Filas rund vier Kilometer langer Schulweg vom Stuttgarter Osten hinüber zum Dillmanngymnasium führt über genau null Meter Radinfrastruktur.
Fila (Name geändert) ist 13 Jahre alt. Weil die Bus- und Bahnverbindungen von der Ameisenstraße zum Dillmanngymnasium zu langwierig und umständlich sind und auch die Eltern gern Rad fahren, fährt Fila seit zwei Jahren mit dem Fahrrad zur Schule. Und weil es auf dem Rückweg ordentlich den Berg hochgeht, hat sie ein eigenes Pedelec.
Und jetzt erklärt sie mir die Tücken des Stuttgarter Radverkehrs. Denn radfahrenden Kindern und Jugendlichen wird es nicht leicht gemacht. Sie müssen sich ihren Weg suchen und mit sehr viel Voraussicht und Disziplin radeln. Autofahrende gehen da nicht immer ganz so vorsichtig mit ihnen um.
Fila radelt besser als so manche:r Erwachsene, vorausschauend und mit angepasster Geschwindigkeit. Wo man nicht radeln darf, steigt sie ab und schiebt, vor jedem Richtungswechsel streckt sie den Arm raus. Sie weiß auf jedem Meter ihrer Strecke, wo es gefährlich werden kann, und wo nicht. Sie weiß, was Autofahrende in ihrer Ungeduld tun, sie sieht voraus, wo sie sie überholen wollen und wo sie das verhindern muss, damit sie nicht selbst in Gefahr gerät.
Fila hat sich mit der Zeit ihren praktikablen Schulradweg erarbeitet. Ideal oder wenigstens schön ist er nirgendwo. Bestimmte
Ampelanlagen, zum Beispiel die am Landtag, meidet sie, weil es dort eng
zugeht und sie auf schmaler Verkehrsinsel zwischen brausendem Verkehr
warten muss. Ihr Schulweg ist nicht immer gleich, auch ein bisschen abhängig von Lust und Laune. Auf die Bolzstraße hat sie selten Lust (zu viele querende Fußgänger:innen und dann diese blöden Bodenwellen), dafür schiebt sie lieber das Rad über die Königstraße rechts am Kunstmuseum hoch zur Theo. Und ja: Sie schiebt.
Und so geht ihr Schulweg: Gleich nach dem Start kommt sie an der Ameisenbergschule vorbei. Da herrscht morgens reges Eltern-Taxi-Geschiebe.
Dann geht es die Schützenstraße hinunter. Rechts parken Autos. Kommt von unten ein Auto herauf, dann muss sie ausweichen und gerät in die Dooring-Zone oder sie kann in eine freie Parklücke ausweichen, je nachdem, wie viel Zeit ihr die Aufofahrenden lassen. Ganz blöd ist die Fahrbahnverengung für den Fußgängerübeweg auf halber Strecke, da passt man nicht aneinander vorbei. An der Kreuzung mit der Werastraße (2) muss sie aufpassen, denn der Vorfahrtsverkehr kommt von rechts hinten, man muss sich sehr umschauen. Im weiteren Verlauf, die Werastraße runter, häufen sich die Autos, deren Fahrer:innen unbedingt überholen müssen, und das auch mal knapp. Nicht ungefährlich ist auch die Einbahnstraßenausfahrt der Moserstraße (3). Die haben zwar Vorfahrt-Achten, aber sie rechnen nicht mit Radfahrenden bergab.
Hier könnte Fila geradaus auf dem Radstreifen über den Charlottenplatz fahren. Aber ihre Eltern haben ihr das verboten, denn drüben, dort, wo der Planietunnel beginnt, wechseln Autofahrende die Spuren von links nacht rechts zur Planie oder von rechts nach links zum Tunnel, und eben immer über diesen Radstreifen hinweg.
Danach geht es über eine Fußgängerampel (keine Radzeichen in der Streuscheibe) über die Theo und rechts ums Gewerkschaftshaus herum (10) auf die Börsenstraße, wo die Autos, die von der Theo einbiegen, entlangschießen (schmale Fahrbahnen drosseln das Tempo nicht).
Von der Börsenstraße biegt Fila in die Huberstraße und dann nach links auf die Schellingstraße (11) ein. Sie radelt auf den Fahrbahnen durchs Uni-Viertel, denn im Stadtgarten liegen ihr zu häufig Scherben. Über die Kiene- und Breitscheidstraße geht es zur Fußgängerampel an der Holzgartenstraße (12) und dann kurvt sie durch die Anlage an der Liederhalle, wo Radler:innen schwirren und Fußgänger:innen trödeln.
Sie zielt nach rechts Richtung Maritim-Hotel (13), wo mal viele Busse stehen, mal Autos rangieren oder mal gar nichts los ist. Sie nimmt diesen Weg, weil auf dem anderen (über die Breitscheidstraße) morgens massenhaft Schüler:innen mit und ohne Tretroller unterwegs sind und man mit dem Rad nicht durchkommt. Also nähert sie sich der Schule von oben (14) und muss dabei die Seidenstraße überqueren, und zwar über die Gehwegeceke und den Fußgängerüberweg.Da gibt es beim Rückweg den Vorteil, dass sie direkt aus dem Überweg nach links auf die Fahrbahn der Konrad-Adenauer-Straße einbiegen kann. Die rechte Spur wird zur Abbiegespur für die Ulrichstarße und ist nicht viel befahren. Der glatte Asphalt, die breite Spur und die Abwesenheit von Fußgängergewusel und drängeligen Autos ist ein Genuss. Es ist die einzige Stelle, wo Fila und ich das Rad mal rollen lassen können, ohne beständig höllisch aufpassen zu müssen.
Ab dem Abzweig Ulrichsrtraße geht es dann konstant bergauf. Die hat oben eine lange Baustelle auf der rechten Seite (18). Manchmal kommen Autos entgegen, die Vorfahrt haben, aber das konnte sie unten beim Reinfahren noch nicht absehen.
Aus der Ulrichstraße biegt sie nach links auf die Werastraße ein. Hier hat sie wieder den drängeligen Autoverkehr hinter sich. Der Zebrastreifen ist so zugeparkt, dass sie nicht sehen kann, ob Fußgänger:innen kommen. An der Kreuzung Kernerstraße muss sie höllisch aufpassen, denn von rechts hinten kommen die Autos von oben runter, da muss man den Kopf verrenken. Und auf der Schützenstraße gibt es dann die Dauerkommunikation mit Autofahrenden.Beispielsweise wurde sie eng überholt, wie man auf dem Foto (links unten) sieht. Manche Autos kommen runter (haben die geparkten Fahrzeuge auf ihrer Seite) und lassen ihr kaum Platz, andere hängen hinter ihr und lassen den Motor aufheulen und setzen zum Überholen an. Wenn Fila gar keinen Nerv mehr hat und in Ruhe gelassen werden will, radelt sie auch mal mittig und sogar ein wenig in Schlangenlinien. Das wirkt. Dann hören die Autofahrenden mit dem Überholdruck-Spiel auf.
Und das ist nun der ausgeklügelte Schulweg einer 13-Jährigen, die auf mich wirkt wie 15-jährig. Ja: Radfahren macht reifer. Schließlich übernimmt Fila, anders als diejenigen, die sich fahren lassen (mit Auto oder Bus und Bahn) viel Verantwortung für sich und andere. Auf diesem Schulweg trifft sie täglich Dutzende von schnellen Entscheidungen, wie und wo sie radeln kann. Die Stadt hilft ihr nicht, sie bietet ihr an keiner Stelle irgendeine Erleichterung oder gar einen schönen glatten Radweg an. Und sollte Fila einmal morgens spät dran sein und das Rad (morgens halb acht) über die Königstraße nicht schieben, sondern halt mal fahren, dann hält garantiert die Polizei sie an und macht ein Riesenentrara mit Ermahnung und Bußgeldbescheid. Wetten?
Übrigens, die Fotos stammen aus einem Video meiner Lenkerkamera.
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Danke für diese realistische Beschreibung einer Fahrradstrecke!
AntwortenLöschenAuch in anderen Städten und Städtchen ist die Situation leider nicht besser ...
Gruß, MBF
#MehrPlatzfürsRad
ach so ein zufall. erst gestern kam mein sohn völlig aufgelöst von der schule. er fährt schon seit der kita mit dem rad seine wege obwohl ihm das zeitweise sogar die schulleiterin verbot und vor der apotheke an der hasenbergstraße standen offenbar 2 mercedesfahrer so aufdringlich auf dem radweg, dass er zu hause fast heulen musste.
AntwortenLöschenich möchte, dass meine kinder sicher und selbstverständlich ihrer wege radeln.
und um es unmissverständlich klarzustellen:
wäre ihm gestern was passiert, wäre es nicht bei blogkommentierung geblieben.
Vielen Dank, Karl, für diese Schilderung. Die Fassungslosigkeit unserer Kinder angesichts der Brutalität unseres Autoverkehrs machen wir uns ja meistens gar nicht klar. Sie lernen eigentlich nur, dass Menschen mit großen Autos Sachen dürfen, die sie mit ihrem kleinen Fahrrad nicht dürfen, dass denen nichts passiert, während sie wegen einer fehlenden Fahrradklingel von der Polizei gerügt werden.
LöschenInteressanter Bericht. Ich fahre oft auch dieselben Wege. Vor dem Stadtpalais kommt man definitiv am Besten über die Hauptstätterstrasse, deutlich angenehmer als vor dem Landtag wo die Warteinsel zu klein sind.
AntwortenLöschenTolles Mädchern. Ich befürchte, wenn Sie eine bessere "Fahhradzukunft" für ihre Kinder möchte muss sie Stuttgart verlassen. Wie der Zufall es will, haben wir Anwohner bei der Verwaltung nach einer Radschulwegempfehlung für unsre Kinder aus dem Postdörfle (schräg gegenüber Milaneo) zum Katzebstift Gymnasium (Oper)nachgefragt. Die Antwort kam i dieser Woche. Lange Rede kurzer Sinn. Die Verwaltung weiß nicht wie KInder in Stuttgart zur Schule fahren können und es wird auch noch Jahre, wenn überhaupt, dauern, bis man Eltern eine Empfehlung geben kann. Eine Stadt die ihre KInder dermaßen im Stich lässt, hat keine Zukunft. Hier die Antwort der Stadt..
AntwortenLöschenim Namen von Herrn Oberbürgermeister Dr. Nopper danke ich Ihnen für Ihre Gelbe Karte vom 21.10.2021, in der Sie um die Schulwegempfehlung Rad (Stadtbezirke Mitte und Nord) für Ihre Kinder bitten.
Herr Oberbürgermeister hat mich gebeten, Ihnen direkt zu antworten.
Das Amt für öffentliche Ordnung befindet sich bei der Radschulwegplanung in Absprache mit verschiedenen Ämtern noch in einer Pilotphase. In einem nächsten Schritt werden die weiterführenden Schulen aufgefordert, mit Ihren Schülerinnen und Schülern die tatsächlich zurückgelegten Wegstrecken zu Fuß, mit dem Fahrrad, oder mit dem Bus mittels eines WebGIS Tools online zu erfassen. Dieses Datenmaterial wird von der Kommune ausgewertet und bildet die Grundlage für die weitere Schulwegplanung. Entsprechend sieht es der "Erlass Sicherer Schulweg für das Schuljahr 2021/2022" des Ministeriums des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen vor. Aufgrund der Anzahl weiterführender Schulen in Stuttgart wird dieser Prozess einige Jahre in Anspruch nehmen. Wann es für die jeweiligen Schulen eine offizielle Radschulwegempfehlung geben wird, ist nicht zuletzt auch von der Mitarbeit und dem Interesse der Schulgemeinde abhängig.
Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir im Vorfeld nicht für jede einzelne Schule-Wohnortbeziehung eine Schulwegempfehlung abgeben können.
beruflich hatte ich zuletzt im zusammenhang mit meinen tätigkeiten am hindukusch mit mitarbeiterinnen des öffentlichen dienstes zu tun.
Löschennach dem dort die angelegenheit mitte august ähnlich katastrophal, wie die wahl des ob in stuttgart ablief, antwortete mir ein eben solcher kollege auf meine frage, wie er mit dieser beschämenden untätigkeit, inkompetenz, leistungsverweigerung (oder wie sie es auch immer sonst nennen mögen) umginge, ganz knapp:
als die wortreichen entschuldigungen begannen, hab' ich mich umgedreht und bin einfach weg gegangen. ich hätte dem typ sonst einfach eine reingehauen.
glatt auf die 12.
wir brauchen lösungen.
JETZT.
@Rainer: vielen Dank für diese Schilderung. Die Antwort der Stadt macht mich fassungslos. Ich frage mich, was die eigentlich machen den ganzen Tag. Unter einer funktionierenden Verwaltung stelle ich mir was anderes vor.
AntwortenLöschenUm etwas von unten erreichen und verändern zu können muss man meines Erachtens am sicheren Schulweg ansetzen. Das hat ja in Holland auch vor Jahrzehnten zu Veränderungen geführt.
Im Grunde ist es doch so, dass wir halt entlang aller Straßen, wo schneller als 30 km/h gefahren wird, Radstreifen oder Radwege brauchen. Und das sollte schneller gehen. Geht es aber nicht, weil jede Planung praktisch im Bezirksbeirat erst mal scheitert, weil dafür Parkplätze wegfallen. Und auch im Gemeinderat ist die Mehrheit nicht sicher, wenn Parkplätze wegfallen. Dann ist die SPD auch nicht immer sicher mit dabei. Egal, was die Verwaltung für schöne Pläne jetzt vorlegen würde, es ist immer das gleiche elende Spiel: Die politischen Ebenen können die Entscheidung für Radinfrastruktur im konkreten Fall nicht treffen, ein Teil der Rät:innen sucht Auswege, Ausflüchte, um nur ja keine Parkplätze wegnehmen zu müssen. Deshalb geht auch gar nichts schnell voran. Ich glaube, der Druck der Radfahrenden muss stärker werden und lauter als der Druck derer, die für Parkplätze schreien.
Löschen"Um etwas von unten erreichen und verändern zu können muss man meines Erachtens am sicheren Schulweg ansetzen."
AntwortenLöschenJa, z.B. gelbe Mützen und Warnwesten verteilen am Schuljahresanfang...https://www.ulrich-thomas.com/index.php?option=com_content&view=article&id=504:schulbeginn&catid=82&Itemid=7
Man fasst sich an den Kopf und fragt sich was zwischen solchen Politikerohren im Jahre 2021(!) eigentlich los ist. Offenbar nicht viel mehr als vor 40 Jahren, als die Niederländer mit dem Sch... ein für alle mal aufgehört haben.
Ich habe dem Herrn (der im Übrigen stellvertretender Fraktionsvorsitzender im Sachsen-Anhaltinischen Landtag ist) mal eine längere Mail zum Thema Verkehrssicherheit geschrieben.
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