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13. März 2023

Fahrradstau im Fahrradparadies

"Die Niederlande ist beides, ein Paradies fürs Radfahren und fürs Autofahren. Denn viele kurze Strecken werden zu Fuß, per Fahrrad oder mit dem öffentlichen Nahverkehr zurückgelegt, so gibt es mehr Platz auf den Fahrbahnen für diejenigen, die mit dem Auto fahren wollen (oder müssen)."  

Das behauptet die Dutch Cycling Embassy auf Facebook. Auch ich sage immer wieder: Radwege sind gut für Autofahrende, denn sie sorgen dafür, dass Radfahrende auf definierten Spuren fahren. Und jeder, der Rad fährt statt Auto, verkürzt den Autostau. In den Niederlanden wird immer noch gern und viel Auto gefahren, aber eben auch gern und viel Fahrrad. Beide haben eine ausgebaute Infrastruktur. Allerdings hat auch das seine Tücken. Dass für einen Ausländer (in diesem Fall einen US-Amerikaner) das Radfahren in Amsterdam eher stressig als paradiesisch ist, beschreibt dieser Bericht (Englisch) sehr anschaulich: Es sind viele, sie radeln für den Beobachter von außen unberechenbar und gefährlich. Zudem sind Fahrradparkplätze knapp und Räder werden geklaut. Anderseits gibt es auch begründete Begeisterung über die Radkultur der Niederlanden. 

Dass Amsterdam kein Fußgänger:innen-Paradies sei, habe ich schon öfter gehört.

Warum das so ist, beschreibt dieser Artikel (Englisch) aus dem Jahr 2017. Radfahrende sind einfach überall und gerne auch auf Gehwegen, abgesehen davon, dass überall Fahrräder herumstehen, auch auf Gehwegen. Aus diesem Artikel geht hervor, dass der niederländische Fietsersbond (Fahrradbund) beklagt, dass man in Amsterdam die Vekehrsorganisation immer noch vom Auto her denke, Radfahrende im Grunde an den Rand dränge und sie zwinge, indirekt links abzubiegen. Auch dort berücksichtige die Straßengestaltung nicht wirklich die Radfahrenden und ihr spezifisches Mobilitätsverhalten, was dazu führe, dass sich viele nicht an die Regeln halten. Dass die Radwege rettungslos überfüllt sind, die Infrastruktur gar nicht mit dem Radverkehr mitgewachsen ist, bemängelt auch der US-Amerikaner, der Radfahren in Amsterdam extrem stressig fand. 

Eine Amsterdamer Beobachtungsstudie filmte knapp 20.000 Radfahrenden an neun Kreuzungen neun Stunden lang und fand heraus, dass überfüllte Straßen Radfahrende dazu verleiteten, die Regeln zu übertreten (nicht anhalten, weiße Linien missachten). Allerdings hielten sich 97 Prozent der Radler:innen an die Regeln, 6 Prozent fuhren so, dass sie als rücksichtslos und gefährlich eingeschätzt wurden, obgleich es keine ernsthaften Konflikte gab. Die übrigen 7 Prozent verstießen so gegen die Regeln, dass sie niemanden dabei gefährdeten. Radfahrende, so die Studie, seien besonders während der Hauptverkehrszeiten gestresst, weil sie mit einem zu geringen Platz auskommen müssten. Radwege seien zu schmal und es gebe zu wenig Platz für Radfahrende, die an einer roten Ampel warten, sie behinderten dann andere Radfahrende oder Fußgänger:innen. Also: schlechte Radinfrastrukturgestaltung verleitet auch in Amsterdam Radfahrende zu Regelverstößen. Hinzu kommen die vielen Tourist:innen, die sich nicht auskennen, die teils ungeschriebenen Regeln nicht kennen, auf falschen Wegen radeln und das auch noch unsicher auf geliehenen Rädern. In den Niederlanden hat man zwar inzwischen Coachers eingeführt, die Radfahrende ermahnen, aber eigentlich setzt man darauf, dass die große Menge von Radfahrenden sich selber reguliert, und zwar in einer Art Schwarm-Choreografie. (Fische oder Vögel im Schwarm stoßen auch nicht zusammen, in der Herde galoppierende Pferde übrigens auch nicht, selbst bei abrupten Richtungswechseln.)

Schauen wir uns die Situation erst mal an.
Ich habe auf einer Tippseite fürs Radfahren in Amsterdam ein aufschlussreiches Video gefunden, auf dem man zehn Minuten lang eine kleine Kreuzung beobachten kann. Autofahrende versuchen von links und rechts die schmale Vorfahrtstraße zu überqueren, auf der von hinten ein Radstreifen Radelnde heranführt. Nur auf der rechten Seite dürfen Autos in nur eine Richtung fahren. Für uns unvorstellbar viele Radfahrende kommen, queren, wollen abbiegen, die meisten ohne Handzeichen, auch weil sie damit beschäftigt sind, ihr Rad auszubalancieren. Es wirkt regellos, aber man sieht, dass die Radfahrenden sich arrangieren. Nur einmal kommt es zu einem Zusammenstoß (Bild 3), zweier parallel radelnden Frauen, der aber harmlos ist. Abgesehen davon, dass man sieht, dass die Radinfrastruktur für den Radverkehr zu eng ist, weshalb alle sehr langsam fahren und oft auch absteigen, teils links neben den Autos radeln, teils rechts, teils wild durcheinander, sieht man keine Regelverstöße, die dem Radverkehr selbst schaden oder den Autoverkehr behindern. Allerdings war ich schon sehr erstaunt, wie forsch die Autofahrenden sich da reindrängen und Radler:innen regelrecht an den Bordstein abdrängen (zweie mussten absteigen und das Rad auf den Bürgersteig heben). Auf Bild 1 sieht man vor dem Kühler des schwarzen Autos eine Radlerin, der der Autofahrer keinen Platz lässt, sie kibbelt am Bordstein. Sehr oft umrunden die Radfahrenden die sperrigen Autos oder müssen anhalten, obgleich sie Vorrang haben. Auf Bild 2 sieht man, wie einen Linksabbieger sich vor den Radlern, die auf dem Radstreifen kommen, auf die Fahrbahn drängt. Auf Bild 4 sieht man einen Autofahrer ebenfalls nach links einbiegen, obgleich Radler entgegenkommen. Und auf Bild 6 kann man sehen, wie der Fahrer des weißen Lieferwagens eine Radlerin vor ihm auf der Fahrbahn überholt und dabei weit auf den Rafahrstreifen fährt, auf dem ihm Radler entegegenkommen. Es geht also durchaus ruppig auf den Straßen zu, und diese Ruppigkeit geht eigentlich eher von den Fahrern von Autos aus, die hier viel zu groß und unhandlich wirken. Auf Bild 5 sieht man übrigens zwei Fußgänger:innen die Straße queren, und die haben sichtlich gar keinen Stress. (Dass die Fußgänger:innen hier keinen Stress haben, wird später noch mal wichtig.) 

Wenn ich mir vorstelle, dass all diese Menschen, die hier radfahrendend unterwegs sind, mit dem Auto fahren würden, gäbe es auf Amsterdams Straßen eine geschlossene Blechdecke, die sich nicht bewegt. Auch wenn das Autofahren in dem Gewusel mühselig aussieht, diese Autofahrenden stehen immerhin nicht im Autostau und sie boxen sich im wahrsten Sinn des Wortes auch ziemlich forsch durch das Radgewusel. 

Man möchte unter Radfahrenden so wenig formale Regulierung wie möglich implementieren, denn eine Verkehrsumgebung mit Ampeln und so weiter, folgt nach Einschätzung der Wissenschaftler einer autobasierten Logik. Auf dem Video sieht man auch gut, dass Radfahrende selber keine Ampeln brauchen, sie arrangieren sich, schlängeln sich durcheinander, fädeln sich durcheinander durch. Wenn alles langsamer und etwas freundlicher abläuft, dann regeln sich die Dinge auch mit den Autofahrenden.  Autogerechte Regeln funktionieren bei Fahrrädern sowieso nicht, was vor allem daran liegt, dass Radfahrende effizient fahren wollen, also bremsen und erneutes anstrengendes Anfahren vermeiden und keine Umwege fahren. Wenn man sie mit indirekten Routen und mehreren Ampeln konfrontiert, suchen sie sich ihren eigenen Weg nach eigenen Regeln. 

"In Amsterdam gibt es natürlich eine kritische Masse an Radfahrern, was bedeutet, dass sie das Sagen haben. Es gibt also Fußgängerüberwege, an denen man als Fußgänger theoretisch Vorrang hätte, aber es wird erwartet, dass man die Radfahrer passieren lässt", sagt einer der Forscher. Das Institut vertritt die Ansicht, dass Radfahrende und Fußgänger:innen an Kreuzungen mit Blickkontakt und Gesten sozusagen miteinander verhandeln. Das passiert nach meiner Erfahrung immer, wenn Radfahrende und Fußgänger:innen sich kreuzen, an jedem Zebrastreifen beispielsweise. Je weniger Regeln, desto freundlicher sei die Verständigung und desto altruistischer das Verhalten, sagen die niederländischen Forscher. Deshalb hat man Ampeln an stark befahrenen Radwegen abgeschafft, was zu aufmerksamerem Fahren führt. 

Menschen, die nicht männlich oder jung und fit sind, beispielsweise Blinde, Gehbehinderte oder Menschen mit Kinderwagen äußern allerdings, dass sie das Verhalten der vielen Radfahrenden stressig finden. Blinde meiden Shared Spaces ganz, eine Mutter mit Kinderwagen beschwert sich, dass Radfahrende am Zebrastreifen nicht anhalten, manche finden - wie auch bei uns in Stuttgart - das Queren einer Fahrradstraße schwieriger als das einer Straße, wo Autos fahren. Allerdings sind selbst die sich als geplagt erlebenden Fußgänger:innen stolz auf die Radinfrastruktur ihrer Stadt. Die meisten Fußgänger:innen kommen auch gut damit klar. In den Niederlanden wird allerdings auch daran gearbeitet, Fußgänger:innen und Radfahrenden zu einem besseren Miteinander zu verhelfen. 

Das Zentrum Amsterdams verwandelt sich immer mehr in eine Fußgängerzone, wo die Radfahrenden nicht mehr dominieren, berichtet der Guardian 2021. Fußgänger:innen, Tourist:innen und Gastronomie nehmen den Radfahrenden den Platz weg. Zu viele und zu schnell fahrende Radler:innen bewogen Anwohner:innen und Unternehmer:innen, Maßnahmen zu fordern. Man schlug Radfahrenden Umgehungsrouten als sogenannte "bequeme Radwege" vor, aber die Radfahrenden fuhren weiter durchs Zentrum. Dem Tenor des Guardian-Artikels zufolge, befürchten Radfahrende, klammheimlich entmachtet zu werden. Sie beklagen, dass es immer mehr Fußgängerzonen gibt, wo Fahrräder nur Gast sind. Sie beschweren sich über verstopfte Radwege auf den Routen rund ums Zentrum, und darüber, dass das Radfahren unattraktiv gemacht werden solle. Sie spüren eine Verdrängung in Nebenstraßen, auf unsichere Straßen und auf Radwege entlang von Autobahnen und Schnellstraßen, wo niemand radeln wolle. Die Stadt sagt, das Schild "Radfahrer als Gäste" werde vermehrt dort taufgehängt, wo man vor allem Mopeds raushalten wolle, etwa in Parks. Der Radverkehr solle nicht eingeschränkt, aber der Fußverkehr auch geschützt werden. Um das Radparkproblem zu lösen, würden weiterhin in Amsterdam Fahrradparkhäuser gebaut und Abstellanlagen hingestellt. 

Klingt irgendwie vertraut. Nur dass wir noch um Auto versus Fahrrad streiten und die schon um Fahrrad versus Fußgänger:innen. Merke: Wenn eine schnellere Verkehrsart die langsamere Verkehrsart dominiert, kommt es zu Ärger auf beiden Seiten. Bei uns in Deutschland schimpfen Radfahrende über den Autoverkehr und die Autofahrenden fürchten, durch den Radverkehr entmachtet zu werden. Und die Fußgänger:innen beschweren sich darüber, dass die Radler durch den Autoverkehr in ihre Bereiche abgedrängt werden (über den Autoverkehr beschweren sie sich nicht). Auch in den Niederlanden sind es die Radfahrenden, die bei Fußgänger:innen Stress und Angst auslösen und sich wiederum ärgern, wenn sie zurückstecken müssen, damit der Fußverkehr angst- und stressfrei wandeln kann. 

In großen Städten, so scheint es, ist vor allem ein gutes Konzept für ein Miteinander von Fußgänger:innen und Radfahrenden nötig. Und den Niederländern sagt man immerhin da eine viel größere Gelassenheit und Sozialkompetenz nach als uns Deutschen. Aber wer weiß, vielleicht sind wir da besser als wir denken. 

3 Kommentare:

  1. Ich bin viel hundert Kilometer i den Niederlanden geradelt, auf dem lachen Land, aber auch in Amsterdam und anderen großen Städten. In Amsterdam war ich auch als Fußgänger unterwegs. (Auto gefahren bin ich in den Niederlanden nicht, aber ich denke nachdem was ich vom Autoverkehr beobachten konnte, und auch Parameter wie die weiterhin ansteigenden Zahl von Autos in den Niederlanden sprechen nicht dafür, dass es Autofahrern in NL schlecht geht.)
    Ich habe in Amsterdam nicht gemerkt, dass Fußganger von Radfahrern behindert werden, wenn man nicht ohne zu schauen auf den Radweg latscht, gibt es ein problemloses Miteinander dieser Verkehrsarten, auch im engsten Innenstadtbereich. Unterschied zu anderen Ländern? der absolute Na

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  2. So, jetzt hat sich wieder ein Kommentar während des Schreibens irgendwie selbst gepostet, ich habe keine Lust mehr, Frau Lehmann, bitte löschen.

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    1. Lieber Anonymus, leider kann ich an der Art und Weise, wie Blogger Kommentare behandelt, nichts ändern. Dazu bin ich technisch nicht versiert genug. Es würde mich jetzt aber schon interessieren, was du in den Niederlanden beobachtet hast.

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