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31. März 2024

Was schlechte Radinfrastruktur anrichtet


Baden-Württemberg und andere Länder haben Ende März die Unfallbilanz 2023 vorgelegt. Die Bilanz ist natürlich nicht gut. 

Um es weniger technisch-buchhalterisch zu formulieren: Es gibt die vorläufigen Zahlen zu Kollisionen und Stürzen von Radfahrenden im Straßenverkehr des zurückliegenden Jahres. 

Das Baden-Württembergische Innenministerium teilt mit, es seien im vergangenen Jahr 62 Radfahrer:innen getötet worden (13 weniger als 2022). In 80 Prozent der Fälle hätten die Radfahrenden ihre tödlichen Unfälle aber selbst verursacht. Zwei Drittel hätten keinen Helm getragen. Auch die Stuttgarter Zeitung glaubt, das "fehlende Helme" für Todesfälle verantwortlich sind. Die Radinfrastruktur - fehlend oder schlecht - jedenfalls nicht.  Der Spiegel hat erwähnt die schlechte Radinfrastruktur. Demnach ging in ganz Deutschland die Zahl der getöteten Radfahrenden von 474 (2022) auf 444 zurück. Unter ihnen aber mehr Pedelec-Fahrer:innen die auch ein höheres Todesrisiko haben (weil sie älter sind und die Zahl der Pedelecs stark zunimmt). Die Zahl der getöteten E-Scooter-Fahrenden verdoppelte sich auf 20 und es kamen 432 Fußgänger:innen bei Zusammenstößen ums Leben, deutlich mehr als im Vorjahr. Dass Deutschland bei der sicheren Radinfrastruktur hinterherhinkt, wird in dem Artikel deutlich gesagt. 

Für mich gibt es keine Möglichkeit, mir Situationen, die Rolle der Beteiligten oder die Orte und deren Infrastruktur genauer anzuschauen. Ich bin aber kürzlich auf einen Unfallbericht gestoßen, der mir deutlich macht, wie sehr die schlechte Radinfrastruktur selbst am Kollisions-Geschehen beteiligt ist, bei dem juristische die Schuld die Radfahrerin trägt, weil sie den Fehler gemacht hat. 
Die Frau wollte (und musste) auf der Plieninger Straße in Möhringen Ost hinter der Tankstelle auf den linksseitigen Radweg wechseln und wurde dabei von einem Linienbusfahrer angefahren und schwer verletzt. Ich habe nur eine Stelle gefunden, wo der Zusammenstoß passiert sein kann (Foto oben). 

Sie war Richtung Steckfeld unterwegs, vermutlich auf dem sogenannten Schutzstreifen. Der hört auf. Links sieht man - aber nur, wenn man es weiß - das blaue Schild für den benutzungspflichtigen Radweg. Dort kommt man aber von der Fahrbahn aus nur hin, wenn man an der Fußgängerfurt bei Autogrün und Fußgängerrot nach links auf den Gehweg radelt. (Bei Rot für den Fahrbahnverkehr darf man nicht radeln, obgleich man dann auf der Hälfte der Fußgängerfurt grün hätte, weil man die Haltelinie nicht überfahren darf.) Oder man folgt der Verführung des "Gehweg Rad-frei"-Schilds und fährt auf den Gehweg (was man nicht muss), wartet dann an dem beampelten Überweg und fährt rüber. Aus der Polizeimeldung geht nicht hervor, was genau geschehen, wie die Radfahrerin gefahren und in welche Richtung der Bus gefahren ist. 

Schaut man sich die Stelle an, sieht man: Das ist Mist. Die Radwegverpflichtung bringt Radfahrende in Gefahr, weil sie ein Manöver entweder über den Gehweg oder auf der Fahrbahn ausführen müssen, bei dem sie den Autoverkehr kreuzen oder er ihre Fahrlinie kreuzt. Eine Radinfrastruktur, die ein Gehweg-Rad-frei zu Hilfe nimmt, ist keine, denn auf Gehwegen müssen Radfahrende nicht fahren. Und eine Abfahrt von der rechten Fahrbahn zu einem linksseitigen Geh- und Radweg an einer Fußgängerampel ist eine unklare Situation (bei welchem Rot/Grün darf ich abbiegen? Rot ist für mich immer, entweder auf der Fahrbahn oder auf dem Überweg). 

Auf dem rechtsseitigen Gehweg hätte sie übrigens nicht weiterradeln dürfen, weil der Radweg auf der anderen Straßenseite ja für sie verpflichtend ist, auch wenn man die Gehwegfreigabe missverstehen kann. Vor allem dann, wenn man sich hier nicht auskennt und auch gar nicht nach links guckt, wo das blaue Radwegschild steht, sondern auf die Straße oder nach der Fortführung des Schutzstreifens über den Gehweg. (An der nächsten Querstraße merkt man dann allerdings, dass es keine Radfreigabe mehr gibt.) 

Ziemlich verzwickt, diese Situation. Auf dem Schutzstreifen anhalten, während links der Autoverkehr weiterbraust (oder ein großer breiter Bus links vorbeifährt), weil man nach links will, ist stressig und gefährlich. (Die Polizeimeldung lässt offen, ob womöglich der ihr folgende Bus sie von hinten erfasst hat, womöglich als sie bremste. Auch das wäre denkbar). Vom Schutzstreifen auf die Mitte der Fahrbahn wechseln, um links abzubiegen, ist mit Fahrkunst und Mut verbunden, weil man Autos hinter sich stoppt, wenn Gegenverkehr kommt, während die Ampel für Autofahrende ja Grün zeigt. Auf den Gehweg hochhopsen (schräg über einen Bordstein), erfordert Fahrkunst und ebenfalls ein Abbremsen auf dem Schutzstreifen, der Teil der Fahrbahn ist. Das ist einfach schlecht. Es bringt Radfahrende in Stress und in Gefahr. Die elfjährige Laura würde man hier nicht radeln lassen. 

Ich hoffe, dass die Radfahrerin inzwischen wieder gesund ist und keine bleibenden Verletzungen davongetragen hat. 


9 Kommentare:

  1. Der Mist geht direkt danach auch weiter. Hat man es auf den linksseitigen Radweg geschafft, kommt 200m später die Brücke. Gemeinsamer Fuß und Radweg für beide Richtungen freigegeben, aber so eng dass quasi kein Begegnungsverkehr möglich ist. Auf die Straße hat man zwei sehr enge Spuren gequetscht, sodass die LKW Spiegel gefühlt schon auf dem Bordstein sind.

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    1. Ja, das stimmt. Gibt es eigentlich eine Alternativstrecke?

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  2. Ein ziemliches Gerätsele über den Unfallhergang. Bekommt die Öffentlichkeit (Journalisten) eigentlich Zugang zu Unfallberichten der Polizei?

    Da die Polizei per Verwaltungsvorschrift angehalten ist, "bei jeder sich bietenden Gelegenheit" Kritik und Verbesserungsvorschläge an der Infrastruktur zu melden, gehe ich davon aus, dass diese der Verkehrsbehörde vorliegen (oder auf Anfrage vorliegen würden). Gehe ich richtig in der Annahme, dass dem Ordnungsamt als Verkehrsbehörde Leben und Gesundheit von Radfahrenden weniger wichtig ist als das von Bürgern im Allgemeinen und weniger wichtig als das zügige Vorankommen von Autofahrenden im Besonderen?

    Mir drängt sich dieser Verdacht auf, da die Stadt Stuttgart abgelehnt hat, sich mit den Mängeln an einer Kreuzung zu beschäftigen, an der ich ei en Unfall hatte. Um die Infrastruktur auf den Stand der Technik zu bringen und den Verwaltungsvorschriften anzupassen, müssten dort innerhalb eines Jahres 3 Unfälle gemeldet worden sein. Wohlgemerkt, Beinaheunfälle gelten nicht. Wohlgemerkt, es müssen nach deren hausinternen Regeln auch 3 Unfälle mit identischem Hergang und identischer Ursache sein.

    So setzt man willkürlich die Hürden hoch, um keine einzige von 16 Sicherheitsmängeln einer einzigen Kreuzung zu beseitigen. Aus meiner Sicht ist das amtliche Sabotage der Vision Zero.

    Leider ist nach wie vor der Weg des geringsten Widerstands, alles darauf zu schieben, das Radfahrer sowieso leicht zu übersehen seien (ein gerinfügiger, entschuldbarer Fauxpas, der jedem Autofahrer blind abgenommen wird) und Opfer-Bashing zubetreiben: Radfahrer ohne Helm seien fahrlässig, Radfahrer mit Helm seien leichtsinnig und Radfahrende hätten sowieso die Aufgabe, extrem vorsichtig die möglichen Fehler von allen anderen Verkehrsteilnehmern vorauszusehen und auszubügeln. Oberste Pflicht von Rafahrenden sei es, niemanden zu behindern oder zu erschrecken, ein schlechtes Gewissen zu machen oder sonstwie in Erscheinung zu treten. Das schlimmste, was ein Radfahrer zun kann, ist, sich von einem Autofahrer umfahren und töten zu lassen. Der arme Autofahrer - der könnte als Schuldiger ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle bekommen. Einfach unfair vom getöteten Radfahrer, ihn in diese Opferrolle zu bringen.

    A propos schlechtes Gewissen und Schuldgefühle oder gar juristische Verantwortung: Davor sind derzeit (noch?) die Verantwortlichen für die Radverkehrsanlagen und die Radinfrastruktur insgesamt gefeit.

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    1. Gut resümiert. Die Verwaltung: 🙈🙉🙊

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    2. ... wenn man dann weiter radelt, an der Daimlerzentrale vorbei, kommt zwischen Daimler und Kelley Barracks noch ca 1,5 m breite Engstelle, welche nicht richtig einsehbar ist und auch noch in beiden Richtungen von Radlern und Fussgängern benutzt wird, dabei könnte nach der Umverlegung der Kasernenzufahrt in diesem Bereich die Stauspur zugunsten eines breiten Geh-und Radweges aufgegeben werden.
      Österliche Grüsse Thomas

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  3. Jörg
    Nachtrag zur Unfallbilanz. Wir sollten vielleicht die Corona Formulierungen nutzen. Die Formulierung des IM BW "Über 80 Prozent der tödlichen Verkehrsunfälle verursachten die Fahrradfahrerinnen und -fahrer selbst." strahlt eine hohe Verachtung gegenüber den Getöteten aus. Da werden Menschen die Landstraßen überqueren wollten und getötet wurden zu Tätern.
    Die korrekte Auswertung wäre für mich: xy Menschen sind im Auto an Unfällen mit Autos verstorben, xy Menschen sind außerhalb von Autos an Unfällen mit Autos verstorben, xy Menschen sind an Unfällen mit Fahrrädern verstorben
    Gesellschaftlich geht es um Unfallvermeidung mit dem Blick nach vorne. Schuldzuweisungen bringen der Gesellschaft nichts, da geht es im Einzelfall um Geld. Leben können nicht wieder hergestellt werden.

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  4. Zu aller erst wollte ich mich für diesen Blog bedanken. Es tut einfach gut gelegentlich Beiträge zu lesen, die die eigenen Erfahrungen so treffend beschreiben, dass man sich schon fast wundern muss, wie ähnlich viele Situationen hier (München) und in Stuttgart sind.
    Hier zum Thema: die "selber schuld Quote" von 80% der tödlichen Unfälle hat mich auch erschreckt, zumal sie im Widerspruch zu der Aufteilung der Hauptverursacher bei nicht tödlich verlaufenden Unfällen steht. Da sind es ca 50% (inklusive aller Alleinunfälle wegen schlechter Infrastruktur, und Rad / Rad Unfälle auch teilweise begünstigt durch Infrastruktur)
    Ein Erklärungsansatz ist, dass nach einem Unfall bei dem einer gestorben ist, nur noch der andere gefragt werden kann. Ein Beispiel aus unserer Region: Im Februar gab es im Münchner Umland einen Unfall mit einem schwerverletzten Radfahrer. In der Ursprungsmeldung hieß es, er wäre einer Autofahrerin vom Gehweg quasi seitlich ins Auto gefahren und dann natürlich gestürzt.
    Als er eine Woche später fähig war eine Aussage zu machen, stellte sich die Sache anders dar. Er ist nach Aufzeichnung seines Trainingscomputers mit mehr als 35 km/h durch die 30 Zone gefahren, die Autofahrerin hat ihn an einer sehr schmalen, verschwenkten Stelle überholt und ihn dabei zu Sturz gebracht. (vermutlich nach rechts gezogen obwohl sie gerade erst mit dem halben Fahrzeug vorbei war)

    In diesem Fall war der Radfahrer nur temporär nicht in der Lage seine Version des Vorgangs zu schildern, wäre er bei dem Unfall gestorben wäre auch das ein Unfall mit einem Radfahrer als Hauptschuldigen.
    Die wahrscheinlich größte Gruppe der für Radfahrer tödlich verlaufenden Unfälle sind aber die bei denen eigentlich die Infrastruktur schuld ist, mal so offensichtlich wie oben beschrieben, mal eher weniger offensichtlich wie 2cm hohe Längskante die im Herbst und Winter unter Laub oder Schnee begraben sind.

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    1. Lieber Münchenradler, das ist eine sehr interessante Schilderung. Ein Manko - über das ich noch schreiben werde - ist, dass die Polizei wohl bei Stürzen von Radfahrenden (egal aus welchem Grund), nicht so genau die Spuren sichert und alle Daten erhebt, wie man das bei Autounfällen, auch Alleinunfällen, macht.

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    2. Hallo Christine (ich hoffe das passt so)
      Die Alleinunfälle sind ein riesiges Thema, genau wie viele "übersehen" Unfälle. Bei beiden Gruppen sollte die Infrastruktur auf ihren Einfluss geprüft werden. Ich habe das allerdings noch nie wahrgenommen. Maximal werden schlechte Sichtbeziehungen als Entschuldigung für den KFZ Fahrer angeführt, auf die Idee kurzfristig in dem Bereich Halteverbotsschilder aufzustellen oder Büsche regelmäßig zu schneiden kommt irgendwie keiner (der es in die Zeitung schafft)
      Da ich 90% meiner Jahreskilometer auf dem Weg in die Arbeit fahre hab ich einen Weg gefunden wo ich wenig schlimme Stellen habe und die kenne ich. Aber Radverkehr darf ja nicht nur für die gefahrlos sein, die den Weg schon 100 mal gefahren sind und wissen wo Schwellen oder Längsrinnen sind selbst wenn man sie unter einer Regenwasserschicht, Blättern oder Schnee nicht erkennen kann, oder wo eine Parkplatzausfahrt ist, aus der immer einer kommen kann der nicht auf den Radweg achtet. In den Augen derer die wenig mit dem Rad fahren ist jeder Radfahrer der liegt aus eigenem Unvermögen gestürzt, da lohnt keine Ursachenforschung.

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