Auf Youtube ist ein Filmschatz zu sehen, der zeigt, wie die Stadt Münster selbst Anfang der neunziger Jahre ihre Situation beim Radverkehr sah. Es ist schon viel geschehen, die Stadtplanung berücksichtigt den Radverkehr, und es ist noch viel geplant. Das Filmdokument aus dem Jahr 1991 dauert etwa 20 Minuten und ist entzückend anzusehen. Die Zunahme des Radverkehrs hat die Stadt Münster damals selber überrascht, nachdem man begonnen hatte, über sinnvolle Radverkehrsanlagen nachzudenken und sie auch umzusetzen. Wenn wir heute auf die teils schmalen Gehwegradwege entlang links geparkter Autos schauen oder auf die schmalen Fahrradweichen zwischen zwei Autofahrspuren, finden wir das nicht so toll. Aber Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre war das innovativ und nahezu luxuriös für Radfahrende. So erzählt der Film, dass man sich über die Gefahr von rechtsabbiegenden Autofahrenden für geradeausfahrende Radler:innen Gedanken gemacht und darum links von der Rechtsabbiegespur die Fahrradweiche für Geradeaus eingerichtet hat.
Und es findet sich gleich zu Anfang die entlarvende Aussage in der Tradition unserer deutschen Verkehrspolitik: Damit der Autoverkehr nicht behindert wird, hat man Fahrradwege abseits der Fahrbahnen angelegt. Zugleich aber hat man auch die Innenstadt und einen Innenstadtring für den Radverkehr ertüchtigt. Und man hat begonnen, für Einpendler:innen Park&Ride-Plätze anzulegen, wo auch Fahrräder abgestellt werden können, um damit weiter in die Innenstadt zu radeln. Die gibt es heute tatsächlich.
Der Film offenbart ein durchaus verständnisvolles Auge für Radfahrende.
So ist das Bemühen zu erkennen, gefährliche Radwege entlang geparkter Autos zu entschärfen. Das Doppelbild zeigt links die Situation vorher, rechts nach der Neugestaltung.
Es fällt auf, dass der Film das Verhalten von Radfahrenden in keiner Weise skandalisiert oder auch nur problematisiert wird. So wird beispielsweise gezeigt, wie Radfahrende an einer Kreuzung schon bei Gelb für den Autoverkehr oder sogar bereits bei Rot starten (Foto oben), um schon mal weg zu sein, bevor der Autoverkehr startet. Denn beim Start schlingern Radfahrende und würden durch neben ihnen startende Autos gefährdet. Radfahrende, so hören wir, orientieren sich bei diesen Frühstarts an anderen Ampelsignalen (Fußgängerampeln), wenn sie sich mit der Abfolge der Grünphasen auskennen. Und wenn ihre Ampel auf Rot springt, ohne dass die fünf wartenden Radler:innen durchkommen, fahren sie bei Rot. Denn Radfahrende erwarten, so heißt es, dass sie bei der ersten Grünphase rüberkommen. Kurze Grünphasen bei langen Rotphasen würden nicht akzeptiert. Folglich müsse man Ampelschaltungen anbieten, die von vielen Radfahrenden bei Grün hintereinander passiert werden können.
Im Film sieht man allerdings auch, dass der Fußverkehr ziemlich gelassen bleiben muss, etwa, wenn Radwege über die Gehwegecken von Kreuzungen geführt werden und der Fußgänger gucken und stoppen muss (Filmbild rechts). Ohnehin sind Fußgänger:innen stärker gefordert, wenn Radwege auf Gehweghöhe angelegt werden. Das ist die Folge einer Verkehrspolitik, die den Radverkehr von der Fahrbahn entfernt und auf Gehwegniveau lenkt.

Zugleich sehen wir einer größeren Gelassenheit bei Radfahrenden zu. Einer hält auf dem Radweg (elend schmal) an, weil ein Bus kommt und die Einsteigenden über den Radweg queren. Um diesen Konflikt zu vermeiden, hat Münster den Gehweg an der Bushaltestelle verbreitert, damit die Passagiere nicht auf dem Radweg stehen. Es gab also viel Verständnis für Radfahrende und das beinahe liebevolle Bemühen, das Radfahren bequemer zu machen und den Radverkehr flüssig zu halten und dabei auch hin und wieder vom Fußverkehr zu trennen. Und dass der Untergrund der Radwege eben und glatt sein muss, jedoch zugleich nicht rutschig sein darf, kriegen wir auch vorgeführt.
Ich habe übrigens auch etliche Radfahrende gesehen, die bei Geradeausstarts per Handzeichen dem nachfolgenden Autofahrer anzeigen, wie sie radeln wollen (Foto rechts), nämlich vor ihnen auf der Fahrbahn.
Allerdings wirkt das alles noch etwas gemütlich. Insgesamt ist man mit den Alltagsrädern in Zeiten vor dem Pedelec in Münster sehr viel langsamer unterwegs als wir heute beispielsweise heute in Stuttgart. Auch der Autoverkehr nimmt nicht so viel Raum ein und bewegt sich, soweit im Film zu sehen, recht langsam durch die Straßen. Wie sich Münster in den letzten 35 Jahren weiterentwickelt hat, kann ich nicht beurteilen. Auf Online-Karten sehe ich aber immer noch fast ausschließlich teils auch ziemlich schmale Radwege auf Gehwegniveau entlang links am Straßenrand geparkter Autos, die Radfahrende in die Dooring-Zone bringen. Ich habe aber auch Straßen (z.B in der Grevener Straße) gesehen, wo es breite Radfahrstreifen auf Fahrbahnniveau gibt, die aber genauso wie bei uns vor der Kreuzung enden. Grundsätzlich scheint fast jede Straße mit einer Radinfrastruktur versehen zu sein, und offenbar fühlen sich gerade damit viele Radfahrende sehr viel sicherer, als sie sich bei uns auf den Straßen fühlen, wo die Radführung ständig zwischen Fahrbahn, Gehweg und Radstreifen wechselt und wir uns unsere Wege so gut wie immer entweder mit dem Autoverkehr oder dem Fußverkehr teilen müssen.
Ist in etwa so wie die Niederlande, bevor die im Laufe der 90er, und besonders dann ab den 2000ern wirklich ernst gemacht haben mit der Radinfra (aus welchen Gründen auch immer...). Inwieweit Münster dann das deutsche Dogma vom immer und überall fließenden Autoverkehr umgehen konnte entzieht sich meiner Kenntnis. In den letzten zehn Jahren hat sich da ja doch was getan, wenn auch je nach lokalem Kontext gegen mehr oder weniger Widerstand.
AntwortenLöschenJa, es gibt tatsächlich in den letzten 5 Jahren allererste kleine Ansätze das über Jahrzehnte konsequent verfolgte Dogma der 'Autogerechten Radverkehrsförderung' ein wenig aufzuweichen.
LöschenDas allerdings findet gegenwärtig allenfalls knapp im Promille-Bereich statt.
(Wer Münster kennt: Bohlweg, Anfangsteil der Wolbeckerstr.).
Und in der Tat:
der Ursprung der vielfach als 'Vorbild' anempfohlenen 'Radinfra' mit der als Vorbild anempfohlenen 'baulichen Trennung' findet sich bereits in den 50er und 60er Jahren.
Wie es in der städtischen Broschüre (Gwiasda et al 2009) zum Thema richtigerweise heißt:
„Das Fahrrad erschwert die Abwicklung des Stadtverkehrs als das am meisten störende Verkehrselement. Es verträgt sich wegen seiner unterschiedlichen Geschwindigkeit nicht mit dem Kraftfahr- zeug zusammen auf einer Fahrbahn und wird um so störender, je mehr es in Rudeln auftritt.
Der Grundsatz der Trennung der Verkehrsarten muss daher für den Radverkehr überall dort angewendet werden, wo mit durch- gehenden Radverkehrsströmen gerechnet werden muss und eine Gefährdung des übrigen Straßenverkehrs, insbesondere des Kraftverkehrs, vermieden werden soll.“
Ähnlich wie in den Niederlanden hat seitdem der Autoverkehr gerade auf den ökologisch fatalen längeren Pendeldistanzen drastisch zugenommen.
Das Fahrrad im separierten Binnenverkehr schafft den Platz (bzw. die Kapazität) auf den Fahrbahnen für mehr und weiter ausgreifenden Autoverkehr.
So beschert jeder einzelne Werktag der 'Fahrradstadt' mittlerweile bereits einen Autopendelverkehr in der Länge von 7xMond und zurück. Täglich!
Mit Verkehrswende/Zukunftsgerechtigkeit hat das genau NULL zu tun.
Im Gegenteil.
Außenwirkung?
Die monströsen lärmig stinkenden Blechlawinen, die alltäglich in die Stadt einfallen schaffen es, oh Wunder, nicht in Medien oder in städtische Hochglanzbroschüren; stattdessen werden seit Jahrzehnten wieder und wieder die sommerlichen Sonnenscheinaufnahmen mit glücklichen Radfahrenden auf der 'Promenade' präsentiert, von WDR, NDR, Ard, ZDF und den diversen Printmedien und Magazinen. Dazu natürlich die diversen Fahrradstadt Auszeichnungen für die Vitrine beim Stadtmarketing, das mit reichlich Personal besetzt ist (im Gegensatz zur Mobilitätsplanung).
Läuft ...
Ähnlich wie Berlin sitzt Münster in der Mitte eines 'Schwarzen' Donuts, ist also umzingelt von Landgemeinden, deren Landräte unter 'Verkehrswende' vor allem den beschleunigten Ausbau des überregionalen Straßennetzes für noch mehr Auto- und LKW-Verkehr verstehen:
https://www.cdu-regionalrat-muenster.de/aktuelles/verkehrswende-steckt-fest/
Da passt das 'bewährte' Konzept den Radverkehr als Anti-Stau-Maßnahme durch Wald/Wiesen/Naherholung/Fußverkehrsräume zu führen natürlich perfekt.
Münster kann also mit Fug und Recht als eine der Pionierstädte und Pionierregionen für das antiökologische Prinzip der 'Autogerechten Radverkehrsplanung' angesehen werden.
Alfons Krückmann
Danke, Alfons, für diese ergänzenden Informationen.
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