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19. November 2021

Der Beschützer-Instinkt des Autofahrers

"Oh, das ist aber gefährlich", sagt sich ein Autofahrer und hält Abstand von der Radfahrerin. 

Es regnet, die Ampel wird grün, ein Radler versucht im Anfahren den Regenschirm aufzuspannen. Es gelingt ihm nicht, er radelt auf einen Schutzstreifen weiter, den flatternden Schirm in der Hand. "Das ist aber gefährlich!," sagt der Autofahrer, fährt langsam und hält Abstand. Ich habe mich verfahren und komme an der Jahnstraße raus, auf der von rechts und links die Autos fahren. Ich will rüber, aber es gibt keine Lücke  im Autoverkehr, also radle ich auf der Fahrbahn zur nächsten Linksabbiegemöglichkeit, stelle mich auf den Mittelstreifen und strecke die Hand raus. "Das ist aber gefährlich!", denkt sich ein Autofahrer, der mir entgegenkommt, und hält an, damit ich nach links abbiegen kann. 

Eine Radlerin hat Einkaufstaschen an den Lenker gehängt und den Gepäckträgerkorb vollgeladen. Sie muss bergauf ordentlich in die Pedale treten. "Die Arme", denkt ein Autofahrer und gewährt ihr Vorfahrt an der Kreuzung. Ein Radfahrer fährt ohne Regenklamotten an einer Landstraße entlang, sein Rücklicht ist im Regen kaum zu sehen. "Das ist ja lebensgefährlich", denkt eine Autofahrerin und verzichtet aufs Überholen, bleibt hinter ihm und schützt den Radler. Zwei Rennradler haben sich in Stuttgart verirrt und aus Cannstatt kommend an der König-Karls-Brücke das Radfahrverbotsschild nicht gesehen. Sie landen unvermutet im Schwanenplatztunnel. "Das ist echt gefährlich", denkt sich ein Autofahrer und bleibt mit seinen leuchtenden Bremslichtern hinter den beiden Radlern, um sie vor dem nachfolgenden Verkehr zu schützen.Es gießt in Strömen, die Radlerin steht mitten auf der Kreuzung, weil sie links abbiegen will, ein Autofahrer bremst und winkt sie rüber (betätigt die Lichthupe), obgleich er Vorfahrt hat. Und wer mit einem Kinderanhänger oder dem Lastenfahrrad mit Kindern vorne drin radelt, löst sofort bei Autofahrenden den Gedanken aus: "Oh, das ist aber gefährlich, wenn da jetzt was passiert?", und sie fahren langsamer, halten mehr Abstand beim Überholen. 

Schülerin Fila hat keine Lust auf Stress durch knapp überholende Autofahrende und fährt bergauf im Unsicherheitsmodus, also immer wieder etwas seitlich ausscherend. "Oje, da muss ich aufpassen", denkt sich die Autofahrerin, hält Abstand und überholt nicht. Ich radle  durch den Schwabtunnel, hinter mir ein Autofahrer. Als wir an der Ampel nebeneinander stehen, kurbelt er das Fenster runter und sagt: "Das ist lebensgefährlich, was sie da machen." Ich lächle ihn an und sage: "Sie beschützen mich ja." 

Es scheint, als gäben sich manche Autofahrende dann gern als aufmerksame Beschützer, wenn sie Radfahrende in unglücklichen Situationen sehen oder wenn sie der Meinung sind, dass sie sich in Gefahr befinden. 

In solchen blitzkurzen Momenten des Straßenverkehrs begegnen sich Radfahrende und Autofahrende als Menschen mit Verständnis füreinander. 

Eine US-Studie stellte 2013 fest, dass Schutzkleidung die Sichtbarkeit von Radfahrenden nicht erhöht. Eine  andere Studie aus Großbritannien, ergab, dass Autofahrer Radler:innen mit Helm für berechenbare und sichere Radfahrer halten und sie enger und schneller überholen. Bei radelnden Frauen (am besten blond und langhaarig) nehmen sie dagegen eher an, dass sie unsicher und unberechenbar fahren und halten darum mehr Abstand. Frauen ohne Helm wurden seltener knapp überholt als Radfahrer mit Helm und Warnwesten. 

Autofahrende sehen Radfahrende dann besser, nehmen auf sie Rücksicht und beschützen sie sogar auch vor anderen Autofahrenden, wenn sie Zeichen von Unsicherheit aussenden. Oder anders gesagt: Wenn wir bei Autofahrenden den Beschützerinstinkt wecken können, werden wir besser wahrgenommen und radeln sicherer.

Ach, wäre dass schön, wenn Autofahrende sich immer bewusst wären, dass sie Radfahrende gefährden, wenn sie aggressiv auffahren oder knapp überholen, wenn sie sich nur immer als Beschützer:innen der Radfahrenden und zu Fuß Gehenden  fühlen würden!

5 Kommentare:

  1. Liebe Christine,
    ich weiß ja nicht, in welcher Stadt oder Welt deine Beispiele geschehen konnten, in Tübingen sind sie jedenfalls vollkommen undenkbar.
    Gute Fahrt
    Thomas

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  2. ...die Autos sind hier nur zu Gast, flüstert die Straße...Radverkehr in den Niederlanden...
    schaut euch das einmal an...wann kommen wir in Deutschland dahin?

    https://www.zeit.de/mobilitaet/2021-11/radverkehr-niederlande-fahrrad-auto-infrastruktur-verkehrsplanung-verkehrspolitik?utm_referrer=https%3A%2F%2Fnews.google.com%2F

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  3. Jörg
    Es gibt schon solche netten Mitbürger. Viele nehmen echt Rücksicht und bleiben dahinter zurück, wenn man mit einer Truppe Kids zum Radtraining unterwegs ist.
    In Italien klappt das mit dem Linksabbiegen lassen oder auf oder über die Straße lassen viel besser als in D. Da kann jeder*innen von uns etwas zu beitragen. Nicht nur hintern Steuer sondern auch am Lenker und zu Fuß.

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  4. Kleidung und Gesamteindruck beeinflussen definitiv, wie Autofahrer mit einem umgehen.

    Meine Erfahrungswerte:

    a) Warnweste: man wird zwar eigentlich gut gesehen und wahrgenommen. Autofahrer schätzen Dich aber für übervorsichtig und bremswillig ein und erwarten, dass Du sowieso auf alle Vorfahrt verzichtest. Autofahrer gehen davon aus, dass Du sie ausbremst und wollen Dich unbedingt schnellstmöglich überholen. In der Summe ist das gefährlich und ich trage keine Warnwesten mehr. Beschützerinstikt habe ich mit Warnweste selten ausgelöst.

    b) Fahrrad mit Rennlenker, enger Radhose und Trikot: Man wird (manchmal eher zähneknirschend) respektiert und für relativ schnell gehalten. Bunte Trikots sind gut wahrnehmbar, aber nicht so gut wie Warnwesten. Richtig entspannt ist die Stimmung eher nicht. Einige Autofahrer haben offensichtlich auch negative Erfahrungen mit aggressiven Rennradfahrern gemacht. Es wird unterstellt, dass man immer auf der Straße fährt, egal ob das erlaubt ist oder nicht, und dass man ungern bremst. Besondere Rücksichtnahme braucht man nicht erwarten, aber auch keine besondere Rücksichtslosigkeit, die über die weit verbreitete Gedankenlosigkeit hinausgeht. Manche Autofahrer wollen jeden Radfahrer auf den Gehweg verbannen (den sie dann "Radweg" nennen), und Rennradfahrer werden eher als Konkurrent und den Straßenasphalt eingeschätzt als andere. Und zwar als Konkurrent, der die Straße vermeintlich zum eigenen Vergnügen nutzt und nicht im "nützlichen" Alltagsverkehr. Es fühlt sich mittelprächtig an, immerhin wird man als "echter" Verkehrsteilnehmer gesehen. Beschützerinstikt weckt man als Rennradfahrer aber nicht.

    c) Man fährt mit Sonderrad, Anhänger, Lastenrad: damit haben viele Autofahrer noch keine richtige Erfahrung und keine Vorurteile. D.h., man bekommt Aufmerksamkeit (und wird nicht vergessen, dass man auch da ist) und es wird mehr Abstand gehalten. Dadurch ist das relativ sicher. Da weckst Du Beschützerinstinkte.

    d) Die meisten Verkehrsteilnehmer sind noch mit der Geschwindigkeit und der Beschleunigung von Pedelecs überfordert. Die Erwahrungswerte und Vorurteile aus Bio-Radler-Zeiten passen nicht mehr. Man sieht viel langsamer aus als man tatsächlich ist - aufrechte Haltung, keine sichtbare Anstrengung. Das ist eher schlecht für die Sicherheit. Allmählich werden Pedelecs aber zum Mainstream. Dann wird sich gegenüber Normalo-Rädern nicht viel ändern.

    e) Mit Liegerädern und verkleideten Rädern habe ich so gut wie keine Erfahrung. Meine Vermutung ist: man wird tatsächlich leichter übersehen (rein physisch, da man hinter Autos gar nicht mehr hervorragt) und die erreichbare Geschwindigkeit auf der Ebene und auf Gefällstrecken ist extrem hoch. Wenn man allerdings erst einmal wahrgenommen wurde, zieht man als Exot die Aufmerksamkeit auf sich, was eher förderlich für die Sicherheit ist.

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