foto stammt von Sebastian.




https://www.neues-deutschland.de/artikel/1101202.wort-unfall-im-toten-winkel-der-sprache.html

15 Kommentare:

  1. übrigens: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgart-untertuerkheim-radfahrer-von-auto-erfasst-und-schwer-verletzt.06cdf87c-e557-4a7c-9eab-025357fccb02.html

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  2. Radfahrer wird übersehen, der kann dann nicht mehr bremsen und kracht in die Seite des Autos... Die Beschreibung klingt für mich, als wäre der Radfahrer der eigentlich aktive Part bei dem "Unfall".

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    1. Da steht doch "wobei er sich schwer verletzte". Nicht der abbiegende PKW oder gar der Fahrzeugführer hat ihn verletzt, nö, er hat sich selbst verletzt. Als wäre es ein Alleinunfall.

      Ich schreibe für diverse IT-Magazine und gerade im IT-Sicherheitsbereich wird sehr viel Wert auf eine präzise Sprache gelegt. Solche Formulierungen würden mir meine Redakteure um die Ohren hauen.

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    2. Hier noch einer, der "sich verletzt" hat: https://plus.google.com/+UweScholz/posts/YnVUq3V4wuF Da landet wieder der aktive Part beim Radfahrer.

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    3. und selbst wenn auf der anderen Seite agiert wird, dann ist es ja nur das Auto, das fährt, der Fahrer selbst sitzt einfach da.
      Das ist doch aber auch der Grund, warum man als Radfahrer immer der "aktivere" Verkehrsteilnehmer ist: Man bewegt sich mit Muskelkraft, spürt Fahrtwind und Wetter, hört alles, ist mitten im Geschehen usw. Wenn ich im Auto sitze, fällt mir immer wieder auf, wie viel weiter weg man vom Geschehen ist, umgeben von der Blechkiste. Auch das Geschwindigkeitsgefühl stellt sich beispielsweise ganz anders ein. Umso mehr muss der Autofahrer extra Acht geben.

      Sehr oft sind die Fahrradwege so angelegt, dass ein Übersehen sehr leicht passiert, man muss als Autofahrer oftmals sehr sehr genau hinschauen. Daher kann ich das mit dem Übersehen sehr gut nachvollziehen und unterstelle auch niemandem Bosheit. Aber es ist eben sehr gefährlich, einen Radfahrer oder Fußgänger zu übersehen. Autos dagegen sind sichtbarer, aber im Unfall-Fall geht vielleicht nur Blech kaputt.

      Liebe Autofahrer, bitte schaut euch gut um. Und zur Sicherheit noch einmal extra. Danke!

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    4. Ich kann das mit dem "Nicht-Sehen" von Radfahrern auch gut nachvollziehen, keine Frage. Allerdings muss halt der Autofahrend genau hinsehen, bevor er einen Weg kreuzt, der von Fußgänger/innen und Radfahrenden benutzt wird. Man könnte auch sagen, "der Autofahrer hat nicht geguckt, bevor er abbog", das wäre dann ebenfalls eine Formulierung, die dem Autofahrer einen aktiven Part gibt, nicht diesen passiven, dem halt was passiert, was er nicht gewollt hat.

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  3. Ich habe mal einen Polizisten, der Pressemitteilungen schreibt, auf dieses "Übersehen" angesprochen. Ich habe es an "Straßenbahn übersehen" festgemacht und habe ihn gefragt, "wie man denn eine Straßenbahn übersehen könnte, das ist so ziemlich das Größste, was auf der Straße rumfährt". Er hat es gar nicht verstanden.
    Karin

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  4. Man hatte es übersehen, sich mit größter Sorgfalt fortzubewegen. Der Radfahrer kollidierte mit dem Auto, weil er nicht auf sein Vorfahrtsrecht verzichtete. Der Radfahrer erlitt Kopfverletzungen, weil er keinen Helm trug. Radfahrer werden immer von Autos aber nie von Autofahrern übersehen und verletzt. Deutsche Sprache = Autosprache

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  5. Liebe Christine ich bitte dich hiermit mein Photo vom 22. Juli 2016 der behördlichen Aufnahme eines Radler-Auto-Vorfalls (übermittelt am 22.07.16 mit CC BY-NC-SA 2.0) gemäß der Lizenz im obigen Beitrag noch entsprechen zu kennzeichnen.
    Hat ja im damaligen Beitrag auch geklappt ;-) ==> Tödlicher Radlerunfall in Sindelfingen [25. Juli 2016]

    Ansonsten finde ich es eine gelungene Zusammenfassung des aktuellen Sprachgebrauch der Medien.
    Wobei ich denke das die Nennung "...trug keinen Helm..." in den Polizeiberichten auf eine falsche Schulung der Beamten zurückzuführen ist: wenn sich bei denen eingebrannt hat, dass es eine Helmpflicht für Radler gäbe, dann passt es auch darauf hinzuweisen wenn diese eben nicht eingehalten wurde. Analog zur geltenden Anschnallpflicht: hier wird auch darauf hingewiesen, wenn jemand nicht angeschnallt war.

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  6. Es ist leider trauriger Alltag. Erst vor 2 Tagen wollte ich auf der Radspur den Kreisverkehr befahren und der ausfahrende Autofahrer hat (wie es ca 1 mal die Woche passiert) nicht geschaut und mir die Vorfahrt genommen. Ich fahre meist aggressiv und flott bis direkt zum Fahrbahnrand, um das Gefühl zu vermitteln, dass ich von meiner vorfahrt Gebrauch machen.
    Der Autofahrer hätte meiner Ansicht nach noch bremsen können, ist aber weitergefahren und hat mir mit hochgezogenen Schultern und einem Lächeln zu erkennen gegeben, dass es nun wirklich nicht seine Absicht war. Upsiiii, sorry. Hat er nach einer Minute vergessen, die Szene, da bin ich mir sicher.
    Ich hätte ihm gerne gesagt, dass mein zweijähriges Kind und ich unverletzt und am Leben sind, weil ich in dieser Situation die Augen für ihn offen gehalten habe. Und dass ich dafür mehr erwarte, als eine lässige Entschuldigungsgeste.

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  7. Schifffahrt und Luftfahrt eignen sich nicht als Vorbilder gegen die Pauschalierung "Unfall", immerhin heißen die amtlichen Stellen BSU und BFU, also Unfalluntersuchung.
    In der Luftfahrt wird über Wahrnehmungsstörungen diskutiert. Man sagt "rechts", im Hinterkopf wird aber "links" verarbeitet, im Straßenverkehr entspricht das dem "Sehen", das aber nicht zum Wahrnehmen der möglichen Kollision führt.
    Übersehen hat halt nichts mit Übersicht zu tun.

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  8. Ein gutes Ansinnen, die Sprache als Waffe im Kampf um unsere Sicherheit einzusetzen.

    Ich nehme an, das wird uns aber nichts helfen.

    Als nächstes kommt dann eine 2nd-amendment-Bewegung und stellt ein Gleichgewicht der Kräfte mit anderen Mitteln her:
    Wenn die Kugel im Kopf droht, wird der Autofahrer denselben schon zum Schulterblick bewegen.

    Und falls Ihr Formulierungen braucht, wendet Euch and die CSU.
    Die können das.

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  9. Ich hatte heute einen Beinaheunfall, der dann wahrscheinlich auch bei der Pressemeldung als übersehen tituliert worden wäre. Es war eine Grünschaltung zur Querung einer Hauptverkehrstr. an der Stelle nur für Radfahrer (kein paralleler Fußüberweg). Ich fahr bei Grün los bin einige Meter in der Kreuzung, der gegenüberliegende Verkehr bekommt grün, ein Taxi schießt wie eine Rakete los und biegt links ab und wenige Zentimeter vor mir vorbei in die Hauptverkehrsstr. Ich behaupte dieser Verkehrsteilnehmer hat nicht einmal eine Millisekunde den Verkehr vorher beobachtet sonst könnte er bei völlig freier Sicht nicht solch eine Verkehrssituation herbeiführen.
    Bei Radfahrern und Fußgängern, die sich in den fließenden Verkehr begeben (bei überqueren oder einfädeln) steht komischerweise nie was was von übersehen sondern dann die Begriffe missachten, ohne auf den Verkehr zu achten etc..
    Jaja die "Kampfradler"...

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  10. Grandioser Beitrag. Bin neugierig, ob dir/ob uns zukünftig bessere Vokabeln einfallen als dieses umögliche Unwort "Unfall". Ich fürchte, dass unsere Alltags- und Umgangssprache nicht sehr viel bessere Wörter hergibt. Fragezeichen.

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  11. Stefan - bin Niels Astrup. Leider ist Deutsch nicht meine Muttersprache - bin Däne - aber Ich denke, das die Amis schon wat richtiges machen, wenn sie von Crash sprechen. Welche Wörter besser sind - das müssen Muttersprachler wohl lieber herausfinden.

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