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19. Februar 2023

Zum Wiederlesen: Radler:innen löst euch in Luft auf!

Wenn Radfahrer:innen auf Fahrbahnen fahren, empfinden eingefleischte Autofahrende das als Demonstration. Wenn sie auf Gehwegen fahren, schimpfen Fußgänger:innen darüber, dass Radler überall fahren und keine Rücksicht nehmen.

Viele sind aber auch gegen Radstreifen auf Fahrbahnen. Und man will es zugleich den Fußverkehr in der Stadt stärken und Fußgänger:innen mehr Platz geben. Und schwupp, sind wir Radfahrende schon wieder außen vor. Man will uns nicht haben, weder auf Fahrbahnen, noch auf Gehwegen.

Radfahrende sind die Lästigen, die Bösen, die Ideologinnen, die Kampfradler, die Vogelfreien, die Gehassten, die Gejagten, die Verscheuchten, die Unerwünschten. Löst euch gefälligst in Luft auf! Existiert nicht!
Danke. Und nun? Wir Radfahrende wollen niemanden stören, nur vorankommen. Wir schlängeln uns ungern durch Fußgänger:innen. Wir bremsen ungern Autos aus. Wir fahren Rad, weil wir damit in der Stadt am schnellsten und bequemsten vorankommen. Schaden tun wir damit auch niemandem. Im Gegenteil: Wir entlasten den Autoverkehr vom Stau, wir helfen, die Luft besser zu machen, wir drängeln uns nicht in übervolle Stadtbahnen zur Hauptverkehrszeit. Wir bewegen uns auf gesündere Art und entlasten unser aller Krankenkassen, wir bringen Geld in den Lokalen Handel. Wir verdienen ordentlich Geld und zahlen Steuern.

Warum hasst man uns dennoch? Weil wir das dritte Element im Stadtverkehr sind, zwischen Menschen, die im Autofahrermodus und denen, die im Fußgängermodus unterwegs sind. Und auch noch schwer zu fassen. Wir sind so verschiedenartig.

Am leichtesten ist Verkehrspolitik fürs Auto (wenn auch am teuersten). Autos sind eine total homogene Masse. Sie sind alle gleich, sie sind genormt. Und es spielt keine Rolle, ob ein Alter, ein Junger, eine Frau, ein Mann, ein Gehbehinderter oder eine Mutter mit zwei Kindern darin sitzt. Autos fahren alle gleich schnell (und nur so schnell, wie sie sollen), auf für sie in jahrzehntelanger Arbeit ausgeklügelten Bahnen, die ihnen das Fortkommen so leicht wie möglich machen. Für sie gibt es eine enorme stadtweite Infrastruktur zum Abstellen der Fahrzeuge, nämlich Straßenränder und Parkhäuser. Deshalb ist Autoinfrastruktur leicht zu planen und umzusetzen.

Fußgänger:innen sind da schon weniger homogen. Das merken wir nur nicht, denn einen Teil haben wir bereits aus der Stadt vertrieben (oder lassen wir nicht mehr rein), nämlich die Alten und Gehbehinderten. Wir sehen hauptsächlich die, die zügig auf ihren zwei Beinen laufen. Die Seniorinnen an Rollatoren, die Menschen mit Krücken, die Rollstuhlfahrenden, die sehen wir in unserer Innenstadt so gut wie gar nicht. Sie sitzen zu Hause. Die schaffen es nicht mehr bis in die Stadt, weil die Hindernisse zu vielfältig sind. Sie kommen in Bahnen und Busse nicht hinein, und wenn, haben sie Angst, dass sie losfahren, bevor sie sicher sitzen. An Treppen müssten sie andere um Hilfe bitten. Auch ist so mancher Bordstein für sie unüberwindlich hoch. Ist er an einer Straßenecke mal niedrig, dann parkt garantiert ein Auto dort. Und dann die Radler auf den Gehwegen! Wir sehen übrigens auch nur wenige Eltern mit Kinderwagen, denn auch für sie sind Treppen Hindernisse, die sie zu teils enormen Umwegen zwingen. Die fahren ihre Kinder dann im Auto herum. Die Alten fahren auch Auto oder verlassen ihr Viertel nicht mehr. Fußgänger:innen haben keine Lobby, die Alten noch weniger. 
Dennoch bemüht sich auch Stuttgart, die Wege für Fußgänger zu verbessern. Dafür gibt es ebenfalls vergleichsweise einfache Regeln: Keine hohen Bordsteine, Rampen statt Treppen, Aufzüge, Gehwege vor ausparkenden Autos schützen, kein Kopfsteinpflaster, genügend Fußgängerüberwege über Stadtautobahnen. Autoverkehr verlangsamen, Radverkehr von Gehwegen verbannen!

Radfahrende sind dagegen eine höchst inhomogene Masse. Es gibt schnelle Radler:innen, langsame, sichere und unsichere, welche auf Liegerädern, welche mit Lastenrädern oder Kinderanhängern, die breiter sind, einzelne auf E-Dreiräder. Es gibt E-Räder, Trekkingräder und Rennräder, die jeweils in anderem Modus gefahren werden. Es gibt Kinder auf Rädern oder Gruppenformationen. Manche radeln lieber auf der Fahrbahn, weil sie schnell von A nach B wollen, manche fühlen sich da so unsicher, dass sie auf Gehwege flüchten und sich nach von jeglichem Autoverkehr isolierten Radwegen sehnen, manche radeln nur im Freizeitmodus und wollen es grün haben und durch den Wald fahren.
Manche pendeln 50 km am Tag zur Arbeit, manche radeln einen Kilometer zum Einkaufen durchs Wohnviertel. Die einen schieben ihr Rad auch mal gern durch eine Fußgängerzone, die anderen wollen auch an roten Ampeln nicht bremsen müssen, sondern rollen. Die Fortbewegungsziele und -interessen sind vielfältig und sehr unterschiedlich. Nichts ist genormt. Die Geschwindigkeiten sind höchst unterschiedlich. Die physischen Fähigkeiten und die Persönlichkeiten auch.

Die Politik für den Radverkehr ist also kompliziert. Legen wir die Radinfrastruktur auf die Fahrbahn, beschweren sich die Autofahrenden, weil ihnen Platz weggenommen wird, legen wir sie auf Gehwege, beschweren sich die Fußgänger:innen, weil sie weniger Platz bekommen. Lassen wir Radfahrende im Mischverkehr mit Autos fahren, ärgern sich Autofahrende, weil sie hinter ihnen langsam fahren müssen, mischen wir die Radfahrenden unter Fußgänger:innen, beschweren die sich, weil ihnen die Fahrräder zu schnell vorkommen. Radfahrende werden auch und gerade in Stuttgart zwischen Fahrbahnen und Gehwegen hin und her geschoben. An jeder Ecke ist der Weg, den man ihnen anbietet, anders organisiert, mal wie für Fußgänger, mal wie für Autos, mal wie nur für Radfahrende. Menschen auf Fahrrädern sollen sich offensichtlich als Störenfriede erleben, auf Fahrbahnen werden sie angehupt, auf Gehwegen als Rowdies beschimpft.

Zur Begründung ihres Hasses auf Radfahrende geben Autofahrer:innen und Fußgänger:innen dann stets Geschichten zum besten, bei denen Radfahrer:innen Regeln verletzt haben. (Als ob Autofahrer und Fußgänger nie Regeln verletzen würden.) Wobei Autofahrende verkennen, dass sie eine tonnenschwere Masse bewegen, die Menschen tötet. Radfahrende töten nicht, wenn sie Fehler machen, sie können aber andere verletzen, wobei sie sich in der Regel selbst auch verletzen, weil sie stürzen. Die harmloseste Verkehrsart sind Fußgänger: ungeschützt, aber auch langsam. Wenn durch ihren Fehler im Straßenverkehr jemand umkommt oder verletzt wird, dann weil ein Autofahrer oder Radler zu schnell war und nicht vorausschauend gefahren ist und beim Ausweichen irgendwo gegen kracht.

Aber der Kessel ist voll. Voller Autos. Derzeit sind Radfahrende trotz einer mangelhaften Radinfrastruktur unterwegs und suchen sich praktikable Wege. Aber Radfahren darf kein individuelles Abenteuer im Autokessel sein. Man muss es nachdrücklich fördern. Wenn die, die heute schon Rad fahren, sich morgen alle ins Autos setzen, dann bewegt sich nichts mehr auf unseren Stuttgarter Straßen. Und dass kann doch gerade die Autolobby nicht wollen. Stehende Autos machen sich selber überflüssig. Also lasst uns mal ohne Aufgeregtheiten eine Radimnfrastruktur planen und herstellen, mit der sich Radfahrende, so unterschiedlich sie auch sind, wohl fühlen. Das hilft allen.

Erstmals erschienen 2016: https://dasfahrradblog.blogspot.com/2016/05/radfahrer-lost-euch-in-luft-auf.html

4 Kommentare:

  1. Zum Thema Regeln verletzen: Wir brauchen zweifellos Regeln für das Miteinander, aber die Konsequenzen einer Regelverletzung sind unterschiedlich -- und daher besteht eine besondere Herausforderung für diejenigen, die die Regeln vorgeben (d.h. hier die Stadtplaner): die Konsequenz einer Regelverletzung für den KFZler ist maximal ein Kratzer an seinem Heiligs Blechle, die Konsequenz einer Regelverletzung für den Radler ist eine Querschnittslähmung für die nächsten Jahrzehnte! Wenn wie vorgestern ein Radler beim (regelwidrigen) Ausparken schwer verletzt ins Krankenhaus kommt, tut das dem KFZler nicht weh. Eine nicht fahrbare Radinfrastruktur, auf der ich gegen etwas dotze, was die Planer dort einfach abgestellt haben oder weswegen ich auf die Straße ausweichen MUSS und dort dann von den KFZlern gefährdet/angefahren werde, ist eben keine Regelverletzung des Radlers sondern wird provoziert durch die Planer! Das Fahrrad soll ein alternatives Verkehrsmittel sein -- der Verweis der Planer, dann halt abzusteigen und zu schieben oder in "Schrittgeschwindigkeit" zu fahren, konterkariert komplett das Rad als mögliche Alternative (denn dann könnten wir ja gleich laufen).

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  2. Auch nach 7 Jahren der gleiche Tenor? Wir brauchen Radinfrastruktur zusätzlich zu den Autos?

    Die Realität: Anzahl der Autos gestiegen, Größe der Autos gestiegen, Spritverbrauch gestiegen. Neue Radinfrastruktur ändert daran offensichtlich gar nichts.

    Was wir offensichtlich brauchen, sind *andere* Autos: Klein, leicht, in der Mehrzahl einsitzig. Warum sagt das eigentlich niemand öffentlich?

    Stefan, Fürstenfeldbruck, Bayern

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  3. Jörg
    "Radfahrende sind dagegen eine höchst inhomogene Masse" der Aspekt wird deutlich über strapaziert. Wer im Urlaub auf Radwegen in Mengen von Fahrradenden gerät und sei es nur am Bodenseeradweg, wird merken, dass sich die Geschwindigkeit auf einem mäßigen Tempo einfindet. So kann man erst mal planen.
    Entscheidend ist es immer wieder Abschnitte vor zu sehen, wo gefahrlos überholt werden kann. Autofahrende kennen das von stärker belasteten Bundesstraßen, wo es immer wieder eine Überhohlspur gibt.
    Der aktuelle Stuttgarter Planungsgrundsatz, der Radweg /-streifen bleibt auf dem Mindestmaß. Wenn Platz da ist wird die Fahrbahn daneben ist übemäßig breit, ist wenig hilfreich. Radfahrende seien seien mit wechselnden Breiten überfordert, hieß es mal dazu. Womit man uns sonst überfordert wird will niemand hören.

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  4. Nach 7 Jahren immer noch aktuell. Wenig verbessert, immer noch nicht in den Köpfen angekommen und auch immer noch nichts gelernt.
    Heute früh wieder in Mannheim: linksseitiger Radweg, Baustelle, mutiert zum Gehweg mit "Radfahrer absteigen". Kein Hinweis zu Beginn der Straße, da könnte man ja noch anders fahren. Wie oft schon erinnert? Wie dem Ochs ins Horn gepetzt.
    Karin

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