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4. November 2024

Wir rechtfertigen uns immer vor dem Autofahrer hinter uns

Ich vermute, wir alle haben es schon erlebt: Wir wollen mit dem Rad links abbiegen, müssen aber den Gegenverkehr abwarten und stehen. Schließlich hält ein Autofahrer an und winkt uns nett rüber. 

Wäre aber gar nicht nötig gewesen, denn hinter ihm kommt kein weiteres Auto und wir hätten in Ruhe links abbiegen können. Und genau das ist der Grund, warum der Mensch im Auto anhält, obgleich er oder sie nicht muss: Hinter ihm kommt kein Auto. Er oder sie hält niemanden auf, der sich ärgern könnte. Also kann er uns was Gutes tun.

Die meisten, die Auto fahren, gucken in den Rückspiegel und treten in einen permanenten Dialog mit Menschen hinter sich ein. Er/sie soll nicht denken, dass ich zu langsam bin, nicht auf Zack, also ein schlechter Autofahrer oder eine ängstliche Autofahrerin. Fährt der hinter mir auf der Landstraße dicht auf, denke ich, dass er denkt, ich schleiche, und mich verachtet. Aber hier gilt nun mal 70 km/h, rechtfertige ich mich. Oder ich hänge hinter einem Radler fest, den ich nicht überholen kann, und hinter mir sammeln sich die Autos. Die Fahrenden ärgern sich jetzt sicherlich, halten mich für doof, dass ich nicht überhole. Und dann fange ich an, mich zu rechtfertigen: Schließlich gilt ein Überholabstand. Ich kenne die Regeln, ihr hinter mir nicht. Dieser Dialog kann aber nicht ausgetragen werden, das einzige Kommunikationsmittel, das ich in einem Auto habe, ist die Bremsleuchte und das Gaspedal (und der Blinker). Wenn der hinter mich mich nicht versehen will, kann ich nichts erklären. 

Wir kennen den Dialog mit dem Menschen im Auto hinter uns aber auch als Radfahrende.

Ich bin bergauf schnell mit meinem Pedelec, aber folgt mir ein Auto, trete ich noch heftiger in die Pedale. Ich will nicht schwach oder provozierend langsam erscheinen. (Manche flüchten schließlich auf Gehwege, machen Platz, beenden den Dialog, siehe Foto oben). Wenn ich das auf dem Rad nicht tue, sondern auf der Fahrbahn bliebe, schön mittig, damit er mich nicht knapp überholen kann, dann rechtfertige ich mich vor dem unsichtbaren Menschen im Auto: Ich darf hier radeln, ich habe das Recht, die Fahrbahn ist auch für mich da, du bist eh nicht schneller als ich, denn da vorn musst du anhalten, weil ein Auto entgegenkommt und die Straße zu schmal ist und drängle mal nicht so! 

Allerdings kann ich als Radfahrerin besser kommunizieren. Eine radfahrende Kollegin hat mir einen Trick genannt. Wenn ein Autofahrer hinter ihr zu dicht auffährt, dreht sie sich auf dem Fahrrad um, guckt ihn an und zeigt ihm ihr Gesicht. Sie wird zum Menschen. Ich habe es ausprobiert, die meisten Autofahrenden treten dann tatsächlich auf die Bremse und halten etwas mehr Abstand, lassen zumindest den Motor nicht mehr so aufjaulen, um mir ihre Ungeduld zu zeigen. 

Ich vermute, wir wissen alle, was wir selber über andere Verkehrsteilnehmer:innen denken, die langsam sind oder komische Manöver fahren. Freundlich ist das selten. In Gedanken können wir ja schimpfen auf "Idioten" oder "Traumschafe", aussprechen würden wir es nicht, aber auf dem Rad oder im Auto sind wir mit uns alleine. Da gehen die Emotionen allein deshalb höher, weil wir sie nicht aussprechen und deshalb auch keine Reaktion vom anderen bekommen können. Wir toben und schimpfen ins Leere. Die Annahme, dass die, die hinter uns fahren (auch Radfahrende), negativ über mich denken, wenn sie sich durch mich im Vorankommen gestört fühlen, ist also nicht abwegig. 

Anderseits ist es schon merkwürdig, dass wir so gern als gute Fahrer:innen dastehen wollen. Und dazu gehört, schnell sein (warum eigentlich?), sofort kapieren, nie unnötig bremsen, immer richtig reagieren, alles richtig einschätzen - und alle anderen für minderbemittelt halten. Schuld haben sowieso immer die anderen. Sinnvoll ist das nicht. Und wir würden uns viele erregte Dialoge mit dem Radler oder der Autofahrerin hinter uns sparen, wenn wir nicht mehr den anderen als uns selbst stets beweisen wollen würden, dass wir gute Radfahrende oder gute Autofahrende sind. 

8 Kommentare:

  1. Liebe Christine,
    mein Erleben des Verkehrs unsterscheidet sich von deinem, angefangen vom ersten Beispiel. Aber das macht nichts.
    Thomas

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  2. Torsten K. aus DA4. November 2024 um 06:53

    Ich stimme Deinem Artikel zu 100% zu. Das mit dem Gesicht zeigen muss ich mal ausprobieren.

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  3. Das mit dem "Finger auf die Autofahrenden zu zeigen" kann ich bestätigen. Das mache ich, wenn ich sicherstellen will, dass meine Vorfahrt gewährt wird. Dann schaue ich in die Augen und zeige auf den Menschen, bis er den Blickkontakt erwiedert hat.
    Gut funktioniert auch, danach die Hand so zu heben, als ob man "Stopp" sagen will. Dann bremsen alle ab, ist offenbar als Reflex in den Köpfen drin.
    Aufprobieren!

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  4. Antworten
    1. Wovon reden Sie, bitte? Der Blogartikel kann es ja nicht sein.

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  5. Jörg
    In Deutschland guckt man viel in den Rückspiegel. In Italien guckt man mehr nach vorne, das Anhalten für Linksabbieger erlebt man in Italien häufig. Natürlich auch die Person die einfach von der Seite reinfährt, sie hatte ja gehupt. Es ist etwas leichter italienisch zu fahren wenn man sich dran gewöhnt hat. Der Rückspiegel kann bis zur deutschen Grenze abhängt werden

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  6. Gerne wird das Durchlassen auch schon aus einigem Abstand mit Lichthupe kommuniziert, in der totalen Ignoranz, wie gefährlich das ist (man kann nicht mit Sicherheit sagen, dass ein aufblinken Kommunikation oder Zufall durch eine Bodenwelle ist, gleichzeitig fühlt man sich genötigt, doch die freundliche Geste anzunehmen).

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    1. Ich nehme solche Gesten nur äußerst vorsichtig an. Ich mag es, wenn die Leute sich an die Verkehrsregeln halten. Typische Situation: Auto kommt von rechts, ich bremse und halte. Autofahrer hält auch und winkt mich vorbei. Aber ich stehe ja nun schon, also winke ich dem Autofahrer, dass er fährt, weil ich ja nun schon stehe. Wird selten verstanden.

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