Laura ist ein elfjähriges Mädchen, das gerne Fahrrad fahren würde. Dabei möchte sie sich selbst sicher fühlen, vor allem aber wollen ihre Eltern keine Angst haben, wenn sie sie mit dem Fahrrad losschicken.
In einer Broschüre über "Einladende Radverkehrsnetze" schlägt das Bundesverkehrsministerium vor, unsere Radinfrastruktur mit Laura abzuradeln, also mit ihren Augen (und denen ihrer Eltern) zu sehen. Laura steht für die vielen Menschen aller Altersgruppen, die sich erst dann fürs Radfahren entscheiden, wenn sie sich dabei auch sicher fühlen. Von einer Radinfrastruktur, so die 'These, die für die elfjährige Laura geeignet ist, profitieren alle Menschen. Die Broschüre zitiert den Verkehrsminister mit der Aussage: "Daher mein Wunsch an alle Planerinnen und Planer: Halten Sie sich stets vor Augen, was Laura benötigt, um sicher und entspannt Rad fahren zu können, und planen Sie die Radinfrastruktur bei Ihnen vor Ort entsprechend."
In dieser Broschüre stecken Grundsätze, die wir eigentlich schon längst für den Radverkehr auf die Straße gebracht haben sollten und bei jeglicher Planung beachten müssten.
Denen folgen wir aber nicht. Derzeit wird meistens nicht für Laura geplant, sondern für routinierte Radler:innen mittleren Alters, die zur Arbeit fahren. Die Laura-Stellen tauchen nur sporadisch und sehr isoliert in unserer Radinfrastrukturgestaltung auf, wie hier in Lindau oder Eislingen. Viele Radfahrende empfinden das Fahren im Mischverkehr mit Autos als anstrengend und gefährlich. Viele wechseln nicht vom Auto aufs Fahrrad, weil das Radfahren aus der Windschutzperspektive lebensgefährlich aussieht. Deshalb muss man eigene Wege für den Radverkehr anbieten, die außerdem vor unachtsam querenden Autofahrenden geschützt werden.Gut ist nur die Radinfrastruktur, auf der Laura sicher radeln kann. Radwege müssen gebaute Einladungen sein. Selbstverständlich muss es ein durchgängiges Radnetz mit Hauptrouten und kleinen Verästelungen in den Quartieren geben. Die Radinfrastruktur schafft das Angebot und erzeugt so den künftigen Bedarf. Die Bilder in der Broschüre sind beeindruckend (leider aber selten aus der Realität geholt). Und sie bedenkt wirklich alles (einschließlich des Asphaltstreifens für Radfahrende auf einer sonst mit Kopfstein gepflasterten Straße). Nur dass das für uns irgendwie ein Traum bleibt, weil es fast nirgendwo so auf die Straße kommt.
In Stuttgart sind wir noch weit davon entfernt, für Laura zu planen, auch wenn wir immerhin angefangen, für den Radverkehr zu bauen. Wir planen vor allem für routinierte und relativ furchtlose meist männliche Radfahrende. Vor Kreuzungen und Kreisverkehren hören die Radstreifen auf es gibt viel zu viele Fahrradweichen, auf denen der Radverkehr von rechts nach links wechseln soll, während der Autoverkehr sie von links nach rechts überquert. Wir hopsen von Fahrbahn auf Gehwege und von Gehwegen auf Fahrbahnen. Wir sehen uns verschiedenen Ampelsystemen gegenüber. Wir finden uns auf schmalen Schutzstreifen neben geparkten Autos wieder, und Bus, Lkw und Pkw sausen knapp an uns vorbei. Baustellen kappen Radwege unversehens und auf lange Zeit. Radinfrastruktur fehlt an den meisten Stellen völlig oder Weiterführungen der Radrouten sind unklar und kompliziert. Der Mischverkehr auf Tempo-30-Straßen ist überhaupt nicht frei von Konflikten, es wird gehupt oder zu eng überholt. Familien flüchten mit ihrem Kind auf Gehwege, um Autofahrenden Platz zu machen, weil sie Angst haben, in Bedrängnis gebracht zu werden.
Ich hirne und grüble, aber mir fällt keine Stelle in Stuttgarts Straßenverkehr ein, die den Laura-Test bestehen würde. Es mag sie geben, und wenn es sie gibt, bin ich für einen Hinweis dankbar. Und wer an den Schlossgarten denkt, wo Laura radeln kann, bedenke, das ist ein Park, kein Straßenverkehr und die Fußgänger:innen ärgern sich vielfach über die Radfahrenden.
Viel zu oft radeln wir im Pfadfindermodus und wechseln dabei mehrmals Spuren, Infrastrukturen und Ampelsystem. Richtig übel für Laura ist die an einem schlechten Kompromiss gescheiterte Radinfrastruktur in Wangen und Hedelfingen. Immer wieder müsste Laura dort vor dem Kühler von Autofahrenden radeln. Und auch hier, vom Kräherwald zum Birkenkof, wird Laura niemals radeln, denn sie sucht keine Mutproben. Und nicht einmal auf dem separierten Radweg entlang der Holzstraße würden Eltern ihre Laura alleine radeln lassen, denn sie wird an zwei Stellen ständig vom Autoverkehr überquert. Auch unsere Fahrradstraßen, die kontinuierlich neu entstehen, sind nur für ziemlich routinierte und durchsetzungsstarke Radfahrende ein Gewinn. Schon das Radeln mit Kindern ist auf ihnen stressig, und noch nie habe ich dort eine Laura alleine radeln sehen. Denn die Autos beherrschen unsere Fahrradstraßen immer noch: Sie werden dort geparkt oder in zweiter Reihe abgestellt und machen sie eng, Autofahrende durchfahren sie routinemäßig, auch wenn sie nur für Anlieger frei sind, und zu viele Autofahrende missachten ganz grundsätzlich das Fahrverbot in der Eberhardstraße.
In Tübingen ist es anders. Hier wird nicht "vor allem für routinierte und relativ furchtlose meist männliche Radfahrende" geplant und gebaut, sondern für Autofahrerinnen und Autofahrer.
AntwortenLöschenThomas
schöner Artikel und vor allem die Realität! Dem ist tatsächlich so und erfahren durfte ich das persönlich mit meinen Kindern, hier in Stuttgart. Allein bei der Frage von meinem Sohn (11) warum auf der "Fahrradstrasse" Autos fahren dürfen und wieso diese dann einen solchen Namen bekommt, habe ich nach Antworten grübeln müssen die nicht einfach waren und dementsprechend Kindgerecht erklären wollte, so dass er einen ungefähren Einblick bekommt, das er beim fahren auf dieser Straße doch noch mit "Allem" rechnen muss wie sonst auch im normalen Straßenverkehr. Um es kurz zu machen- Stuttgart will gerne aber es reicht noch lange nicht und mit Kompromisse wird es überhaupt nie was werden!
AntwortenLöschen"Stuttgart will gerne"
LöschenDas halte ich für ein Gerücht.
Sehr guter Artikel weil er auch für viele Autofahrerinnen und Autofahrer nachvollziehbar sein wird. Gleichzeitig frage ich mich, wie es eigentlich bei mir selbst war, im Laura-Alter. Tatsächlich gab rs damals praktisch überhaupt keine Fahrradinfrastruktur. Null. Ich bin immer im Autoverkehr gefahren.
AntwortenLöschenNatürlich bin ich nicht in Stuttgart aufgewachsen sondern im Umland. Ganz punktscharf kann ich meine selbstgestellte Frage also nicht beantworten. Aber es gibt doch drei Gedanken, die ich los werden will.
Der erste richtet sich an uns als Radfahrende und Eltern selbst: Wir sind natürlich vorsichtig geworden. Wir tragen selbstverständlich Handschuhe und Helm, undere Kinder - dazu gibt es Studien, meine ich - verlieren kontinuierlich an Radius. Der Umkreis, in dem sich 'Laura' selbständig bewegt, ohne Eltern, wird kliener und kleiner. Die Ursachen sind - soweit ich weiß - vielfältig und haben eher wenig mit Infrastruktur zu tun, dafür viel mit gesamtgesellschaftlichen Phänomenen. Ob man jetzt das Wort von den Helikoptereltern bemühen muss, weiss ich nicht. Aber es gibt eine Idee vor, was ich meine.
Der zweite Gedanke ist sehr viel einfacher und rehabilitiert uns wieder weitgehend. Es gab früher einfach viel weniger Verkehr. Das ist statistisch leicht nachweisbar. Es gab zwar deswegen nicht weniger Unfälle mit Fahrrädern aber das Gefühl bei der Straßenbenutzung war trotzdem entspannter. Es gab einfach sehr viele Straßen mit sehr wenig Verkehr. Das gab zumindest ein Gefühl der Sicherheit. Und es gab auch weitaus weniger Kenntnisse um die Gefahr. Weil es keine sozialen Medien gab. Nachrichten über die Unfallstatistik kamen ab und zu rein und wurden danch wieder verdrängt und vergessen.
Und drittens: das Radfahren war weniger eine Willenserklärung als vielmehr eine Notwendigkeit. viele Frauen hatten z.B. keinen Führerschein und hatten sie ihn doch, dann gab es trotzdem keine zwei Autos in der Familie. Die Familienkutsche stand typischerweise tagsüber beim Arbeitgeber des Hauptverdieners. Dass das weniger Verkehr verursacht, ist dabei gar nicht der Kern: es gab aber mehr gesellschaftliches Amalgam. Die Grenze zwischen Radlerinnen und nivht-Radlern verlief nicht an politischen oder gesellschaflichen Ufern sondern mitten durch jede Familie.
Danke für diese Anmerkungen.
AntwortenLöschenIch bin ein männlicher routinierter Fahrer mittleren Alters, der mit dem Rad zur Arbeit pendelt. Ich muss klar widersprechen: NEIN, für die Bedürfnisse von jemandem wie mir hat Stuttgart nicht geplant und nicht gebaut!
AntwortenLöschenIch möchte langsamere Radfahrer überholen können. Das geht auf keinem Angebotsstreifen und auf fast keinem Radfahrstreifen, wenn ich die Maßstäbe von Gerichtsurteilen anlege.
Ich möchte nicht auf Schrittempo runtergebremst werden durch Gehweg-Radfahrer frei und gemeinsame Rad-und Fußwege , schon gar nicht, wenn der KFZ-Verkehr auf gemeinsam genutzten Fahrbahnen nicht auf meine Geschwindigkeit runtergebremst wird. Der ist lebensgefährlich, ich nicht.
Ich will keine Bordsteinkanten, Umlaufsperren, Poller, Ampelmasten und Längsfugen von Gullideckeln auf Kreuzungen in meiner Fahrlinie.
Ich möchte nicht im Autostau feststecken, wo ein Autofahrer drei mal so viel sitlichen Platz beansprucht wie ich und ich nicht überholen kann.
Ich will mich nicht zwischen lebensgefährlich agierenden Autofahrern durchwurschteln müssen.
Ich möchte auf meinen Vorrangstraßen die vorgesehenen 35km/h fahren können.
Liebe mitlesenden Verwaltungsbeamte und -Angestellte, liebe ehrenamtliche und Berufspolitiker, ich möchte von Euch und Ihnen mit meinem 100-fach umweltfreundlicheren Verkehrsmittel als MIV (und teilweise ÖPNV) wenigstens genauso hofiert werden wie die Autofahrer - wenn nicht mehr! Gebt dem Radverkehr wenn nicht gar die Hälfte, dann wenigstens ein Drittel der asphaltierten Verkehrsfläche!
Ja die Bedingungen fürs Radfahren, speziell auch für Kinder sind vielfach schlecht.
AntwortenLöschenEin paar Bemerkungen dazu.
Laura ist 11 Jahre alt.
Sie wird, sofern kein europäischer Krieg oder Weltkrieg ausbricht, statistisch knapp das Jahr 2100 erleben.können und als alte Dame in einer Welt der Flutkatastrophen, globaler periodischer Dürren, und regelmäßiger Hitzewellen von über 40°C ihr Alter verbringen müssen. Sie wird sich überlegen müssen, ob sie selbst noch eine Generation gebären will, die das Jahr 2130 erleben kann, also im Alter ggf. Temperaturen von vielleicht >45°C ausgesetzt ist, usw usw usw
Von den vielen Millionen Lauras des globalen Südens, die dann per militärischer Gewalt an den NATO-Draht-Zäunen des noch etwas kühleren industrialisierten Nordens ihr Leben verlieren werden mal ganz zu schweigen.
Ein kleiner aber notwendiger Schritt für eine lebenswerte Zukunft der vielen Lauras und ihrer Kindern würde es sein, endlich das Konzept einer 'Autogerechten Radverkehrsförderung', wie sie in der im Artikel verlinkten Broschüre des FDP-Verkehrsministeriums propagiert wird, aufzugeben zugunsten einer PUSH(!) & pull Strategie mit klarer und quantifizierter Zielsetzung der Reduktion des Autoverkehrs.
In der Broschüre des Wissing-Autoministeriums ist, abgesehen von partieller Parkraumreduktion zugunsten von Radwegen (was dann in der Praxis oft genug lediglich eine Verlagerung darstellt, womöglich hinein in zusätzlich gebaute Quartiersparkhäuser), nicht eine einzige Maßnahme aufgeführt, die Laura und ihren Kindern eine verträgliche Zukunft mit genügend stark gedämpftem Klimaumbruch bescheren kann. Im Gegenteil.
Ausgerechnet Kinder für die Version einer autogerechten Radverkehrsförderung zu missbrauchen ist moralisch höchst bedenklich.
Gleichzeitig gilt natürlich, dass die vielen Lauras und Leons in Deutschland oft genug erbärmliche Verhältnisse für's Radfahren in einem von 50mio. kindermordenden Autos verstopften Land vorfinden.
Das muss geändert werden, und die Niederlande (Bezugspunkt der Wissing Broschüre) haben da in Bezug auf subjektive Sicherheit und in Bezug auf verstärkten Rad-Schüler:innenverkehr gegenüber Deutschland klar die Nase vorn.
In der Gesamtbetrachtung sollten wir aber nicht den Wissings und Wilders das Feld überlassen und uns mit immer weiter steigendem Autoverkehr abfinden.
Die Gefahr von tödlichen Unfällen besteht für Kinder in Deutschland übrigens nicht primär auf dem Fahrrad, sondern als Mitfahrer im Auto.
Zahlen?
In 2021 gab es 49 durch Verkehrsunfälle getötete Kinder. Darunter:
19 in KFZ
19 zu Fuß
8 mit dem Fahrrad, darunter 8 Jungen und Null Lauras
Insofern ist es auch unter diesem Gesichtspunkt sehr kontraproduktiv ausgerechnet beim Radfahren das Kriterium der 'Sicherheit' in den Fokus zu rücken.
Sachlich wäre es angebracht stattdessen die Eltern vor den tödlichen Gefahren der Mitnahme von Kindern im Auto zu warnen und dafür einzutreten, dass endlich der vielfach tödliche Autoverkehr wirksam reduziert wird.
Von den gerade für Kinder extrem gefährlichen Auswirkungen des Automobiliismus im Bereich Abgase/Feinstaub (Allergien, Autoimmunerkrankungen, reduzierter IQ, Anbahnung von späteren Krankheiten, etc.etc.) und Lärm und Flächenusurpation mal ganz abgesehen.
Ich denke, in der Gesamtbetrachtung sollten wir uns künftig verstärkt für umwelt- und klimagerechte inklusive Verkehrspolitik einsetzen, statt unreflektiert den autogerechten Rad-Separationskonzepten der Wissings und Wilders hinterherzulaufen.
Laura braucht eine überlebbare und lebenswerte Zukunft.
Hier, und im globalen Süden.
Alfons Krückmann
"den autogerechten Rad-Separationskonzepten der Wissings und Wilders"
LöschenInwiefern ist Separierung denn ein rechtsextremes Projekt ?