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5. Juni 2024

Langsame Autos und rasende Räder

Geschwindigkeiten richtig einzuschätzen, gelingt den Wenigsten. Und das hat einen physiologischen und einen psychologischen Grund. 

Die Geschwindigkeiten Fahrrädern werden meist überschätzt, die von Autos oft unterschätzt, die von Stadtbahnen gar nicht wahrgenommen. 

Die meisten Jogger:innen machen die Erfahrung, dass Fußgänger:innen viel zu spät reagieren und beiseite treten. Sie halten Joggende für viel langsamer als sie sind. Denn optisch sehen sie aus wie sie selbst, wie Fußgänger:innen, die sich immer in Schrittgeschwindigkeit bewegen. Die Geschwindigkeit von Radfahrenden wird dagegen zum einen unterschätzt, zum anderen überschätzt. Viele Radfahrende machen die Erfahrung, dass Autofahrende glauben, sie seien viel langsamer als sie sind, und noch vor ihnen links abbiegen oder sie überholen, um gleich darauf zu bremsen und abzubiegen, was jeweils ein Bremsmanöver auf dem Fahrrad nötig macht. Andererseits halten viele Fußgänger:innen Radfahrende für viel schneller als sie fahren, sie scheinen zu rasen, obgleich sie gerade mal 20 bis 25 km/h schnell sind, was man bei einem Auto für langsam halten würde. 

Wie nehmen wir überhaupt Geschwindigkeiten wahr?

Zukunft Mobilität berichtet über eine Untersuchung über die Geschwindigkeitswahrnehmung von Kindern, aus der hervorgeht, dass Kinder Geschwindigkeiten über 30 km/h nicht mehr einschätzen können. Grundsätzlich lernen wir, Geschwindigkeiten herannahender Autos daran abzuschätzen, wie schnell sie größer werden. Sie vergrößern sich linear (wenn sie ihre Geschwindigkeit beibehalten). Dabei gibt es zwei Schwierigkeiten: Ein Auto ganz weit weg ist klein und die Vergrößerungsrate ist auch klein (weit entfernte Autos scheinen förmlich zu stehen), je näher ein Auto ist, desto deutlicher erkennen wir, dass es beständig größer wird. Zum anderen scheinen für uns schnelle Autos überhaupt schwer einzuschätzen zu sein. Erwachsene können die Geschwindigkeit von Autos bis 80 km/h noch ganz gut einschätzen, die eines das mit 200 km/h kommt, aber kaum noch.  

Bei Kindern kommt noch etwas hinzu, was mit dem sich noch nicht voll entwickelten räumlichen Sehen zu tun hat: Bis zu einem Alter von 9 Jahren sieht ein Kind ein großes Auto (Lkw) immer näher als einen kleinen Wagen, der genauso weit entfernt ist. Zwischen 30 km/h und 50 km/h können sie außerdem kaum unterscheiden. Sie glauben, dass ein Fahrzeug, das mit 50 bis 60 km/h kommt, mehr Zeit braucht, als es tatsächlich braucht, bis es da ist. Gefährlich wird die Fehleinschätzung, wenn ein schnelleres Auto nur noch 5 Sekunden entfernt ist, denn Kinder brauchen etwa 5 Sekunden, um eine normalbreite Straße zu überqueren. Kleine Kinder (bis 4 Jahre) können durch einfaches Hinsehen nicht einmal ein fahrendes von einem stehenden Auto unterscheiden, geschweige denn, eine Geschwindigkeit einschätzen. Der wirksamste Schutz für Kinder ist deshalb Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in einer Stadt. Außerdem ist es wichtig, dass Kinder nicht ständig gefahren werden, sondern auf eigenen Füßen (oder einem Fahrrad) durch den Straßenverkehr bewegen (mit Erwachsenenbegleitung zunächst), damit sich ihr räumliches Sehen entwickelt und sie Erfahrungen im Einschätzen von Verkehrssituationen sammeln. (Wie Kinder Radfahren erklärt eine Psychologin dem ADFC hier.) 

Dass es Autofahrenden schwer fällt, die Geschwindigkeit von uns Radfahrenden einzuschätzen, liegt zum einen vermutlich daran, dass wir optisch schmaler sind als Autos und uns im Verhältnis weniger stark vergrößern, wenn wir herankommen, wir erscheinen immer weiter weg und langsamer, als wir sind. Das gilt auch für herannahende Motorräder, die werden häufig zu spät erkannt, weil sie schmal sind und deshalb weiter weg erscheinen als sie sind, sie kommen aber mit hoher Geschwindigkeit. Zum andern liegt das vermutlich auch daran, dass Autofahrende sich nicht auf uns fokussieren, sondern uns oftmals nur am Rand (im Augenwinkel) wahrnehmen, etwa auf seitlichen Radstreifen oder Radwegen. Und sobald sie vorbeigefahren sind und uns nicht mehr sehen, sind wir völlig vergessen, scheinen nicht mehr existent, haben also auch keine Geschwindigkeit mehr (dabei fahren wir im Stadtverkehr oftmals nur unwesentlich langsamer). Und dann biegt ein Autofahrer rechts ab und kracht mit dem Radfahrer auf dem Radweg zusammen, den er/sie "nicht gesehen" hat. 

Ein schwer erklärbares Phänomen ist, dass viele Autofahrende (aber auch Radfahrende und Fußgänger:innen) Stadtbahnen nicht sehen oder ihre Geschwindigkeit drastisch unterschätzten. Beinahe jede Woche kracht in Stuttgart ein Autofahrer oder eine Fahrerin beim illegalen Abbiegen über Gleise in eine Stadtbahn. Und diese Frau (Foto) wäre 2018 auch beinahe vor die Stadtbahn geradelt, weil sie nicht bremsen wollte, sondern glaubte, sie käme noch vor der Bahn durch, obgleich die Stadtbahn bimmelnd heranfuhr. Dabei sind Stadtbahnen groß, sie müssten uns also immer als nah erscheinen und alarmieren. Wir neigen allerdings dazu, sporadische Erscheinungen auszublenden. Stadtbahnen sind zwar ständig unterwegs, aber sie kreuzen unsere Fahrwege selten. Bahnen kommen meistens gerade nicht, wenn ich die Gleise überquere. Aber manchmal halt doch. Wir sehen aber nur, was wir erwarten. Und wir sind von Kindheit an extrem auf den Autoverkehr konditioniert und schätzen ihn unbewusst ständig ein, alles andere blenden wir weitgehend aus. 

Übrigens sollten wir Radfahrende unseren Anhalteweg auch nicht unterschätzen. Wenn wir langsam, also mit 10 km/h fahren, brauchen wir etwas über 5 Meter, bevor wir reagiert haben. Man nimmt bis 2 (!) Sekunden als Reaktionszeit an (individuell und je Situation ist das aber sehr unterschiedlich). Dann stehen wir aber fast sofort. Wenn wir mit 20 km/h zu dicht an geparkten Autos entlang radeln und eine Autotür geht plötzlich auf, ist es fast immer zu spät. Wir brauchen (wenn wir nicht jung und sehr reaktionsschnell sind) über 10 Meter, bevor wir reagieren (also zwei Autolängen!) und stehen erst nach ungefähr 14 Metern. Bei 25 km/h brauchen wir 17 Meter, bevor wir stehen. 

Bei der Landesgartenschau in Wangen im Allgäu habe ich im Pavillon der Verkehrswacht bei einem Reaktionsprogramm mitgemacht: Man sitzt auf dem stehenden Fahrrad und während man treppelt, fährt man auf dem Bildschirm eine Straße entlang. Getestet wird die Reaktionszeit und der Bremsweg bei plötzlichen Ereignissen. In diesem Fall radelte ich mit 17 km/h auf einer Vorrangstraße, von rechts kam ein Auto, das anhielt, ein zweites fuhr links an ihm vorbei und hielt nicht: Ich also Vollbremsung. Dass die Reaktionszeit in diesem Fall nur 0,43 Sekunden betrug, lag daran, dass ich vorhersah, dass der virtuelle Autofahrer nicht anhalten würde (es war also reine Erfahrung). Während der 0,43 Sekunden fuhr ich noch 2,14 Meter, der Bremsweg betrug 1,60 Meter, der gesamte Anhalteweg 3,74 Meter. Also etwas mehr als die übliche Spurbreite einer Fahrbahn. 


4 Kommentare:

  1. Warum sollten Fußgänger:innen beiseite treten? Weil der Schnellere Vorrang hat? Das ist genau dieselbe Fehleinschätzung wie bei Radfahrern, die auf der Infrastruktur von Fußgängern unterwegs sind oder Autofahrern vs. Radfahrern auf der Fahrbahn. In den Köpfen regiert das Recht des Stärkeren.

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    1. Nennt sich gegenseitige Rücksichtnahme und ist in §1 der StVO geregelt. In Fußgänger Bereichen ist aggressives wegklingeln von Fußgängern nicht gestattet, aber wenn der Fußgänger den anderen Verkehrsteilnehmer war nimmt darf er ihn auch nicht ohne Not blockieren. Das geht dann irgendwann Richtung Nötigung.

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    2. In dem Beispiel mit dem Jogger geht es um Fußgänger:innen unter sich. Die sind ja manchmal auch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs. Und es fällt ihnen schwer, die Geschwindigkeit von Jogger:innen einzuschätzen (die dann übrigens die Spaziergängergruppe durchs Grün umrunden). Die Frage ist immer, weicht man schnelleren Fußgänger:innen aus, lässt man sie vorbei, oder nicht? Die meisten wollen sogar ausweichen, unterschätzen aber eben die Geschwindigkeit.

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  2. Jörg
    Das Geschwindigkeiten nicht richtig eingeschätzt werden können spricht für T30 in geschlossenen Ortschaften. Dann weiß man wenn 30 m frei sind reicht es knapp über die Straße zu gehen. Bei 50 km/h sind schon 80 m bis 100 m freie Meter nötig. Das kann eigentlich niemand sicher überblicken.

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