Seiten

4. August 2025

Wozu Verkehrsregeln und für wen?

Eltern sind gehalten und bemühen sich, ihren Kindern die Grundlagen des Zusammenlebens beizubringen, die auf Regeln basieren, an die man sich halten soll. Und dann fragt das Kind: Wieso parkt der da? Das darf der doch gar nicht. 

Der Straßenverkehr ist ein detailreich geregelter Raum. Gleichzeitig gibt es gerade hier erstaunlich viele rechtsfreie Räume, also solche, wo die Regel- und Gesetzesverstöße nicht oder nur sehr selten geahndet werden, beispielsweise die Alte Weinsteige, die man mit dem Auto nicht runter fahren darf, einige (eigentlich fast alle) Fußgängerzonen und Gehwege, wo Autos reinfahren oder parken. Kinder auf Schulwegen erleben vermutlich täglich Regelverstöße durch Erwachsene, die ihre Autos an Gehwegecken abstellen, die am Zebrastreifen nicht anhalten, die ihnen beim Abbiegen den Vorrang beim Queren nehmen, die aus Einfahrten rausfahren, ohne auf Fußgänger:innen zu achten, Und zuweilen sind es auch ihre eigenen Eltern, die sie mit dem Auto vor die Schule bringen und halten, wo sie nicht halten dürfen. 

Im Straßenverkehr sind wir unseren Kindern oftmals schlechte Vorbilder: noch schnell bei schon Rot fahren, mal kurz auf den Gehweg hochparken, das Auto in zweier Reihe abstellen, weil man zur Apotheke muss, um eine Absperrung mit Durchfahrt-verboten-Schild herumfahren und so weiter. Wobei wir als Autofahrende meistens die Regeln einhalten, die dazu dienen, Zusammenstöße mit anderen Autofahrenden zu vermeiden (rote Ampeln, Einbahnstraßen) oder andere Autofahrende nicht zu blockieren, nicht aber die, die zum Schutz anderer vor unseren Autos aufgestellt wurden (zu schnell fahren, Halte- und Parkverbote auf Geh- und Radwegen, Überholverbote von Radfahrenden). 

Auch viele Radfahrende verhalten sich nicht vorbildlich.

Allerdings haben viele Kinder und Jugendliche bereits erlebt, dass man mit dem Fahrrad auf einem Gehweg sicherer und unkomplizierter fährt als auf einer Fahrbahn. Manche sind auf der Fahrbahn schon in eine sich plötzlich öffnende Fahrertür eines Autos hineingerasselt. Oftmals wird der Schulradweg offiziell auf Gehwege verlegt, die dann freigegeben werden, was den Kindern und Jugendlichen zeigt: Auf der Fahrbahn radeln ist zu gefährlich für euch. Viele Kinder und Jugendliche haben auch beobachtet, wie ein Radfahrer an einer Kreuzung das Rotlicht missachtet und drüber fährt. Das ist eindeutig regelwidrig. Einige dürften selbst schon minutenlang an einer roten Fußgänger-/Radampel gestanden und sich überlegt haben, ob sie rüber radeln oder rüber gehen, weil kein Auto kommt. 

Es gibt zwei Sorten von Regeln

Auto parkt auf Fußgängerfurt, Fußgänger gehen bei Rot
Wenn Kinder mit ihren Eltern zu Fuß unterwegs sind, erleben sie unter Umständen selbst, dass bestimmte Regeln blödsinnig erscheinen und deshalb gebrochen werden. Beispielsweise gehen Fußgänger:innen auf der Fahrbahn um eine den Gehweg okkupierende Baustellenabsperrung herum, statt auf den gegenüberliegenden Gehweg zu wechseln (auf der Fahrbahn gehen ist verboten), sie gehen bei roter Fußgängerampel rüber, weil kein Auto kommt, sie aber trotzdem lange herumstehen müssen (verboten), sie joggen auf der Fahrradstraße, weil der Gehweg zu schmal ist, oder auf dem Radweg (verboten). Das sind Regelverletzungen derer, die in der Hackordnung unseres Straßenverkehrs ganz unten stehen (immer warten müssen, blockierte Gehwege vor sich sehen), und die sich das Recht herausnehmen, selber zu beurteilen, ob sie in Gefahr sind, wenn sie eine Regel brechen, die zu ihrem Schutz aufgestellt wurde, oder nicht. Sie selbst gefährden damit in den allermeisten Fällen keine anderen Menschen. 

Ich war mal mit einem Briten zu Fuß unterwegs, der sich amüsierte, weil ich wegen roter Fußgängerampel stehen blieb, obgleich weit und breit kein Auto zu sehen war. "Strammstehen an der Bordsteinkante" hat das Bobby Rafiq in einer taz-Kolumne genannt. Für ihn wirkt das ordentliche Warten von Fußgänger:innen an roten Ampeln befremdlich, er nennt es Konformität und fragt sich, ob sich da "Züge eines autoritären Charakters" zeigten. Vor allem dann, wenn die Fußgänger:innen, die trotz leerer Straße stehen bleiben, ihm tadelnd und kopfschüttelnd hinterher gucken. 

Ich denke, eher nicht. Allerdings beobachte ich, dass wir es nicht leiden können, wenn andere Regeln verletzen, an die wir uns selber gerade halten. Das mag ein Charakterzug sein, von dem ich aber nicht sagen kann, ob ein deutscher, europäischer oder allgemein menschlicher. Wenn sich andere Freiheiten  herauszunehmen, wie wir uns selber nicht nehmen, erzeugt jedenfalls bei sehr vielen Menschen Zorn und Erziehungsernst. 

Warum aber sollen wir als Fußgänger:innen oder Radfahrende an roten Ampeln warten, wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist? Die rote Fußgängerampel dient doch nur dazu, uns eine Querung zu ermöglichen, wenn der Autoverkehr uns anders keine Lücke lässt. Und sie wird zur Schikane, wenn wir zwei Minuten warten, ohne dass irgendein Auto kommt, das uns gefährden könnte. Das Risiko, dass wir dann eingehen, ist gut kalkulierbar und sehr gering. Denn wir alle haben im Lauf unseres Erwachsenwerdens gelernt, den Autoverkrehr sehr gut einzuschätzen. An manchen Fußgängerampeln werden Erwachsene ermahnt, den Kindern ein Vorbild zu sein und bei Rot zu stehen und erst bei Grün zu gehen. Das scheint das einzig sinnvolle Argument zu sein. Auch der taz-Kolumnist bliebt stehen, wenn Kinder in der Nähe sind. Denn Kinder können Risiken schlechter abschätzen als Erwachsene. 

Sie werden aber lernen, dass es zwei Sorten von Regeln gibt: Diejenigen zum Schutz anderer und diejenigen zum eigenen Schutz. Die Gesellschaft setzt denen Regeln vor, die durch ihr Verhalten anderen gefährlich werden können (mit schnellen, schweren Autos, aber auch durch Betrug, Lügen, Hetze und Gewalttätigkeit). Und sie stellt für die Leute Regeln auf, die sich durch ihr Verhalten selbst gefährden könnten (darunter Badeverbote,  Zutrittsverbote und Verkehrsregeln für Fußgänger:innen). Es sind sehr wenige, denn unsere Freiheit soll so wenig wie möglich eingeschränkt werden. Bei den Selbstschutzregeln wollen viele von uns die Freiheit haben, selber zu beurteilen, ob wir in Gefahr sind oder nicht, so wie wir das beim Rauchen, Alkohol trinken, viel Zucker Essen, Bergtouren machen oder Paddeln und Schwimmen auch tun dürfen. In vielen Lebensbereichen gesteht man uns die Freiheit zu, uns für ein Verhalten zu entscheiden, das Gefahren für unser Leib und Leben birgt. Hingegen werden Taten juristisch verfolgt, die Leib und Leben von anderen gefährden. 

Aus gutem Grund kassiert die Polizei auch nur fünf Euro, sollte sie einen Rotlicht-Fußgänger erwischen, während Rotlichtverstöße von Auto- und Radfahrenden teuer sind sogar einen Punkt in Flensburg bedeuten. Wobei Rotlichtverstöße durch Autofahrende gravierende Folgen für Menschen zu Fuß und auf Fahrrädern haben können, die von Radfahrenden aber weit weniger und vor allem sehr viel seltener folgenschwer sind. 

Unsere Kinder werden ziemlich schnell lernen, dass es Regeln gibt, die sie vor Gefahren schützen. Und sie werden sich die Freiheit nehmen, sie zu brechen, wenn sie sinnlos erscheinen. Sie lernen aber auch, dass man im Straßenverkehr auch die Regeln meist ungestraft brechen kann, die dazu da sind, andere vor den Gefahren schneller Fahrzeuge zu schützen. Wenn eine Gesellschaft das nicht will, müsste sie fordern und damit einverstanden sein, dass Regelverstöße von Verkehrsteilnehmenden mit gefährlichen Fahrzeugen (Autos), konsequenter als derzeit geahndet werden, vor allem die, die massenhaft begangen werden: zu schnelles Fahren, das Befahren verbotener Straßen und verbotenes Überholen. 

Wobei ich alle, die jetzt wieder in Versuchung sind, mir zu erzählen, wir gefärlich Radfahernde seien, die sich nicht an Regeln halten, darauf hingewiesen möchte, dass es kein Radfahrer dieser Erde schafft, zwei Menschen auf einem E-Scooter zu töten und einen dritten lebensgefährlich zu verletzen (ohne auch nur selbst verletzt werden), so geschehen in Frankfurt. Das schafft nur ein Mensch mit einem Auto. Der kann viele töten, und leider geschieht das immer wieder. 

 


5 Kommentare:

  1. Wie alle Regeln des Zusammenlebens und besonders die offizielle Regelwerke sollten die Regeln des Straßenverkehrs eigentlich dem Allgemeinwohl dienen.
    Aber schon die Geschichte der StVO zeigt, dass mit ihr was schief gelaufen ist. Denn eine StVO wurde erst nötig, als Kraftfahrzeuge sich anschickten, das Straßengeschehen so eindeutig zu dominieren und damit andere zu gefährden, dass man agieren musste.
    Aber statt nun die Gefahr an der Quelle zu beseitigen, oder zumindest den motorisierten Verkehr so einzuschränken, dass er nicht mehr gefährden konnte, hat man etwas ganz anderes getan, nämlich in der StVO das Recht des Stärkeren zu kodifizieren. Das ist, wenn man genauer hinschaut, auch in anderen Rechtsvorschriften, dem BGB etwa, vielfach der Fall, aber kaum wo so eindeutig, wie in der StVO. Diese regelt das Verhalten der Stärkeren unter sich. Die Schwächeren werden benachteiligt, an den Rand gedrängt, diskriminiert.

    Dazu kommt nun aber noch die zunehmende Nicht-Verfolgung von Zuwiderhandlung der Stärkeren gegenüber den Schwächeren. Schon von Haus aus werden die Motorisierten nicht proportional zum Gefährdungspotential eingeschränkt und das Strafmaß entsprechend geregelt, bei der Verfolgung wird ebenfalls in der Regel weggeschaut, kleingeredet, bagatellisiert.
    Schon die Tatsache, dass man versucht, wie in einem Kommentar unter dem letzten Artikel,cden Rotlichtverstoß eines Fußgängers oder Radfahrers gegen den eines Motorisierten aufzurechnen, zeigt schon, wie sehr gerade im Straßenverkehr jedes Gefühl für Proportionalität abhanden gekommen ist.

    Kinder sind seh feinfühlig, und haben im Grunde ein gutes Rechtsempfinden. Aber von klein auf lernen sie, dass Gerechtigkeit im Straßenverkehr nicht existiert.

    AntwortenLöschen
  2. Regeln, die vor den Gefahren schneller Fahrzeuge schützen, sind reine Täter-Opfer-Umkehr, es sei denn, die Fahrzeuge fahren auf einem eigenen Fahrweg, wie zB. die Eisenbahn. Der öffentliche Straßenraum wird aber von vielen unterschiedlichen Verkehrsteilnehmern benutzt - und wie gut das funktioniert, zeigen alte Filmaufnahmen aus zB. den 1920er Jahren, in denen Fußgänger und Fahrzeuge mit derselben Geschwindigkeit kreuz und quer durcheinander wuseln. Die Nazis und heute die Automobil-Lobby haben das zugunsten der Kraftfahrer abgeschafft. Auf einer Critical-Mass-Rundfahrt kann man heute noch erleben, wie gut Fahrräder und Autos zusammen auf den Fahrbahnen fahren können, wenn ihre Geschwindigkeiten gleich sind.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Schon im Jahr 1909 schrieb Christian Morgenstern das Gedicht "Die unmögliche Tatsache. Das beginnt so:

      Palmström, etwas schon an Jahren,
      wird an einer Straßenbeuge
      und von einem Kraftfahrzeuge
      überfahren.

      Ganz so gut wie in deiner Vorstellung scheint das kreuz und quer durcheinander wuseln der verschiedenen Verkehrsarten wohl doch nicht funktioniert zu haben.

      Und warum müssen eigentlich für jede unangenehme politische Meinung die Nazis herhalten? Nazis, das waren früher einmal Menschen, die industrialisierten Massenmord begangen haben.

      Andere Länder ohne Nazivergangenheit haben ähnliche Bevorzugungen des Kraftverkehrs. Die Tatsache, dass die Nazis den Kraftverkehr bevorzugt haben sagt nichts darüber aus, ob dieser wirklich bevorzugt werden sollte oder nicht. Auch die Tatsache, dass Hitler Vegetarier war, sagt nichts darüber aus, ob das diese Ernährungsweise bevorzugt werden sollte.

      Löschen
  3. Da der Großteil der Verkehrsteilnehmer auch Auto fährt ist ihm diese Einseitigkeit der Regeln nicht als Benachteiligung oder Ungerechtigkeit bewusst. Und da seit Jahrzehnten das Recht der Stärkeren in allen Lebensbereichen als richtig und quasi natürlich propagiert wird, sind nur wenige Menschen zu dieser Reflektion über das System bereit bzw. befähigt. Kurz: es wird sich nix ändern. Wer kann, der macht da das zugrundeliegende System dies als üblich toleriert.
    Heute kam mir ein Elektroscooterfahrer auf dem Gehweg entgegen. Ich wich nicht aus und sagte ihm er dürfe nicht auf dem Gehweg fahren. Seine Antwort: aber auf der Straße ist es viel zu gefährlich! Mit Sicherheit gegen die meisten Leute auf dem Gehweg zur Seite, wenn ein Fahrzeug mit Schwung auf sie zusteuert und "dienen" daher zum Eigenschutz dem System und verfestigen es.

    AntwortenLöschen
  4. Endlich unternimmt die Stadt etwas gegen die Falschparker am Wochenende
    -- https://www.stuttgart.de/service/aktuelle-meldungen/2025/august/bilanz-der-schwerpunkt-aktion-am-freitagabend-gegen-falschparker-verkehrsueberwachung-schleppt-in-der-innenstadt-24-fahrzeuge-ab
    die vor allem Freitags und Samstags abends and den unmöglichsten Stellen stehen. Das war jetzt aber dringend nötig, und sollte auch so weiter geführt werden. Am Fr und Sa abend gibt es dann anscheinend keine Hemmungen bei den Autofahrenden, ihr Gefährt illegal abzustellen.

    AntwortenLöschen