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30. Juli 2021

Meine fahrradfreundliche Schulzeit

In den siebziger Jahren bin ich mit dem Fahrrad von Sonnenberg zum Fanny-Leicht-Gymnasium in Vaihingen gefahren. Dafür waren bestimmte Voraussetzungen erfüllt, die bis heute gelten. 

Der Weg war einfach, er hatte kaum Steigungen, ging ausschließlich durch Nebenstraßen und über die Felder. Erst bei der Schule kamen wir an einen Fußgängersteg und an ein Gemeindezetrum, wo wir nicht Rad fahren durften, aber natürlich durchfuhren. Zuweilen dramatisch gestellt von einer Lehrerin, die das Radfahrverbot durchsetzen wollte. Die Schule hatte in den siebziger Jahren einen trockenen Fahrradkeller, wo sicher gut 200 Räder reinpassten, und davor auch Fahrradständer. Die waren alle immer gut voll, aber man hatte immer die Chance, einen Platz zu finden. Die Räder mussten wir Kinder daheim allerdings eine schmale, steile Kellertreppe runter- und rauftragen, die auch noch einen Bogen machte. Im Rückblick finde ich es reine Glücksache, dass wir nie mit dem Fahrrad abgerutscht und runtergestürzt sind. 

Daraus ergeben sich schon Punkte, die Schüler:innen bewegen, mit dem Fahrrad zu fahren:

  • Es gibt keinen Abstellstress an der Schule. 
  • Die Zufahrtswege sind weitgehend autofrei (Felder, Nebenstraßen oder gute Radwege und Radstreifen.)  
  • Auf dem Weg gibt es keine Schiebestrecken fürs Fahrrad (auch kleine Fußgängerbrücken oder Durchgänge sind fürs Fahrrad freigegeben). 
  • Vor der Schule rangieren keine Autos von Eltern, die ihre Kinder bringen (das war damals absolut unüblich). 
  • Die Räder müssen daheim leicht zu aktivieren sein (kein umständliches Getrage). 
Wir sind lieber mit dem Fahrrad gefahren als mit der Stadtbahn, und ich vermute, dass geht den meisten Kindern und Jugendlichen so. Wobei Radfahren damals wertfrei war. Es war nicht emotional aufgeladen, weder fand es irgendwer negativ, noch wurden wir angehupt, noch fand es irgendwer löblich, dass wir Fahrrad fuhren. Jugendliche fuhren Fahrrad, weil sie damit von Stadtbahnen unabhängig waren und ihren Bewegungsraum erweitern konnten. Daraus ergibt sich noch ein Punkt: 
  • Radfahren wird wertfrei gesehen. Das Fahrrad ist ein Verkehrsmittel wie andere auch. 
Tatsächlich ist es für Kinder und Jugendliche gut, wenn sie Fahrrad fahren. Sie müssen längere Strecken planen und bewältigen, sie bewegen sich, ihre Koordination wird gestärkt, sie müssen selbständig Entscheidungen treffen und Gefahren abschätzen, sie lernen, sich in einem Umkreis von 5 bis 6 km rund um ihren Wohnort zurechtfinden. Das Unfallrisiko ist vorhanden, aber vermutlich nicht größer als wenn sie zu Fuß von der Stadtbahnhaltestelle zur Schule gehen oder in Autos herumgefahren werden. 

Fanny-Leicht-Gymnasium heute
Der Autoverkehr war in den 70er Jahren eher rabiater, vor allem schneller, wenn auch weniger Autos unterwegs waren. Das Unfallrisiko war generell damals höher. Radinfrastruktur gab es nicht. Auf Hauptstraßen radelte man lieber nicht. Dafür aber, ohne Nachzudenken, auf Gehwegen, was damals auch nicht erlaubt war. Man fuhr auf ebener freier Strecke mit einer Geschwindigkeit von 18 bis 20 km/h (mein Rad hatte drei Gänge). Heute sind Fahrräder schneller und die Straßen voller, aber die Autos fahren langsamer und es gibt mehr Radstreifen, freigegebene Gehwege und Radwege. 

Meine Eltern hatten selber Erfahrungen mit Radfahren und eigenen Freiräumen im Jugendalter. Sie hatten als junge Erwachsene kein Auto zur Verfügung, sie haben sich selber viel bewegt. Sie hatten vielleicht auch Angst um mich, aber es war selbstverständlich, dass man die Kinder zum Sport oder in die Schule radeln ließ. Das ist ein Vorteil den heutigen Jugendlichen gegenüber, deren Eltern mit 18. Führerschein und Auto hatten und damit das Zu Fuß Gehen und Radfahren sofort gänzlich aufgegeben haben. Sie haben heute Angst vor den Autos, wenn sie ihre Kinder alleine und zu Fuß oder auf dem Fahrrad ins feindliche Leben hinauslassen, und chauffieren sie dann lieber. Daraus ergibt sich ein weiterer Punkt: 
  • Die Eltern fahren selber Fahrrad, gehen gern zu Fuß und bewegen sich auch gern.
Verglichen mit früher, fahren heute sehr, sehr viel mehr Menschen in Stuttgart mit dem Fahrrad. Heute sind wir auf fast keiner Stadtstraße (wenn sie nicht gerade vier- oder sechsspurig ist) mehr lange allein mit dem Fahrrad unterwegs. Wir erwarten heute aber auch mehr Regeltreue von Radfahrenden, und die wird auch immer wichtiger, je mehr Fahrräder sich auf den teils engen Radwegen tummeln. Schulen begegnen dem aber auch schon mit Fahrradführerscheinen im Kindesalter, was es in meiner Kindheit nicht gab. Kinder und Jugendliche sind aber noch jung und nicht immer kontrolliert, sie machen Fehler oder setzen sich über Regeln hinweg. Aber lieber ist mir immer noch, die radeln, als sie merken nie, wie man sich  in einem komplexen Verkehrsraum bewegt. Daraus ergibt sich für mich noch ein Punkt: 
  • Die Verkehrsregeln sind mir bekannt und ich bemühe mich, sie einzuhalten.

Ich freue mich immer, wenn ich Jugendliche radeln sehe, auch wenn ich manchmal denke, sie müssten jetzt hier nicht im Pulk über Gehwege durch Fußgänger:innen Slalom fahren. Andererseits machen wir Erwachsene ihnen ja auch nun wirklich oft vor, dass wir uns nur dann an Verkehrsregeln halten, wenn sie uns gerade in den Kram passen. 


8 Kommentare:

  1. Jörg
    Mir wäre es sehr recht wenn wir die Anfahrt mit dem Rad bei den Grundschulen, für die wo es wollen ermöglichen. Die Zuläufe auf Schulen sollen breit genug für die Fußgänger*in und Radfahrenden sein. Heute müssen wir dazu den Autoverkehr (Elterntaxi) kanalisieren. Ringförmige Einbahnregelungen ohne Parkplätze sind dazu geeignet. Es wird Zeit das langsam mal umzusetzen.
    Breite Wege zur den Schulen oder doch lieber private Autos auf öffentlichem Grund. Die Antworten der konservativen Parteien, die zu jeder Wahl ein Plakat mit einer Oma samt Enkelkind mit der Aufschrift Bildung aushängen, meine ich zu kennen. Die Wirtschaftsfreundlichen Parteien stehen ebenso eher für den Parkplatzsozialstaat.
    Man ist das schwer den Zugang zur Bildung zu erleichtern.

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    1. Parkplatzsozialstaat :-) Vielen Dank Jörg für dieses treffende Wort. Kannte ich noch nicht.

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    2. In der Tat "Parkplatzsozialstaat" ist ein schönes Wort, das kannte ich auch noch nicht. Es ist gar nicht so leicht, den Stadtplaner:innen klar zu machen, dass man vor einer Schule keine Straße braucht, auf der Eltern mit Autos Kinder zu Schule bringen können. Die Diskussion hatten wir gerade kürzlich. Es scheint undenkbar, dass man eine Schule nicht mit dem Auto anfahren können muss. Nicht einmal die Lehrer:innen müssten es, sie könnten ihr Auto auch weiter weg parken und hinlaufen, oder gleich mit Rädern kommen.

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  2. ich glaube nicht, dass die 70er rabiater waren, erstmal hatten die Autos weniger Leistung und waren langsamer, waren schwerer zu lenken und zu bremsen, hatten keine Ünterstützungssysteme wie ABS, Brenskraftverstärker, Servolenkung, inbesondere Hecktriebler wie die VW-Käfer neigten zu ausbrüchen. Die hohen Unfall- und Todeszahlen damals sind den fehlenden Sicherheitseinrichtungen, Knautschzonen und Hilfssystemen zuzuschreiben, die Oldtimerfahrer heute fahren auch sichtbar vorsichtig.
    Was ich allerdings mal in alten Dokus aus den 1960-1970ern gesehen habe, war, dass man damals weniger Verkehrsregeln hatte und z.B. auch an Fußgängerüberwegen die Fußgänger keinen Vorrang hatten, d.h. da wurde gezeigt wie eine Frau mit Kinderwagen oder alte Gehbehinderte von PKWs auf dem Zebrastreifen bedrängt wurden, da hielt kein Auto an, was zu der Zeit völlig legal war.
    30-Zonen gab es auch noch nicht, aber mehr Platz, weil weniger PKW in den Wohngebieten parkten, insgesamt war der Schilderwald wesentlich kleiner und weniger.

    Die Erinnerungen an die "gute alte Zeit" sind immer etwas besser und anders, als wie sie wirklich waren. Blickt man noch ein bißchen zurück, wird man feststellen, dass die Promillegrenzen in den 1970ern höher waren, bis 1973 1,5 Promille, dann 0,8 Promille bis 2001, jetzt 0,5.
    In der DDR galt ab 1956 0 Promille.

    heute stelle ich in der Tat fest, dass sich insbesondere die Zahl der Elterntaxis vermehrt hat und diese auch noch rabiat und egoistisch fahren, keine Zeit mehr haben, am liebsten vor der Klassentür parken würden und dieses mit dem (selsbt verusachten) Verkehrsaufkommen begründet wird.

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    1. Na ja, ich bin ja in den Siebzigern aufgewachsen. Auch damals galt schon, dass man an Zebrastreifen anhalten musste, aber in meiner Kindheit wurde eine Mitschülerin von einer Käferfahrerin angefahren, die am Zebrastreifen ein Auto überholte, das angehalten hatte. Die Stadt zog Konsequenzen und stellt an der Kreuzung (Wallgraben, wo heute ein Kreisverkehr ist) eine Ampelanlage auf. In den Siebzigern fuhr man in der Stadt überall 50 km/h auch in Nebenstraßen wo wir heute 30er Zonen haben, auf den STadtautobahnen fuhr man 60 bis 80 km/h. In der Stadt waren Autos schneller unterwegs. Die Zahl der Unfälle war entsprechend hoch (und nicht nur die, der Autofahrenden ohne Knautschzone und ohne Sicherheitsgurte) sondern auch die der Fußgänger:innen, die nie eine Knautschzone haben. Auf der Möhringer Landstraße rasten die Autos mit 60 auf zwei Spuren entlang. Auf einer Brücke verlor einmal ein Lkw-Fahrer eine Parkbank, die auf Schulkinder stürzte (darunter mich) und fuhr davon, musste von der Polizei ermittelt werden, zum Glück gab es ein Kind, das gesehen hatte, dass es ein städtisches Fahrzeug gewesen war. Ich finde schon, dass in den Siebzigern rabiater Auto gefahren wurde, vor allem noch viel mehr mit der Mentalität: Platz da! Aber letztlich ist es müßig, das zu diskutieren, ob die Menge an Autos oder die Geschwindigkeit gefährlicher ist. Heute ist der Autoverkehr sehr kompliziert und überfordert viele. In den Siebzigern war die Polizei strenger und hielt einen auch an, weil man nicht geblinkt hatte. Heute unvorstellbar. Auch die Promille-Grenze war höher, wie du auch bemerkt hast.

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    2. Ich bin Anfang der 1970er geboren, kenne durchaus noch aus Kindersicht das eine oder andere. Und die Doku mit den Zebrastreifen, die ich oben erwähnte kam vor wenigen Monaten im 3. Programm SWR und/oder SR.
      Aus Erzählungen von Älteren weiß ich auch, dass z.B. in unserem Arbeiterwohnviertel kaum Autos am Straßenrand parkten. Viele arbeiteten noch in der Nähe und/oder fuhren mit dem Rad, gingen zu Fuß in die Arbeitstelle. Autofahren war für nicht wenige purer Luxus und Statussymbol.

      Wir haben hier auch vierspurige Einfallstraßen aus den späten 1960ern, wo damals 60km/h beschildert war, seit mindestens 20 Jahren aber nicht mehr, hier gilt dann das Ortseingangschild = 50km/h, was regelmäßig ignoriert wird, da diese Straßen einen etwas freizügigeren Charakter haben.

      Der von Dir geschilderte Unfall mit der Bank vom LKW ist auch wieder so ein Ding, Ladungsssicherung wurde damals auch noch nicht so eng gesehen und geprüft wie heute. Oder das Befestigungsmaterial war nicht so wie heute bemessen und genormt. Sowas kenn ich auch aus vielen anderen Bereichen, da mussten erst schwere Unfälle passieren um entsprechende Sicherheitsnormen einzuführen.

      Ich stimme Dir auch durchaus zu und das der Autoverkehr heute komplizierter geworden ist und viele überfordert hat auch verschiedene Ursachen, einerseits haben wir viel zu viele überflüssige Verkehrsschilder und Regeln, welche übersehen und vergessen werden, andererseits werden die Autos stärker, schneller und drittens verlieren u.a. Senioren ihre Fahrfähigkeit aufgrund von Alterserkrankungen und verursachen dann "seltsame" Unfälle (Mit Vollgas in Schaufenster oder auf Gehweg rasen und Schneise der Verwüstung ziehen z.B.).
      Was die Verkehrsregeln und Schilder betrifft, sind auch der ADFC und andere örtliche Radvereine nicht ganz unschuldig an dem Chaos, weil gerade die hier immer mehr Schilder und Verkehrsregeln für sich fordern, 30-Zonen in Fahrradstraßen umwandeln wollen und wenn dann alles Fahrradstraße ist, will begrüßt man die geplante Umwandlung in eine Fahrradzone. Geändert hat sich im Kraftverkehrsaufkommen nichts, weil alle Fahrradstraßen mit dem Zusatz KFZ-frei versehen sind. Verwirrt werden hier nur alle Verkehrsteilnehmer durch den zusätzlichen Schilderwald.

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    3. Liebe Anonyma, vielen Dank für deine Schilderungen. Mir ist im Rückblick noch etwas aufgefallen, was gar nicht unwichtig ist: Die Autos waren in den siebziger Jahren schmaler. Auf den Fahrbahnen blieb gefühlt mehr Platz für Fahrräder, man musste gar nicht so eng überholt werden. Anders als du, bin ich mir gar nicht sicher, ob man immer gleich von "überflüssigen" Verkehrszeichen oder Schildern sprechen muss. Meistens werden sie kompliziert zu verstehen, wenn Ausnahmen darunter geschrieben werden. Wir lassen bei Park- und Halteverboten, bei Einfahrt-verboten-Regelungen etc zu viele Ausnahmen zu, die lange Texte erfordern. Das Fahrradstraßenschild ist sicher keines, das überflüssig ist. In Fahrradstraßen ändert sich auch der Autoverkehr, er wird langsamer und weniger drängelig für Radfahrende, wenn er zugelassen ist. Ich glaube, der Punkt ist eher der, dass Vekehrszeichen als unnötig empfunden werden, zum Beispiel Stopp-Schilder, da fahren 70 Prozent durch, wenn sie meinen, dass frei ist. Wir haben ins insgesamt angewöhnt ,Verkehrzeichen als Empfehlung, nicht als Gebot oder Verbot zu nehmen und zu meinen, unsere Urteilskraft sei ausreichend. Und dann biegt eben wieder eine nach links über die Stadtbahnschienen ab, obwohl es verboten ist, und kracht in eine Stadtbahn, die er oder sie nicht gesehen hat.

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  3. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum die Schule dagegen war, dass Kinder mit dem Fahrrad kommen. Schließlich ist Radfahren gut für die Gesundheit und viel besser. Außerdem ist es viel schneller als zu Fuß. Wenn Sie befürchten, dass das Kind dadurch mehr die Schule schwänzt, können Sie sich dank der modernen Möglichkeiten von handynummer orten keine Sorgen machen. Tatsächlich ist es viel einfacher herauszufinden, dass ein Kind in der modernen Welt lügt.

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