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18. Januar 2022

Wenn wir vor 30 Jahren angefangen hätten ...

1991 veröffentlichte der Spiegel die  Titelgeschichte "Autos raus!", die nichts an Aktualität verloren hat. Erstaunlich, wie unendlich langsam wir lernen. 

Aus dem Artikel geht hervor, dass der Spiegel schon damals seine Mitarbeiter:innen ermunterte, mit der U-Bahn oder mit dem Fahrrad zu Arbeit zu kommen. Wer seinen Autostellplatz im Verlag aufgab, bekam die Hälfte zum Fahrschein dazu. Denn ein Autostellplatz kostet einen Betrieb in den meisten Fällen deutlich mehr als die Subvention für alternative Verkehrsmittel. Bei seinen Recherchen in großen Städten fand der Autor des Artikels nach eigener Angabe kaum einen Verkehrsplaner oder Kommunalpolitiker, der nicht über den drohenden Verkehrskollaps in Städten jammerte, traf aber nur einen, der den Autoverkehr konsequent einschränken wollte, nämlich den Züricher Stadtrat Aschenbacher. 1991 begann man in Zürich in Wohngebietsstraßen Tempo 30 einzuführen. Seit Jahrzehnten wissen wir, was wir tun müssten, um Städte leiser und lebenswerter zu machen, als sie es derzeit sind. Aber wir drücken uns davor. 

Hauptursache für die tägliche Verstopfung der Städte vor allem morgens und abends sind die Pendler:innen.

Auch nach Stuttgart fahren täglich mehr Menschen zum Arbeiten mit dem Auto, als Stuttgart selbst versicherungspflichtige Arbeitsplätze hat. Laut dem Pendleratlas der Arbeitsagentur lebten 2018 in Stuttgart 635.000 Menschen, 260.000 versicherungspflichtige Beschäftigte gab es, 96.000 Menschen pendelten aus Stuttgart hinaus, 252.000 fuhren hinein. Um das zu ändern, bräuchten wir einen öffentlichen Verkehr, der die Zentren mit den Orten in der Region verbindet (schnell und zuverlässig in kurzen Takten), Radschnellverbindungen zur Region oder wenigstens Park & Ride-Parkhäuser an den Stadträndern. Nichts davon haben wir in Stuttgart, auch wenn wir immer wieder darüber reden. 

In Stuttgart beschäftigt uns der Tourismus nicht ganz so sehr wie in Berlin, wenngleich samstags das Umland mit den Autos zum Shoppen nach Stuttgart reinfährt. Was uns aber ebenfalls immer stärker beschäftigt, sind die unendlich vielen Sprinter und Lkw der Lieferdienste, die vor allem als Kurzparker in zweiter Reihe und auf Gehwegen auffallen und für Fußgänger:innen teils eine erhebliche Behinderung darstellen. Und natürlich stehen überall Autos herum, der ruhende Verkehr ist in Städten ein enormes Problem, weil er viel Fläche verbraucht. Wo Autos herumstehen, kann kein Fußgänger laufen und kein Fahrrad fahren. In unseren Wohngebieten teilen sich zunehmend mehr Fahrräder den Straßenraum zwischen den geparkten Autos mit Autofahrenden und, weil Fußgänger:innen oftmals auf ihren Gehwegen kein Durchkommen mehr sehen, auch mit Fußgänger:innen. Wer das ändern wollte, müsste in allen Straßen in Wohnvierteln Parkplätze für den Lieferverkehr freihalten, tatsächlich Hubs anbieten, wo Lieferungen auf Lastenräder umgeladen werden können oder unterirdische Beförderungsanlagen anlegen. 

Hinzu kommen neuerdings E-Scooter als neue Verkehrsteilnehmer, die auf den Fahrbahnen entlang wackeln, auf Radwegen Radfahrende ausbremsen und auf Gehwegen Fußgänger:innen extrem nerven. 

Noch ist nicht klar, welcher Verkehrsart man in unseren Städten künftig den Vorrang geben wird. Dass es nicht das Auto sein sollte, ist allen klar, aber so richtig will man das nicht wahrhaben. Irgendwie würde man gern die Verbrennerwelt eins zu eins auf die E-Auto-Welt übertragen. Noch immer kämpfen die Autoliebhaber:innen mit Zähnen und Klauen um jeden Meter Asphaltfläche, die sie vor allem gegen Radfahrende zu verteidigen suchen, damit man zähneknirschend Fußgänger:innen und Bäumen mehr Platz geben kann. Busspuren, die öffentliche Verkehrsmittel pünktlicher und stauunabhängiger machen würden, sind in Stuttgart noch keineswegs eine unumstrittene Selbstverständlichkeit. 

Seit den neunziger Jahren wissen wir, dass wir in Städten eine Verkehrswende brauchen, aber sehr vieles wissen wir seit Jahrzehnten, ohne dass die Politik und ihre Wähler:innen ernsthafte Anstrengungen unternommen hätten, um aus dem Wissen eine schönerer Welt zu machen. In den letzten zehn Jahren kamen die Mahnungen regelmäßig, dass sich der Verkehrskollaps vermeiden lasse, wenn man das Autofahren unbequemer macht. Immerhin haben wir im Ausland schon mal Paris, das eine konsequente Politik für Fußgänger:innen und Radfahrende macht und Hauptverkehrsstraßen umwidmet oder Brüssel, wo seit mehr als einem Jahr Tempo 30 gilt und sich die Unfälle halbiert haben, sich mehr Menschen an die Geschwindkigkeitsbegrenzungen halten und übrigens die Fahrzeiten mit dem Auto von A nach B nicht länger geworden sind. 

Doch noch immer weichen wir dem Gedanken aus, dass die Verkehrsfläche umverteilt werden muss. Noch tun wir so,  als müssten wir nur die Leute irgendwie überzeugen, nicht mit dem Auto zu fahren, indem wir Busse und Bahnen billiger machen oder Lastenräder bezuschussen, ohne zugleich dem Auto nennenswert Platz wegzunehmen und Bus- und Radspuren anzulegen. Aber so funktioniert das halt nicht. 

Eine Stadt ändert ihr Mobilitätsgesicht nur, wenn man tatsächlich Autospuren durch Radspuren, Busspuren und Gehwege ersetzt. Das aber wollen die Menschen nicht, für die das Auto immer noch das bequemste Mittel ist, um von der Haustür aus zur Arbeit oder zum Theater oder zum Shopping zu kommen, weil es Parkplätze und Fahrspuren im Überfluss gibt. Die wollen, dass das so bleibt, auch wenn sie insgeheim denken: Man sollte sich mehr bewegen, man sollte Rad fahren. Leider haben die Menschen nicht genügend politischen Einfluss, die wollen, dass sie in der Stadt zu Fuß oder mit dem Fahrrad Platz, Licht und Spaß haben und bequem einkaufen und zur Arbeit und wieder nach Hause kommen können. Sie sitzen nicht in den Gemeinderäten und Parlamenten.

Und deshalb wird der Spiegel-Artikel von 1991 vermutlich noch etliche Jahre aktuell sein. 

7 Kommentare:

  1. 1991 ging nach dem Mauerfall die neoliberale "geistig-unmoralische" Wende doch gerade erst richtig los.

    Es folgten nach dem angeblichen "Ende der Geschichte" drei Jahrzehnte eines unfassbaren kapitalistischen Rollbacks, der jeden Schritt in die richtige Richtung vor allem auf Seiten einer völlig verblendeten Politik (damals war der neoliberale Sündenfall auch der SPD noch einige Jahre weg) völlig unmöglich machte.

    Und die Medien, auch der Spiegel, haben, trotz eines Artikelchens hie un da im Großen und Ganzen mitgemacht.

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  2. Joachim
    Reden und herumdoktern, da sind wir auch heute sehr aktiv. Bei uns ist das Highlight des Mobiliätskonzepts -> Fahrradbügel aufstellen und das an genau einer Stelle.

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  3. Sprinter und Lieferdienste sind vermutlich unvermeidlich und werden eher noch zunehmen, wenn das Einkaufen sperriger und schwerer Gegenstände nicht jeder individuell mit seinem eigenen Auto erledigen soll.

    Stuttgart hofiert derzeit immer noch die MIV-Pendler, trotz Wunschvorstellungen aus dem VEK2030, im Modal Mix ungefähr Gleichstand zwischen MIV und Radverkehr erreichen zu wollen.

    Ich bin diesen Montag erst wieder mit dem Auto nach Stuttgart gependelt. Es ist einfach super entspannt, viel sicherer und dennoch wesentlich schneller als mit dem Fahrrad, wenn man etwas außerhalb der Stoßzeiten fährt: 27 Minuten rein, 28 Minuten raus zwischen privatem Parkplatz und Firmen-Tiefgarage (im Gegensatz zu jeweils 75 Minuten Fahrzeit + 15 Minuten Duschen und Umziehen mit dem Fahrrad oder 45 Minuten Fahr- und Laufzeit mit der S-Bahn). Auf den mehrspurigen Schnellstraßen mit Tempomat jeweils mit 80/100/120 km/h, im Stadtgebiet wie alle drumrum entspannt rollen mit 40 km/h. Die 2, 3 einzelnen Drängler und Schnellfahrer kann man als Autofahrer innerorts mit einem Schulterzucken abtun - das gibt höchstens einen Blechschaden.

    Mit dem Rad unterwegs: keine Klimaanlage, über eine Stunde im kalten Nieselregen. Die 2, 3 Drängler sind lebensgefährlich. Die Radrouten sind überwiegend unbeleuchtet. Laub-Matsch macht den Weg rutschig. Zusammengebackene Salzschicht-Reste lassen das Fahrrad korrodieren. Die Wege sind eng, unbeleuchtet, Rand-Markierungen fehlen, die Wegweisung ist unzureichend, man rumpelt über jede Menge Bordsteinkanten. Würde man zudem auch noch Schrittgeschwindigkeit einhalten, überall wo man zusammen mit Fußverkehr geführt wird, dann würden auch 75 Minuten Fahrzeit nicht reichen. Bei optimaler Radinfrastruktur wäre übrigens eine Fahrzeit von ca. 60 Minuten möglich.

    Nach wie vor: Mobilität in Stuttgart ist eindeutig für Autofahrer optimiert und es ist keine ernsthafte Strategie und Anstrengung zu erkennen, das zu ändern (z.B. im Vergleich zu anderen Metropolen wie London oder Paris).

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  4. Über die Lieferdienste und deren Sprinter sollte ernsthaft mal nachgedacht werden. Sollten nicht in regelmäßigen Abständen Längsparkplätze in Haltebuchten zum Be- und Entladen von Transportern und Lieferdienste umgewandelt werden? Wenn das nicht gewünscht ist, dann die klare Ansage (mit Bußgeldern für die Ordnungswidrigkeit), dass sie eben den fahrenden Kfz-Verkehr ausbremsen müssen, statt auf Gehwegen und Radspuren zu halten.

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    1. Jörg
      Unser Verhalten ist tatsächlich ziemlich dumm. Wir lassen uns alles mögliche liefern. Nur räumen wir keine Lieferanten- / Kurzparkerplätze dafür ein. Lieferanten kriegen Bußgelder.
      Die Parkplätze stehen voller Anwohner Autos. Ein echter Kurzparker Platz müsste digital überwacht werden. Solange keine funktionierenden Kurzparker Plätze eingerichtet werden wird das auf dem Rücken der Ausfahrer ausgetragen.

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  5. ...warum fangen wir nicht heute an???...das müssen wir uns fragen, bzw. muss die Forderung sein! ...nicht, wenn wir vor 30 Jahren angefangen hätten...
    nachhaltiges Bemühen zur Verbesserung der Fahrradinfrastruktur erlebe ich auf meinen Fahrradfahrten in Stuttgart nur sehr vereinzelt...von einer " Wende" sind wir soweit entfernt wie der Habicht vom Mond... schaut euch mal alle Radwege unter dem Aspekt an, ob ihr euer Kind auf diesen Wegen alleine fahren lassen würdet...das muss der Maßstab sein...unsere Kinder sind die Zukunft...aber wir bekommen es (fast überall) noch nicht einmal für uns und unter uns Erwachsenen geregelt...

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  6. wäre, wäre, Fahrradkette...

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