Diese Frage stellen wir uns seit 2019, als der Radentscheid in einen Gemeinderatsbeschluss umgewandelt wurde, der festlegte, dass Stuttgart eine Fahrradstadt werden soll.
Dazu gehören schnelle Maßnahmen, Qualitätsstandards und viele Fahrradstraßen und ein Mobilitätsausschuss im Gemeinderat, an dem auch sachkundige Einwohner:innen, also Radfahrende teilnehmen. Die Stuttgarter Zeitung hat Mitte November die damaligen Atkeur:innen des Zweirats gefragt, was sie über Stuttgarts Fahrradpolitik denken. Ihre Bilanz ist nicht gut. Es geht zu langsam. Und immer wieder werden in den Bezirksbeiräten und bei den Debatten Autoparkplätze gegen geplante Radwege ausgespielt.
Gleichzeitig ist im Amtsblatt eine Meldung erschienen, wonach Stuttgart im Oktober zusammen mit 31 weiteren Kommunen von der Arbeitsgemeinschaft fahrrad- und fußverkehrsfreundlicher Kommunen in Baden-Württemberg (AGFK) für ihre "hohen Standards bei der Planung von Rad- und Fußverkehrsinfrastruktur" ausgezeichnet wurde. Aber wofür eigentlich genau? Diese Frage hat das Dietrich Heißenbüttel im Wochenmagazin Kontext in einem langen Artikel aufgenommen, in dem auch ich interviewt wurde.
Kurzum: Im Planen sind wir gut, in der Umsetzung sind wir nicht so gut.
Die Stuttgarter Zeitung nennt als Beispiel die geplante Bus- und Radspur auf der Hauptradroute 1 unter der Cannstatter Eisenbahnbrücke hindurch. Sie hätte jetzt im Herbst angelegt werden sollen, aber noch sieht man nichts, und es ist die Rede davon, dass sie erst im Frühjahr kommenden Jahres kommt. Und immer noch haben Radfahrende Sorgen, dass die Radfahrstreifen in Kaltental entlang der Böblinger Straße ab Waldeck aufwärts dem lauten Parkplatzhunger der Anwohnenden wieder zum Opfer fallen könnten, denn sie wurden als Pop-up-Radstreifen schnell (!) eingerichtet, weil Autofahrende die Radfahrenden auf dem schmalen Schutzstreifen massiv zu eng überholten und es viele Konflikte gab.Woran es scheitert, ist nicht immer so leicht auszumachen. Mal fehlen dem Tiefbauamt die Baufirmen, und angesichts der sehr vielen Baustellen in der Stadt erscheint das plausibel. Mal drehen Pläne viele Kreise durch Bezirksbeiräte und Gemeinderatsausschüsse, weil es um wegfallende Parkplätze geht. Manchmal dauert das so lange, dass das Zeitfenster für einen Radstreifen im Zuge einer nötigen Fahrbahnerneuerung sich dann wieder schließt. Das war zum Beispiel in der Lenzhalde der Fall. Manchmal formiert sich Widerstand derer, die zwar nichts gegen den Radverkehr haben, aber keine Fahrradstraße oder keinen Radfahrstreifen vor ihrer Haustür haben wollen. Es wird aber auch mehr gebaut als wir denken. Die Fahrradstraßen auf der Hauptradroute 1 zwischen Stadtmitte und Kaltental schreiten voran, auch in anderen Stadtteilen wurden Fahrradstraßen eingerichtet. Die meisten Pläne sind auch gut, und es gibt etliche Projekte, die auf Umsetzung warten. Das habe ich vor anderthalb Jahren mal bilanziert.
Was wir jedoch vor allem auf unseren Straßen sehen, sind Unmengen Autos, zugeparkte Gehwege, Fußwege, auf denen E-Roller und E-Scooter herumstehen in einem, wie ich finde, ungeheuren Ausmaß, und häkelige und schwierige Stellen, wie etwa die Überfahrt der Hauptradroute 1 zwischen Tübinger- und Eberhardstraße über die Kreuzung am Tagblattturm. Das geht irgendwie - routinierte Radler:innen bewältigen das, wenn auch hin und wieder fluchend -, ist aber nichts für die elfjährige Laura. Denn diese Querung ist jetzt noch kritischer geworden, weil dem Radverkehr (zugunsten des Fußverkehrs) Platz weggenommen wurde. Den Autoverkehr. der von rechts von den Parkhäusern kommt, sieht man erst sehr spät, und wenn wir anhalten müssen, dann genau auf der Fahrspur, auf der die Autofahrenden, die gerade Grün bekommen haben, eigentlich nach rechts abbiegen und weiterfahren wollen. Wir stoppen sie. Warum dort die Vorfahrt nicht umdreht (Vorrang für die Fahrradroute und den Bus und Vorfahrt-achten für den Autoverkehr zu und von den Parkhäusern), bleibt uns Radfahrenden eh ein Rätsel.Die Außengastro vor der Oper dieses und letztes Jahr verengt im Sommer die Passage auf der Hauptradroute 1, und die Forderung, Radfahrende endlich und zügig über die B14 zu führen, die sechs bis acht Spuren hat, auf denen Autos fahren, wurde vom Ordnungsbürgermeister rundheraus abgelehnt. Die Situation am Flora&Fauna ist gruselig. Auf der eigentlich autofreien Eberhardstraße gehen Fußgänger:innen spazieren, weil sie Flächen, wo keine (tatsächlich nur wenige) Autos fahren, als Fußgängerzonen betrachten. An der Fahrradampel Waldeck warten man lang auf Grün und die Streckenführung für den Radverkehr ist nicht praktikabel, weil ein Pfosten auf dem Radweg steht, und so weiter. Wir nehmen täglich die vielen kleinen Hindernisse wahr, die langen Wartezeiten an zu vielen Ampeln, die Radstreifen, die plötzlich aufhören, die fehlenden Radinfrastrukturen für Wege von West nach Ost oder West nach Süd oder fehlende Querungen der langen Königstraße. Hinzu kommen die Baustellen, die plötzlich und mit teils guter, teils aber mangelhafter Beschilderung aufwarten und uns zu teils steilen und weiten Umwegen zwingen. Alle, die regelmäßig Alltagswege mit dem Fahrrad zurücklegen, stöhnen an immer denselben Stellen ihres Weges: Übles Pflaster, plötzlich nur noch Gehweg mit Radfreigabe, Strecken im Mischverkehr mit Fußgänger:innen, langwierige Ampeln, unklare Linksabbiegesituationen, Schutzstreifen in der Dooringzone, jetzt im Winter ab 16 Uhr stockfinstere Strecken, für die es keine Alternative gibt.
Dazu kommen dann noch die Konflikte mit Autofahrenden, die auf Tempo-30-Straßen unbedingt überholen müssen, obgleich der Platz nicht reicht, die an Ampeln unbedingt auf den Aufstellflächen für den Radverkehr stehen müssen, und der Lieferverkehr, der Rad- und Gehwege zustellt (weil man für ihn keine Parkplätze einrichtet). Dieser Postbote auf dem Foto hat nicht nur den Radfahrenstreifen zugestellt, sondern auch den Gehweg, der unpassierbar geworden ist, weil da auch noch Baustellenschilder herumstehen. Gestresste Autofahrende stressen die Leute auf Fahrrädern, die flüchten viel zu oft auf Gehwege und stressen dort die Fußgänger:innen.Ich finde ja, man kann ziemlich gut in Stuttgart Radfahren. Und viel besser als vor 15 Jahren. Aber Politik und Verwaltung kommen dem stetig wachsenden Radverkehr nicht mehr hinterher. Sie schaffen es nicht, ihn in geordnete Bahnen zu lenken. Dazu braucht man nämlich Radverkehrsbahnen, getrennt vom Fußverkehr und getrennt vom Autoverkehr. An vielen Stellen wirkt der Radverkehr bei uns chaotisch und stresst Fußgänger:innen. Schon 2017 habe ich schob mal in etwas utopischem Tenor darüber nachgedacht, wie der Radverkehr eine Stadt übernimmt, die ihm keine Radwege baut.
Da helfen gute Pläne für Fußgängerrouten und Radwege nur, wenn sie auch zügig umgesetzt werden.
Volle Zustimmung!
AntwortenLöschenMein aktuelles "Lieblings-Ärgernis" will ich bei der Gelegenheit gerne noch ergänzen: Dir unsäglichen schwarzgelben Kabelkanäle überall, vor allem rund um Schlossplatz und im Schlossgarten (etwa während EM oder jetzt zum Weihnachtsmarkt/Wintertraum.
Dabei gibt es (die blauen) Querungshilfen.
Symbol für die Verachtung von Radfahrern, dass man hier nicht mitdenkt.
Der Radentscheid wurde nicht "ungewandelt" sondern, nicht von einem Gericht, sondern vom kompletten Gemeinderat aufgrund eines von der Stadt bezahlten Rechtsgutachten für rechtswidrig erklärt und fast 35.000 Stuttgartern die rote Karte gezeigt. Ihr dürft nicht selbst in eurer Stadt über Radwege beschließen. Auf ein 2. Gutachten wurde verzichtet. Bitte keine Legendenbildung.
AntwortenLöschenNaja, in dem Zielbeschluss steht schon sehr viel drin, sehr viel! Selbst wenn wir den als schwächer betrachten würden als den Antrag des Radentscheids, erreichen wir auch diesen Standard nicht.
LöschenAntwort: Nein. Stuttgart kann und vor allem will nicht Fahrradstadt. Es gibt hier keine Radinfrastruktur, eine radfahrerfeindliche Polizei, ein völlig überfordertes Ordnungsamt, eine Verwaltung, die nicht mehr funktioniert und einen durchsetzungsschwachen Gemeinderat. Ich befahre seit über 10 Jahren die HRR1 zwischen Viadukt und Mineralbäder fast täglich, insgesamt gab es in der Zeit ein paar Fortschritte (z.B. Kaltental), aber so viele Rückschritte (z.B. S21-Baustelle), dass sich das im Ergebnis aufwiegt. Auch den Vorteil der „Fahrradstraßen“ erkenne ich nicht, viel Auto- und Lastverkehr, zugeparkt, beginnt und endet im Nirwana. Ich kann mit vielem leben und werde auch weiterhin zur Arbeit radeln, aber dass sich Stuttgart fahrradfreundlich nennen will, ist eine dreiste Lüge. Und diese Auszeichnung des AGFK ist Bürgerverdummung.
AntwortenLöschenBei der Auszeichnung geht es halt auch nur um die Planung, nicht um die Umsetzung. Pläne sind geduldig.
LöschenLiegt auch immer an den Gemeinderatsmitgliederndende selbst... Wurde ja 2024 neu zusammengestellt ;-)
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