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15. Oktober 2024

Wer erwischt wen? - Zynismus der Pressesprache

Symbolbild
Pro Velo hat einen Artikel veröffentlicht, der sich mit der Frage beschäftigt, ob eine Gesetzeslücke mitverantwortlich ist dafür, dass ein Lkw-Fahrer beim Abbiegen eine Radfahrerin getötet hat. 

Der Schweizer Bundesrat soll damit zu einer Gesetzgebung animiert werden. Die Art und Weise, wie das geschieht, ist jedoch - vorsichtig gesagt - ungeschickt, deutlich gesagt: zynisch. In Wien, wo die in Zürich getötete Radfahrerin herkam, seien Radfahrende "besser vor rechtsabbiegenden Lkws geschützt", so die Behauptung. Denn Fahrer:innen von Fahrzeugen ab 3,5 Tonnen dürften dort nur in Schrittgeschwindigkeit abbiegen. In Deutschland übrigens auch. Aber Gesetz bedeutet ja nicht gleich Gesetzestreue und richtiges Verhalten. Ich frage mich: Halten sich eigentlich die österreichischen und deutschen Lkw-Fahrenden an die Regel? Wird das überprüft? Und stimmt die Aussage überhaupt. Auch in Österreich gab es im Jahr 2023 mehrere Fälle von Verkehrsgewalt, bei denen Lkw-Fahrende beim Abbiegen Radfahrende getötet haben, 2024 verletzte in Wien einer einen Radfahrer beim Abbiegen schwer. 

So wichtig wie das Thema für alle Radfahrenden ist, und so richtig das Anliegen, den Schweizer Bundesrat zu einer Gesetzgebung zu animieren, so ungeschickt bis unglücklich sind die Formulierungen im Text.

Nicht nur ist die Radlerin irgendwie unter den Lastwagen "geraten". Noch schlimmer ist für mich die Formulierung: "Schon wieder ein tödlicher Velounfall in Zürich. Schon wieder hat es eine junge Frau erwischt. Und schon wieder war das involvierte Fahrzeug ein rechtsabbiegender Betonmischer." (Einen Fahrer hatte der Betonmischer offenbar nicht.) "Erwischt" klingt gruselig flapsig. "Erwischen" tut man Menschen bei illegalem Tun. Die Radfahrerin war aber rechtskonform unterwegs. Außerdem ist sie tot. Halb scherzhaft "erwischt einen auch eine Erkältung", was dieses Wort insgesamt sehr harmlos, beinahe scherzhaft klingen lässt. Zudem ist nicht der Betonmischer alleine einfach mal rechts abgebogen, sondern dessen Fahrer. Die Gleichsetzung von Fahrer und Fahrzeug lässt die handelnde Person verschwinden. Und letztlich ist die Behauptung "Wäre die junge Frau nicht nach Zürich gekommen, wäre sie wahrscheinlich noch am Leben", geradezu gruselig richtig, denn wäre sie nicht dort gewesen, wo sie war, wäre sie nicht unter den Rädern dieses Betonmischers gestorben, was auch für jede andere Stelle in Zürich gilt. 

Ein Kind jedenfalls hätten die Autor:innen des Zeitungsartikels sicher nicht von "einem Auto erwischen" lassen, wenn es danach tot ist. Ein Bundesratsmitglied (Regierungsmitglied), das zu Fuß ging oder Rad fuhr, sicher auch nicht. 



12 Kommentare:

  1. Mich stören diese Formulierungen auch. Wie würde man sich selbst fühlen, wenn so über einen Angehörigen geschrieben würde? Stellen sich die Schreibenden das nicht?
    Vor Jahren gab es einen tödlichen Unfall mit einem kleinen Jungen. Die Berichterstattung unterirdisch. Die Mutter hat einen Leserbrief an die Zeitung geschrieben, der mit den Worten begann "ich bin die Mutter von Paul,.." das war der Junde, der überfahren wurde.
    Sie hat beschrieben, wie sie sich mit dieser Berichterstattung gefühlt hat und dass man im Text versucht hat einem kleinen Jungen Mitschuld am Unfall zu geben. Geholfen hat es in den Formulierungen der Berichterstattung leider nichts. Ich fand den Brief bewegend.
    Ich habe mal einen Ö von der Polizei gefragt, wie man im Verkehr jemanden "übersehen" kann, vorzugsweise eine Strassenbahn. Er hat die Frage nicht verstanden. Ich glaube, es gibt bei den Schreibenden kein Bewusstsein für die Macht der Formulierung. Hier muss dringend mehr Bewusstsein geschaffen werden.
    Karin

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    1. Es gibt Zeitungen, die daran arbeiten, beispielsweise die Stuttgarter Zeitung. Es gelingt nicht immer, auch weil solche Artikel schnell geschrieben werden und man womöglich die Situation aufgrund der Pressemeldung der Polizei nicht versteht. Grundsätzlich aber gibt es eben die Tendenz, die Autofahrenden zu entschuldigen, wozu das "übersehen" gehört, weil fast alle Auto fahren und sich gut in die Autofahrenden einfühlen können. Mit dem Auto ist schnell was Schlimmes angerichtet und davor fürchten sich alle, da möchten sie sich schon mal schuldlos stellen. Auch Menschen, die mit Sprache arbeiten, wie Journalist:innen haben leider nicht immer ein gutes Sprachgefühl. Deshalb müsste man den Umgang mit Meldungen zur Verkehrsgewalt eigentlich in den Redaktionen trainieren.

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    2. Liebe Christine, dass die StZ daran arbeitet ist mir noch nie aufgefallen, gerade in der StZ ist die Wortwahl fürchterlich, also pro Autofahrer und contra Radfahrer, leider auch beim SWR. Bin immer wieder überrascht, wie viele Autos, LKWs usw. ohne Fahrerin unterwegs sind. Und diese werden auch immer in Schutz genommen. Z.B. die Formulierung "zur Ehrenrettung..." von 3 durch eigene Dummheit verunglückten Autofahrern: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kuriose-unfaelle-in-stuttgart-ost-autofahrer-auf-abwegen-bereits-drei-mal-ging-s-die-treppe-runter.f3c2c2f4-cf34-4587-9252-054c05db76a9.html.

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  2. marmotte 27
    Es heißt ja, man solle keinen bösen Willen unterstellen, wenn Dummheit oder Inkompetenz als Erklärung ausreichen. Was das Verkehrssystem angeht ist dies beim einfachen Bürger sicher oft der Fall, aber wie bei allen systemischen Problemen reicht dies nicht mehr aus, sobald es sich um eine mehr oder weniger verantwortlichen Position handelt, aus der heraus man untersucht, berichtet, entscheidet. Poilizisten, Journalisten, Politikern etc., die in dieser Weise an einen Unfall herangehen, bzw. über ihn berichten, bzw. später auf derlei Fällen beruhend politische Entscheidungen treffen können sich nicht am Ende auf Unwissen herausreden.
    Es gibt einschlägige Untersuchungen zu den Auswirkungen von Polizeiberichten und daruf fußenden Medienberichten auf Fahradfahrer bzw. den Umgang mit ihnen. Es gibt Hinweise darauf, dass das Bild von Radfahrern in manchen Medien bewusst negativ dargestellt wird, weil es etwa den Geschäftsinteressen eines superreichen Eigners dient, und dies wiederum von anderen Medien so übernommen wird, weil es Klickzahlen und damit Werbeeinnahmen generiert.Die rechten Kulturkriege werden immer auf dem Rücken der Schwächeren und Schwachen inszeniert.
    Politische Entscheidungen werden ebenfalls dahingehend beeinflusst, dass sie den Status Quo, sei es im Verkehr oder sonstwo nicht verändern, und die dafür verantwortlichen Politker wissen, was sie tun.
    Diese systemische Natur von solchen auf den ersten Blick vielleicht nur ungeschickt erscheinenden Formulierungen darf man nicht ignorieren. Und sie muss sich ändern!

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  3. Gerade aktuell auf road.cc,
    Die Richtlinien in den englischen Medien (sofern die sich dran halten...):

    In 2021, guidelines for reporting road traffic collisions, aimed at the UK media, were officially launched. The full guidelines can be found here(link is external), and below is a summary of the 10 key points:

    1. At all times be accurate, say what you know and, importantly, what you don't know.
    2. Avoid use of the word 'accident' until the facts of a collision are known.
    3. If you're talking about a driver, say a driver, not their vehicle.
    4. Consider the impact on friends and relatives of publishing collision details.
    5. Treat publication of photos with caution, including user generated footage or imagery.
    6. Be mindful if reporting on traffic delays not to overshadow the greater harm, of loss of life or serious injury, which could trivialise road death.
    7. Journalists should consider whether language used negatively generalises a person or their behaviour as part of a 'group'.
    8. Coverage of perceived risks on the roads should be based in fact and in context.
    9. Avoid portraying law-breaking or Highway Code contravention as acceptable, or perpetrators as victims.
    10. Road safety professionals can help provide context, expertise, and advice on broader issues around road safety.

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    1. All das sollte selbstverständlich sein, ist aber nach meiner Erfahrung bei uns die Ausnahme.
      Thomas

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    2. Dein Luftkissenfahrzeug ist voller Aale.
      Grüße Elmar

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  4. Just heute erschienen:
    Rechtfertigung beim Bertelsmannkonzernmedium von tödlicher automobiler Gewalt mit klassischer Täter-Opfer Umkehr.
    Radfahrer absichtlich von SUV Fahrer überrollt. Radfahrer tot.

    Bertelsmannkonzern kontextualisiert:
    "Die starke Zunahme des Radverkehrs in Paris führt regelmäßig zu chaotischen und gefährlichen Situationen. Verantwortlich sind auch die Radfahrenden selber, die Regeln missachten und mit riskanten Fahrmanövern versuchen, schneller vorwärtszukommen."

    Quelle:
    https://www.n-tv.de/panorama/SUV-Fahrer-faehrt-Radfahrer-nach-Streit-tot-article25295669.html
    Alfons Krüclmann

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    1. Tja, da haben die privaten wie die öffentlich-rechtlichen, wie so oft, einfach die Agenturmeldung 'qualitätsjournalistisch' kopiert.
      Fragt sich allenfalls ob die ARD die Ergänzung "neben rücksichtslosen Autofahrern" hinzugefügt hat, oder die 'Bertelsmänner' diese gestrichen haben.
      Alfons Krückmann

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  5. #keinerechtekeinepflichten

    karl g. fahr

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  6. Die Bildzeitung: https://www.bild.de/news/ausland/paris-suv-rambo-faehrt-radfahrer-27-nach-streit-tot-670fc9cac383db1a97cd250e

    Bitter. Findet Hajö

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