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14. Juli 2022

Unsere Demokratisierung der Verkehrsregeln

Unsere westlichen, demokratischen Gesellschaften definieren - unausgesprochen - ihre Freiheit als die Freiheit, überall hin zu gehen, nicht gehorchen zu müssen und mit jedem Menschen eine Beziehung eingehen zu dürfen. 

Historisch betrachtet, ergibt sich das aus den Erfahrungen versklavter Menschen, nicht mit anderen (ihren Unterdrückern) Beziehungen eingehen zu können und von ihrer Familie und Heimat gewaltsam getrennt zu sein. Nicht gehorchen zu müssen, leitet sich aus unseren historischen Erfahrungen ab, dass autoritäre Regierungen und Beamtenapparate das Individuum strengen und sinnlosen Regeln unterwerfen. Seit Anbeginn ist die Menschheit außerdem unglaublich mobil, schon Menschen frühester Kulturen wanderten ungeheure Distanzen, um Austausch zu pflegen. Heute ist unsere Moblitätsfreiheit der Steinzeit gegenüber übrigens viel mehr eingeschränkt, keineswegs dürfen alle Menschen überall hin wandern, also reisen, zum einen, weil es nationalstaatliche Regelungen verbieten, zum andern, weil sie das Geld dafür nicht aufbringen können. 

Unser Freiheitsbegriff hat Auswirkungen auf unsere Akzeptanz von Verkehrsregeln. 

Immer wieder habe ich mich hier auch gefragt, warum sich so viele Menschen nicht an Verkehrsregeln halten. Nicht ich allein habe den Eindruck, dass viele Menschen Verkehrszeichen und -regeln nur als Empfehlung sehen und selber entscheiden, ob sie sich jetzt daran halten wollen oder nicht. Mehr als 90 Prozent aller Menschen, egal ob im Auto, zu Fuß oder auf dem Fahrrad, verletzen wenigstens hin und wieder die Verkehrsregeln. Meistens nennen sie dafür als Gründe Sicherheit (Radfahrende), oder Zeitersparnis oder Bequemlichkeit (Autofahrende und Fußgänger:innen). 

Meine These: Es werden vor allem die Regeln verletzt, die als nicht essenziell wichtig für die eigene Verkehrsart erachtet werden. 

Von Autofahrer:innen werden rote Ampeln deshalb fast immer respektiert, weil ihnen klar ist, dass sie sie brauchen, da sie sich sonst rettungslos gegenseitig auf Kreuzungen blockieren würden und der Autoverkehr völlig zum Erliegen käme. Ihr hauptsächlicher Rotlichtverstoß ist das noch Durchfahren, wenn die Ampel gerade auf Rot gesprungen ist, weil sie wissen, es gibt Räumzeiten. Allerdings sind eklatante Rotlichtverstöße so häufig (also das Fahren bei schon länger roter Ampel), dass ich einige Fotos davon habe, so wie hier an der roten Ampel an einem Fußgängerüberweg in der Filderstraße, die dieser Fahrer völlig übersah oder absichtlich missachtete. In ampelgeregelten Kreuzungsbereichen passiert das seltener, bei Ampeln auf gerader Strecke, die nur Fußgänger:innen schützen, häufiger. Hier zeigt sich bereits das Grundprinzip: Es war eben nur ein Fußgängerüberweg, keine Kreuzung, der Fahrer oder die Fahrerin musste nicht fürchten, mit einem anderen Auto zusammenzukrachen. Deshalb war das Rot für den Fahrer nicht essenziell wichtig. 

Falschparken ist dagegen ein extrem häufiger Regelverstoß von Autofahrenden. Es ist für sie nicht essenziell, nicht auf Radwegen oder Bürgersteigen zu parken. Ganz im Gegenteil: Für sie ist es eine tief empfundene Notwendigkeit, dass sie ihr Auto immer irgendwo abstellen müssen und dürfen. Das wohnortnahe Parken auf der Gehwegecke, dem Sperrstreifen oder dem Gehweg ist eine logische Folge der Idee, dass das Auto einen Bequemlichkeitsvorteil hat, der einem in einer freien Gesellschaft zusteht. Andere Leute müssen zu der Stelle laufen, wo der Bus oder die Bahn abfährt, ein Autofahrer nicht. Der fühlt den Anspruch, so nah am Ziel wie nur irgendmöglich sein Auto abstellen zu können. Das ist gewissermaßen die Grundidee unserer Autogesellschaft: die Fahrt von Tür zu Tür, ohne Wege zu Fuß. Bußgelder fürs Parken auf Radwegen werden von einzelnen erbost als Abzocke bezeichnet. Zu dieser Verquickung von Auto und kurzen Fußwegen in unseren Köpfen (den der meisten) passt es, dass die krassen Parkverstöße (blockierte Gehwege, blockierte Radwege) von den Ordnungskräften nicht so konsequent verfolgt werden, wie dies Menschen zu Fuß, mit Kinderwagen oder in Rollstühlen bräuchten. Autofahrende wissen, Ordnungshüter und Gesellschaft sind sich mehrheitlich darin einig, dass man für Parkverstöße Verständnis haben muss, jede:r hat schon mal falsch geparkt. Wie man in meinem Bericht über die Baumbeetparker sieht, parken Autofahrende übrigens nie so, dass sie andere Autofahrende behindern würden, denn das wiederum erkennen sie als essenziell: Die Fahrbahn muss immer noch wenigsten ein Auto breit frei bleiben, auch die fremde Einfahrt muss frei bleiben. Ob die Feuerwehr noch durchkommt, ist ihnen wiederum egal. 

Wir Radfahrenden und Fußgänger:innen wissen wiederum sehr genau: Ampeln braucht nur der Autoverkehr. Der Rad- und Fußverkehr braucht keine. Deshalb werden rote Ampeln von Radler:innen oftmals auch dann missachtet, wenn sie schon länger rot sind. Auch Fußgänger:innen gehen vielfach irgendwann rüber, wenn die Straße frei ist, die Fußgängerampel aber noch Rot zeigt. Ich war mal mit einem Briten zu Fuß unterwegs, der sich köstlich amüsierte, dass wir Deutschen bei roten Fußgängerampeln stehen bleiben, auch wenn gar kein Auto kommt. Für ihn war das deutsches Obrigkeitsdenken. Ein deutliches Zeichen, dass wir in freien demokratischen Gesellschaften nur sinnvollen Regeln folgen wollen und uns eine eigenständige Beurteilung vorbehalten. 

sinnlose Ampel Wilhalmsbrücke
Für Radfahrende sind Ampeln nicht essenziell. Es ist sehr oft nicht ersichtlich, warum sie an einer roten Ampel halten müssen, etwa an der Ra-/Fußgänerampel an der für Autos gesperrten Wilhelmsbrücke in Cannstatt. Sie ist vollständig sinnlos geworden, ampelt aber immer noch emsig herum. 

Oder eine Autoampel an einer Fußgängerfurt, über die niemand mehr geht, weil der Fußgänger bereits bei Rot rübergegangen ist.  Radfahrende erleben auch hintereinander geschaltete Fußgängerampeln, die auf eine Grüne Welle für Autofahrende optimiert sind, als Schikane, weil sie selbst immer wieder anhalten und mit erheblicher körperlicher Anstrengung starten müssen. An den meisten Rad- und Fußgängerampeln warten sie lang - oft mehrere Minuten lang -, auch wenn kein Auto mehr kommt. 

Oder wenn man rechts abbiegen will und der Querverkehr das zulässt. Ein Rad ist so schmal, dass es beim Rechtsabbiegen keine Kreuzung blockiert. Weil diese Erkenntnis stimmt, gibt es inzwischen an einigen wenigen Kreuzungen den grünen Pfeil für Radfahrende, der das Abbiegen bei roter Autoampel erlaubt. 

Eine Rotlichtfahrt hat außerdem oftmals den Vorteil, dass man mit dem Rad schon weg ist, bevor die Autos starten und dabei enge Überholmanöver machen. Fairkehr stellte 2017 fest, dass Radfahrende besser aufpassen, wenn sie die Verkehrsregeln verletzen, und damit auch Gefahren entgehen, der etwa ein Mensch auf dem Fahrrad ausgesetzt ist, der auf die grüne Ampel vertraut und dann beim Geradeausradeln von einem abbiegenden LkW-Fahrer überfahren wird. 2014 stellte heise fest, dass Sicherheit für Radfahrende durch weniger Verbote entsteht, etwa an Stoppschildern. Als Idaho Radlern erlaubte, am Stoppschild nicht anzuhalten, verringerte sich die Zahl der Radlerunfälle: Radler kamen vor den Autoverkehr (der anhalten muss) und fuhren achtsamer. 

Rotlichtverstöße von Radfahrenden und Fußgänger:innen sollten - meine ich - legalisiert oder nicht geahndet werden. Im Unterschied zu Autofahrern, die bei Rot fahren, gefährden Radler nur sich selbst. Dass sie beim Abbiegen Fußgänger umnieten würden, ist ein Popanz, den die neidische Autofahrerwelt aufbaut. Denn Fußgänger:innen haben meistens auch Rot, wenn die Autos der parallelen Straße Rot haben, und stehen, wenn der Radler bei Rot abbiegt. Viele Radfahrer werden - egal wie sehr wir auf die Regeln pochen - immer dort bei Rot fahren, wo nicht einzusehen ist, dass sie warten müssen. Viele umfahren das Rot auch gern über den Gehweg - was ebenfalls ein Regelverstoß ist und zudem die Fußgänger:innen betrifft.  

Für Fußgänger:innen ist wiederum essenziell, dass Räder nicht auf dem Gehweg fahren. Etliche Radfahrende begehen diesen Regelverstoß sehr leichtherzig, ohne sich klar zu machen, wie sehr sie Fußgänger:innen beeinträchtigen. Gehwegfahrten belasten Fugänger:innen extrem (stören, stressen, ängstigen, gefährden), vor allem, wenn es dann auch noch Lastenräder sind. Wir als Radfahrende halten unsere Gehwegfahrten oft für eine Notwendigkeit und deshalb für legitim, weil uns das Radeln auf der Fahrbahn zu gefährlich erscheint. Wir geben Sicherheitsgründe an. Oft ist es aber auch nur reine Bequemlichkeit, weil man den erforderlichen Umweg nicht radeln will. Insofern verhalten wir uns hier nicht anders - nicht weniger egoistisch - als Autofahrende, die ihre Interessen über die anderer Verkehrsarten stellen. Gehwegradeln müsste also - meine ich - konsequent geahndet werden. 

Essenziell für den Stadtbahnverkehr ist wiederum das Abbiegeverbot für den fahrenden Verkehr. Einfach abzubiegen, obgleich die Verkehrszeichen gebieten, geradeaus zu fahren, erscheint Autofahrenden ein harmloses Vergehen. Dabei sehen sie oftmals die Stadtbahn nicht. In Stuttgart kommt es gefühlt einmal pro Woche zu einem Zusammenstoß eines Autos mit der Stadtbahn, weil der Fahrer oder die Fahrerin regelwidrig über die Gleise abgebogen ist. Autofahrende übersehen Stadtbahnen erstaunlich oft,  manchen scheint überhaupt nicht klar zu sein, wie gefährlich ihr Manöver ist, sie denken nur an eine Zeitersparnis, weil sie nicht zum nächsten U-Turn weiterfahren müssen. Sie handeln gemäß der Überzeugung, dass man Beschränkungen der freien Richtungswahl für Autos nicht akzeptieren muss, wenn man es eilig hat. Jeder Stadtbahnunfall hat aber gravierende Auswirkungen auf den gesamten öffentlichen Nahverkehr, Leute sitzen ihn Bahnen fest, die herumstehen, weil die Strecke über Stunden nicht befahrbar ist, Ersatzbusse müssen losfahren. Der Verstoß gegen Richtungsgebote müsste also viel drastischer bestraft werden. 

Die Idee der völligen Bewegungsfreiheit steckt nicht nur tief in unserer StVO, sondern auch in unserem zivilisatorischen Selbstverständnis. Damit man in Deutschland mit dem Auto (Motorrad oder Fahrrad) jederzeit überall hin fahren kann, muss der Verkehr flüssig gehalten werden, darf keine einmal gebaute Straße ohne sehr gute Gründe dem Verkehr entzogen werden und dürfen Fahrverbote nicht einfach angeordnet werden, wenn man nur mal autofrei haben möchte. Auch wenn im Grundgesetz weder ein Recht auf Schnellfahren noch auf Straßenrandparkplätze steht, hat unsere vom Auto geprägte Gesellschaft sie unter die bürgerlichen Grundrechte eingeordnet und richtet ihr Leben daran aus. Deshalb argumentieren die Gegner:innen von Tempolimits auf Autobahnen auch stets mit dem Begriff "Freiheit". Für sie fällt die Freiheit, so schnell zu fahren, wie man kann und will, wenn es die Verkehrslage zulässt, eben unter die bürgerlichen Freiheiten, die es ja grundsätzlich zu verteidigen gilt. Sie wollen nicht gehorchen, schon gar nicht einer  "autofeindlichen Verbotspolitik", die für ihre Begriffe moralisierend und ideologisch auftritt, also verkehrsferne Argumente vorbringt, wie Umweltschutz, Benzinsparen oder Lärmschutz. Radfahrende sind in ihren Augen miesepetrige Gutmenschen, das Lastenrad steht für "eine elitäre Familie, die anderen ihren Lebensstil aufzwingt". Niemand will sich in Deutschland vorschreiben lassen, welches Verkehrsmittel er oder sie sich kaufen kann und benutzt. Im Straßenverkehr gibt es keine soziale Verantwortung, also keine Moral. 

Wir haben uns in Deutschland seit Ende der 60er Jahre das Recht erkämpft, uns ungestraft aus moralischen Zwängen zu befreien. "Das tut man nicht" gilt nicht mehr. Zu unserer Emanzipation gehören sexuelle Freiheiten, die Freiheit sich zu kleiden, wie man will, die Unabhängigkeit der Frauen von Ehemännern oder Patchworkfamilien und noch vieles mehr. Verglichen mit meiner Jugend in den 70er Jahren hat nicht nur die Kirche, sondern auch die Polizei drastisch an Autorität verloren. In meiner Kindheit und Jugend hatte man Respekt vor der Verkehrspolizei und guckte zum Schutzmann auf. Ob parallel zur gesellschaftlichen Emanzipation aus normativen Zwängen auch die Neigung, nur wenige Verkehrsregeln zu beachten, zugenommen hat, kann ich nicht beurteilen, es kommt mir aber so vor. Wir scheinen in der Mehrheit damit einverstanden zu sein, dass man bei den Verkehrsregeln einen "Ermessensspielraum" hat und die Polizei "auch mal Fünfe gerade sein lässt" und bei der Verfolgung "Augenmaß" beweist. Die mündige Bürgerschaft nimmt für sich in Anspruch, selber beurteilen zu können, ob eine Regel gerade gilt oder nicht. 

Müssen wir uns also damit abfinden, dass wir alle, die wir am Straßenverkehr teilnehmen, nur eine kleine Zahl von Regeln wirklich sklavisch beachten, die meisten aber je nach Fall so auslegen, wie sie uns gerade passen? (Wir sind ja keine Sklaven.) 

Regelverstöße haben allerdings durchaus unterschiedlich schwere Konsequenzen für andere. Während eines Radlers Rotlichtfahrt nur ihn selbst und das Gehen bei Fußgängerrot nur den Fußgänger gefährdet, bringen Autofahrende, die bei Rot nicht anhalten, Fußgänger:innen und Radfahrende in extreme Gefahr. Wenn Autofahrende mit dem Handy in der Hand telefonieren und abgelenkt sind, dann kostet das unter umständen einen Radfahrer oder eine Fußgängerin das Leben oder beschert uns einen Krankenhausaufenthalt. Unerklärliche Unfälle gehen oft auf Ablenkung zurück. Deshalb haben alle Radfahrenden und zu Fuß gehenden ein grundlegendes Interesse daran, dass nichts Autofahrende vom Fahren ablenkt. Hingegen ist die Ablenkung der Fußgänger:innen (auch die schauen gerne mal aufs Handy und nehmen den Verkehr nicht mehr wahr) vor allem für sie selbst gefährlich. Und Radfahrende sind eher selten abgelenkt, weil sie wissen, dass sie die ganze Zeit aufpassen müssen. 

Wenn Autobesitzer:innen ihr Fahrzeug auf Flächen für Fußgänger:innen und Radfahrende abstellen, stören sie nicht nur, sie beschneiden auch erheblich die Bewegungsfreiheit von Menschen mit Rollstühlen, oder Kinderwagen und bringen Menschen in Gefahr, die auf die Fahrbahn ausweichen müssen. Das gleiche gilt für Radfahrende, die auf Gehwegen fahren, und das auch noch schneller als Schrittgeschwindigkeit. Die Regel, nicht auf Gehwegen zu fahren (Räder) oder zu parken (Auto) ist essenziell für Menschen zu Fuß. Und für Stadtbahnfahrer:innen ist es extrem wichtig, dass kein Auto vor die Stadtbahn fährt und sie stundenlang aufhält. Wer solche Nachteile durch den Regelverstoß eines anderen hat, darf also erwarten, dass die Polizei alles unternimmt, diese Regeln bei den fahrenden Verkehrsarten auch durchzusetzen. 

Die Freiheit des einen endet ja immer dort, wo sie die Freiheit des anderen einschränkt. Wir müssen immer abwägen, wie weit eine Freiheit beschnitten werden muss, um andere vor Nachteilen zu schützen. Die Schwere der Nachteile spielt dabei eine Rolle. Wir behaupten, bei uns habe ein Menschenleben den höchsten Wert. Absichtlich töten steht unter hohen Strafen. Unabsichtlich töten allerdings nicht. Und das kommt vor allem im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr zum Tragen. Nirgendwo bringen Menschen andere so oft ums Leben wie im Straßenverkehr (selbst in den USA, wo fast so viele erschossen werden wie im Verkehr sterben). In Deutschland waren das Anfang der 70er Jahre fast 20 000 Tote im Jahr, jetzt sind es zwischen 2500 und 3000 (was vor allem an der Verlangsamung des sich selbst blockierenden Autoverkehrs liegt). Unsere Rechtsprechung geht davon aus, dass niemand einen anderen absichtlich zu Tode fährt. Die Strafen für Lkw-Fahrer, die beim Abbiegen einen Menschen auf dem Fahrrad töten, sind gering und in der Praxis weit entfernt von Gefängnis. Bei zu schnellem Fahren mit Todesfolge für einen unbeteiligten Menschen bemühen sich Juristen neuerdings darum, aus dem Rasen so etwas wie eine Tötungsabsicht abzuleiten (billigend in Kauf genommen) und zu Mordanklagen und Gefängnisstrafen zu kommen. 

Grundsätzlich aber hat bei uns die Freiheit, mit dem Auto zu fahren und es überall abzustellen, wo es halbwegs geht (was übrigens nicht für Radfahrende gilt!), einen höheren Wert als der unbedingte Schutz von Menschenleben. Man geht nämlich grundsätzlich davon aus, dass Fußgänger:innen und Radfahrenden nichts passiert, wenn die sich ihrerseits sklavisch an die Regeln halten und zusätzlich alles für ihren Eigenschutz tun (Aufpassen, Nachgeben, auf Wegerechte verzichten). Daher auch die unermüdlichen Appelle an uns, Helme, Schutzwesten und helle Kleidung zu tragen, und an die Eltern, ihre Kinder für die Wege bei Dunkelheit mit Reflektoren zu behängen. Deshalb auch ein immenses Engagement der Verkehrspolizei bei der kindlichen Verkehrserziehung. Und dann stehen die Kleinen mit großen Augen am Zebrastreifen und trauen sich nicht rüber, weil die Autofahrer einfach nicht anhalten, da sie die Kinder geflissentlich übersehen. Von Klein auf werden wir trainiert, auf den Autoverkehr zu achten, immer und überall, und ihn gewähren zu lassen ("Pass auf, da kommt ein Auto!"). Tatsächlich beherrscht der Autoverkehr unseren öffentlichen Raum nahezu komplett und bestimmt, wer die Freiheit hat, überall hinzukommen, und wer nicht. Radfahrende und Fußgänger:innen haben sie nicht. Wir stehen unter der Herrschaft des Autoverkehrs. Deshalb betrachten manche Fußgänger:innen und Radfahrende ihre Rotlichtverstöße auch als berechtigte anarchische Aktionen gegen die Verkehrshierarchie. 

Verkehrsunfälle mit tödlichem Ausgang (für wen auch immer) erscheinen der Medienöffentlichkeit gern als unabwendbare Tragödien, bei der die Täterschaft (der schwere Regelverstoß) des Autolenkers verschleiert oder sogar verschwiegen wird. Immer noch knapp 3000 Verkehrstote (darunter 450 bis 500 Radfahrende) jährlich beweisen, dass in Deutschland der Straßenverkehr immer noch eine erhebliche Menge Opfer fordert (so viele wie 10 Flugzeugabstürze (die es aber nicht gibt) oder das 18-fache von realen Opfern im Zugverkehr). Allmählich setzt sich allerdings in der politischen Diskussion auch die Erkenntnis durch, dass Tempo 30 in Städten Menschenleben rettet. Der Begriff "Vision Zero" taucht in den Debatten auf. Auch wenn wir von den Regeln, die zur Verringerung von Verkehrstoten taugen (generelle Tempolimits, höhere Strafen für Rasen, rad- fußgängerfreundliche Straßen und Bahngleisübergänge) noch weit entfernt zu sein scheinen, so ändert sich unsere Abwägung von hier "Freiheit zu fahren" und dort "Schutz von Menschen" gerade zu Gunsten von mehr Schutz für alle, die nicht in Autos unterwegs sind. Künftig werden noch mehr Entscheidungen zu Ungunsten des Autos ausfallen, je deutlicher uns - und vor allem auch der Politik - wird, dass Umweltschutz, Klimaschutz, Ernegieautonomie oder lebenswerte Städte und Dörfer einen Vorrang und Schutz für selbstaktive Mobilität erfordern. Gesellschaften können sich ja auf neue Bewertungen einigen. Die Freiheit, sich ungefährdet zu bewegen, kann die Freiheit, mit dem Auto so schnell wie möglich überallhin zu fahren, ersetzen. Aber es ist ein schwieriger Prozess, wie wir alle beobachten können. 

Unsere Konflikte mit dem autoritären Verkehrsregelwerk, dem zu gehorchen wäre, bleiben uns aber  erhalten. Es ist ja nicht so, dass die niederländischen Autofahrer:innen die Radfahrer:innen lieben, ganz im Gegenteil. Konflikte sind dort nur seltener, weil man Rad- und Autoverkehr sehr konsequent trennt und Radler:innen eigene Fahrbahnen anbietet, was umgekehrt heißt, dass Autofahrer:innen auf ihren Fahrbahnen ungestört fahren können (und wollen). Verkehrsregeln sind  etwas ganz anderes als die sozialen Regeln, die wir uns in unseren gruppendynamischen Prozessen selber geben und die wir weitgehend einhalten, weil wir soziale Wesen sind. Verkehrsregeln empfinden wir als übergestülpt und hoheitlich, und uns selbst empfinden wir eben als frei, und Freie müssen nicht gehorchen, wenn sie es nicht einsehen. Deshalb bin ich der Meinung, dass vor allem die Regelverstöße, die zum Schutz für Menschen anderer Verkehrsarten essenziell (oder wesentlich) sind (Rasen, Gehwegparken, Gehwegradeln, Rotlichverstoß beim Auto, verbotenes Abbiegen, Handy in der Hand halten), konsequenter geahndet und härter bestraft werden als das bei uns der Fall ist. 

Während Radfahrende regeltreuer fahren, wenn die Radverkehrsinfrastruktur vorhanden und stimmig ist, und weniger regeltreu, wenn sie sich ihre Wege suchen und gegen den Platzanspruch des Autoverkehrs erkämpfen müssen, scheint das für Autofahrende, für die ja alles passend gestaltet ist (vom Kurvenradius bis zum Parkplatz), nicht zu gelten. Sie fahren regeltreuer, wenn die Strafen hart und der Verfolgungsdruck groß ist. 

Abschleppaktion am Zebrastreifen

Sind harte Strafen also das einzige Mittel, um Regeln durchzusetzen? Harte Strafen wirken im Verkehrsrecht durchaus abschreckend (sonst eher nicht). Bei uns sind die Bußen und Strafen für Verkehrsverstöße vergleichsweise niedrig. Im Europavergleich steht Deutschland auf Platz eins, was autofahrerfreundliche Regelungen betrifft, wie verizonconnect ausführlich darstellt, gefolgt von Österreich und Luxemburg. Am strengsten sind die Verkehrsregeln in Dänemark und Norwegen (Länder, die wir für sehr frei und sehr sozial denkend halten). In den meisten europäischen Ländern muss man für Geschwindigkeitsübertretungen mehr bezahlen als bei uns. Als besonders streng gilt die Schweiz, da kostet Falschparken (nicht innerhalb einer markierten Fläche geparkt) schnell mal über 1000 Euro und da kann man fürs Rasen (mehr als 16 km drüber innerorts) sogar ins Gefängnis kommen und die Geldstrafen können in die Tausende gehen. Viele berichten, in Frankreich oder der Schweiz fahre es sich entspannter, weil die Leute sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten. Da haben wir Nachholbedarf. 

Quelle Stuttgart.de
Erwischt-Werden ist zudem entscheidend. Ich erinnere mich, dass ich in der DDR Auto äußerst korrekt gefahren bin, weil die Vopos gerne viel Westgeld kassierten und die Begegnung mit den Polizisten auch immer etwas Willkürliches hatte. Und die waren überall. Niemand ist auf den Autobahnen schneller als 100 gefahren. Niemand parkte auf Gehwegen. In Stuttgart (und vermutlich auch in anderen Städten) gibt es dagegen heute regelrechte rechtsfreie Räume, in denen die Polizei aufgibt, weil sie der Masse von Verstößen (mit niedrigem Bußgeld) gar nicht mehr Herr wird. 

Neben hohen Strafen braucht es engmaschige Kontrollen, um die Verkehrsregeltreue zu erhöhen. Steht aber an jeder Ecke ein Polizist, der uns maßregelt, haben wir allerdings schnell das Empfinden, in einem Polizeistaat zu leben. Und wenn uns Radler die Polizei auf dem Gehweg stellt, dann sagen wir: "Kontrollieren Sie doch mal lieber die Autofahrer, den da zum Beispiel, der steht auf dem Radweg!" Wir sehen oft nicht ein, dass wir für ein Vergehen büßen müssen, während gleichzeitig ein anderer ungestraft davonkommt, und erklären die Verfolgung der anderen für wichtiger als unsere eigene. Die Mitarbeiter:innen des städtischen Vollzugsdienst, die Falschparker aufschreiben, werden oftmals wüst beschimpft. Parkraumüberwachung wäre heute schon mit Kamera-Autos möglich. Immerhin wird in Deutschland jetzt der Handy-Blitzer erprobt, der in anderen Ländern schon benutzt wird, um Ablekungsunfälle zu reduzieren. Die Geldstrafe dürfte nicht so entscheidend sein (100 Euro) wie der Punkt in Flensburg und bei Gefährdung ein Monat Fahrverbot. In Hamburg stellte die Polizei einen Blitzer auf, der alle fotografierte, die durch eine gesperrte Straße fuhren. Es wäre möglich, die Durchsetzung wesentlicher Regeln Kameras (Blitzern), einer Software und der Nachbearbeitung durch Beamt:innen zu überlassen. Davor aber scheuen wir uns, denn dann würde halt jede:r erwischt, der an der Stelle einen Regelverstoß begeht, und nicht nur ab und zu mal ein Mensch, wenn die Polizei zufällig mal kontrolliert. 

Man kann die Meinung vertreten, dass, gemessen an der Gefährlichkeit, Autofahrende strenger und engmaschiger kontrolliert werden müssen als Fußgänger:innen oder Radfahrende. Wer ein Fahrzeug fährt, mit dem er oder sie töten kann, ohne selbst auch nur verletzt zu werden, muss sich an die Regeln halten, vor allem an die, die für den ungepanzerten Verkehr essenziell sind: Rote Ampeln beachten, an Zebrastreifen anhalten, sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen halten, Vorfahrtsregeln befolgen und nicht auf Gehwegen oder Radwegen fahren und parken. Wegen der hohen Betriegsgefahr von Autos sind in den Niederlanden und in Dänemark Autofahrende immer mitverantwortlich bei Unfällen, bei denen ein Radfahrer oder Fußgänger zu schaden kommt, auch dann, wenn der andere den Fahrfehler gemacht hat. In Deutschland bekommt der Radfahrer unter Umständen eine Teilschuld, auch wenn der Autofahrende allein verantwortlich war für den Unfall, weil man unterstellt, dass der Radfahrer zu schnell war oder nicht weit genug rechts fuhr. 

Aber so ganz rausziehen können sich die harmloseren Verkehrsteilnehmer:innen aber auch nicht. Radfahrende können Fußgänger:innen erheblich in ihrer Bewegungsfreiheit und Lebensfreude beeinträchtigen, auch wenn sie sie extrem selten durch Zusammenstöße töten. Das Gehwegradeln sollte also durchaus konsequent geahndet werden. Und sogar Fußgänger:innen können, wenn sie auf Radwegen spazieren gehen, weil sie die Schilder nicht sehen, nicht verstehen oder nicht befolgen wollen, Radfahrende erheblich behindern und sogar gefährden. Wir dürften fast alle den Ferdinand-Leitner-Steg und die Fahrradauffahrt (als Radweg ausgeschildert) vom Planetarium kennen, die gern von Menschen zu Fuß benutzt wird. Wenn mir einer entgegenkommt, kann ich den Fußgänger nicht überholen, aber bergauf bremsen und anhalten und dann wieder antreten müssen, ist echt eine Strafe (und ich fahre ein Pedelec). 

Wenn Verkehrssituationen und Regeln passen, sind die Verstöße seltener. Als die Kreuzung am Tagblattturm noch mit jeder Menge unsinniger Ampeln ausgestattet war, waren Regelverstöße aller Verkehrsarten irre häufig. Nach dem Umbau hat sich das gebessert. Alle Verkehrsarten wollen jeweils so bequem und so schnell wie möglich vorankommen. Den Autofahrenden erfüllen wir diese Erwartung mit unseren Verkehrsregeln, breiten Fahrbahnen und Ampelschaltungen. Wenn Autofahrende Regeln missachten, die sie bremsen und ihre Fahrwege oder Parkmöglichkeiten beschränken, dann pochen sie auf ihre traditionellen Privilegien und demonstrieren ihre Vorherrschaft im Straßenverkehr, die sie zu verlieren drohen. Wenn Radfahrende oder Fußgänger:innen Regeln verletzen, dann protestieren sie gegen die Bevorzugung des Autos in unserer Mobilitätswelt. Radfahrende verhalten sich dann regeltreuer, wenn die Radverkehrsinfrastruktur bequem und stimmig ist, wie man in Dänemark festgestellt hat. Fußgänger:innen gehen weniger bei Rot, wenn die Wartezeiten kurz sind, und überqueren Straßen und Bahngleise nicht an ungeeigneten und gefährlichen Stellen, wenn es viele Übergänge gibt. Und wenn der Gehweg für sie kein Umweg ist, benutzen sie auch nicht den Radweg. 

Statt es den Verkehrsarten selbst zu überlassen, welche Regeln sie für wesentlich oder unwesentlich halten - was zu Fehleinschätzungen führt - und darum eher befolgen oder verletzen als andere, könnten der Gesetzgeber und die Öffentlichkeit (durch Kampagnen) Verkehrsregeln priorisieren: Was ist für die Bewegungsfreiheit und Sicherheit des Fußverkehrs essenziell? Was ist für die Bewegungsfreiheit und Sicherheit des Radverkehrs wesentlich? Was ist für den öffentlichen Nahverkehr essenziell? Welche Regeln dürfen darum vom Auto-, Rad- oder Fußverkehr wirklich nie verletzt werden.  

  1. Autofahrende dürfen nicht abgelenkt sein (Handyverbot) 
  2. Autofahrende müssen sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen halten
  3. Autofahrende müssen an roten Ampeln halten
  4. Autofahrende und Radfahrende dürfen nicht abbiegen, wo es verboten ist
  5. Autos dürfen nicht auf Gehwegen und Radwegen stehen
  6. Mit Fahrrädern darf nicht auf dem Gehweg gefahren werden

Wobei uns jetzt sofort ein Unterschied auffällt: Während den Menschen im Autoverkehr klar gemacht werden muss, dass sie nicht überall fahren und parken können und dürfen, muss man den anderen Verkehrsarten mehr Bequemlichkeit und Schutz verschaffen. Und leider kann man nicht damit rechnen, dass der Autoverkehr freiwillig Privilegien abgibt, die er sich bisher genommen hat. Man versucht ihn durchaus zu zwingen mit höheren Bußgeldern in der reformierten StVO für Rasen oder Falschparken. Für eine abschreckende Wirkung reicht es nur noch nicht, zumal der Ahndungsdruck für Gehwegparken oder  Falschabbiegen (nicht nur in Stuttgart) minimal bis nicht vorhanden ist. 

Das heißt also, die einen muss man zwingen, die anderen begünstigen. Das würde zumindest die freiwillige Regeltreue von Fußgänger:innen und Radfahrer:innen erhöhen. Ein Klima der Vernünftigkeit und Mündigkeit könnte so aufgebaut und auf Autofahrende appellativ übertragen werden. Das wird natürlich nicht einfach so klappen; ohne argumentative Anstrengungen, unermüdliches Erklären, freundliche Kampagnen, und wirksame Kontrollen ginge es nicht. Wir müssten uns gesamtgesellschaftlich klar machen, dass 

  • Fußgänger:innen unbedingt freie Gehwege brauchen. Auf Gehwegen darf wirklich nicht geparkt oder Rad gefahren werden, 
  • Radfahrende unbedingt freie Radsteifen und Radwege brauchen, dort darf wirklich nicht gehalten und geparkt oder eine Baustelle eingerichtet werden, 
  • Stadtbahnfahrende sich wirklich darauf verlassen können müssen, dass das Abbiegeverbot über die Gleise beherzigt wird,  
  • Menschen auf Fahrrädern und zu Fuß wirklich nicht an jeder roten Ampel lange stehen bleiben müssen, wenn die Fahrbahn frei ist, 
  • der Mischverkehr (Rad/Auto) wirklich immer auf der Fahrbahn bei Tempo 30 oder aber mit Radverkehrsanlagen stattfindet,
  • Autofahrende bei Zusammenstößen mit Fußgänger:innen und Radfahrer:innen immer haften und unabhängig von der Schuldfrage den Schaden vollständig ersetzen müssten
und dass wir das auch wirklich mithilfe von konsequenten Kontrollen und entsprechenden Bußgeldern durchsetzen wollen. 


20 Kommentare:

  1. Ohne Autos würde kein Radfahrer auf Gehwegen fahren. Ohne Autos gäbe es weder eine Ampel, noch irgendein Verkehrsschild. Ohne Autos würden sich Fußgänger und Radfahrer hervorragend arrangieren. Alle Regeln, die das Vorwärtskommen ausbremsen, sind eine Folge des Autoverkehrs. Wie du schon richtig schreibst, sollten Verstöße nur von Verursachern- also vom MIV geahndet werden.

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    1. Gegenverkehr langsam machen, einander die Vorfahrtsberechtigung lassen, nicht rechts, sondern nur links überholen etc. Solange wir aber unsere Radfahrten als Pfadfindersuche und Kampf um Raum erleben, verhalten wir uns eben auch ein wenig aggressiv und anarchisch. Meine Intention ist, zu sagen, dass es essenzielle Regeln gibt, die man durchsetzen muss, weil sie dem Schutz anderer dienen. Der Autoverkehr geht ja jetzt auch nicht weg. Und auch wie Radfahrenden müssen reflektieren, wie wir uns den Fußgänger:innen gegenüber verhalten.

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    2. Ich muss doch klar widersprechen, dass man nur auf Grund von Autos Verkehrsregeln benötigt. Ich möchte mich weder als Radfahrer noch als Fußgänger arrangieren müssen, dass läuft immer darauf hinaus, dass Frechheit, Bequemlichkeit, Ignoranz, was auch immer siegt. Ich halte mich, egal wie ich mich fortbewege, an die StVO und erwarte dies auch von anderen. In naher Zukunft, wenn erstmal richtig viele Radfahrer unterwegs sind, wird man merken, dass der Mensch, egal wie er sich fortbewegt, doch immer wieder die gleichen Verhaltensmuster an den Tag legt.

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  2. In Deutschland sind Ampeln für Fahrradfahrer nicht essentiell, weil sich noch zu wenige Fahrradfahrer in ihrem zugewiesenen Bereich aufhalten, der durch Ampeln geregelt ist. In Amsterdam (Zentrum oder Hauptbahnhof) sind Ampeln für Fahrradfahrer sehr wohl essentiell.
    Überall wo viele gleichartige Verkehrsteilnehmer aufeinandertreffen ist die Regeleinhaltung mehr und mehr erforderlich.
    Steffen aus Plochingen

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    1. Gibt es da nicht diese lustige Ampel von Groningen, wo für eine Kreuzung alle Radler:innen aus allen Richtungen gleichzeitig grün kriegen, während der Autoverkehr steht? Ich glaube dir, dass Ampeln, die allein den Radverkehr regeln bei vielen Radler:innen notwendig sein könnten, ich sehe allerdings auch, dass unsere Verkehrswelt dazu neigt, alles mit Ampeln zu regeln und das Prinzip Autoverkehr auf den Radverkehr zu übertragen. Wie dem auch sie, davon sind wir in Stuttgart noch weit entfernt.

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    2. Problematisch an Ampeln finde ich, dass viele Menschen vermutlich gar nicht wissen, wie die Regelungen für den Radverkehr sind. Wenn wirklich etwas passiert, hat jemand auf dem Rad unter Umständen Zeugenaussagen am Bein, die eine Rotfahrt berichten, während die Radfahrerin tatsächlich korrekt gefahren ist. Wieviele Leute gehen davon aus, dass eine Fußverkehrsampel auch für den Radverkehr gilt? Oder die Ampelregelung bei indirektem Linksabiegen: Wer kennt die?

      Ähnlich beim Fußverkehr: Wenn jemand bei grün losgeht, 6 Sekunden zum Queren der Fahrbahn bräuchte, die Ampel nach 2 Sekunden auf rot springt und die Fußgängerin nach weiteren 2 Sekunden umgefahren wird: Wieviele Leute werden erst beim Knall hinsehen und dann aussagen, dass sie bei rot gegangen sei? Falls sie selbst auf dem Weg in's Krankenhaus ist (oder sogar tot), kann sie sich im Moment nicht (oder gar nicht mehr) selbst äussern.

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    3. Grad noch Links, um das Problem zu veranschaulichen, dass vermutlich viele Leute gar nicht wissen, was indirektes Abbiegen ist:
      https://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/unfaelle-in-steglitz-zehlendorf-und-pankow-drei-fahrradfahrer-in-berlin-schwer-verletzt/27241778.html

      Ein Diskussions-Strang beginnt am 31.05.2021, 12:37 Uhr. In dem Strang kommentiert mehrmals eine Juristin, die nicht weiß, was indirektes Abbiegen ist und sich schliesslich inhaltlich falsch äussert. Grad zwei Zitate zur Veranschaulichung (die Einrückungen sind vorherige Kommentare, die sie ihrerseits zitiert):
      1.) am 31.05.2021, 19:37 Uhr:
      " Es wäre bspw. auch vorstellbar, dass die Radfahrerin indirekt abgebogen ist.

      Was soll denn das sein? Indirekt abbiegen? Indirekt bei rot fahren?

      Da die Radfahrerin von einem Notarzt behandelt wurde, wurde sie vermutlich noch nicht zu dem Unfall befragt.

      Ja, das ist natürlich dann ein Argument! Die Radfahrerin wird natürlich vollkommen ehrlich aussagen, dass sie nichts falsch gemacht hat und alles ist gut!"

      2.) am 01.06.2021, 13:06 Uhr:
      " Beim Abbiegen zählt nur die Ampel der Straße aus der man abbiegt und nicht die Ampel der Straße in die man abbiegt.

      Hä? Es ist völlig egal, ob man geradeaus fährt oder rechts oder links abbiegt. Es zählt die Ampel, die man überfährt, ggf. die für die jeweilige Richtung. Wer also "indirekt" abbiegen will, muss erst einmal bei grün geradeaus fahren, sein Fahrrad um 90° drehen, um dann wieder bei grünem Licht die nächste Ampel wiederum geradeaus zu überqueren."

      Um die Diskussion nachvollziehen zu können, ist es etwas zu lesen: Die Juristin hat nicht verstanden, worum es geht. Zur Beachtung der dennoch forsche Tonfall(!).

      Und ein Link aus Osnabrück, wo ein LKW-Fahrer eine Radfahrerin überfährt, die alles richtig gemacht hat, tot ist (sich also auch nicht mehr selbst äussern kann) und trotzdem zunächst via Pressemeldung eine Rotfahrt vorgeworfen bekommt. In den sozialen Netzen wird daraufhin losgetobt:
      https://www.hasepost.de/fahrradunfall-vor-osnabrueckhalle-dashcam-belastet-lkw-fahrer-es-war-alles-ganz-anders-200649/

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  3. Neue Regeln beseitigen aber m.E. ein wesentliches Grundproblem nicht: Nämlich das, dass es in D keinen dedizierten Platz für Radfahrende gibt. Auch in den Köpfen nicht. Die gedankliche Trennung zwischen Autos einerseits und Fußgänger/Radfahrer andererseits müsste doch eigentlich eine Trennung zwischen "Fahrenden" und "Zufußgehenden" sein?

    In meinem Umfeld (und auch anderswo) ist alles, was nicht kleine Nebenstraße ist, eine Fahrbahnverbotszone für Radfahrer. Realisiert wird das durch "gemeinsame Geh/Radwege" (sic!). "Echte" Radwege gibt es praktisch nicht. Für echte Radwege gibt es keinen Platz. Fahrbahnen sind für PkW "reserviert". Eine gerechte Aufteilung der Fahrbahnen zwischen Radfahrenden und Autos (also den "Fahrenden") wäre leicht, wenn alle Parkplätze verschwinden würden, das ist aber unvorstellbar.

    Ich denke, erst wenn die Fahrbahnen gerecht aufgeteilt sind, werden viel mehr Menschen aufs Fahrrad umsteigen, weil es dann absolut keinen "Spaß" mehr macht, mit dem PkW zu fahren und es endlich einen sehr guten Grund gibt, aufs Auto zu verzichten. Hier und heute gibt es gar keinen Grund, aufs Auto zu verzichten, außer man erklärt sich selbst bereit dazu.

    S. Schwager, Fürstenfeldbruck, Bayern





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    1. Ich hatte nie ein Auto, habe aber auch nie darauf "verzichtet", weil ich keines gebraucht habe und keines brauche. Eine Kollegin hat mich mal gefragt, ob ich ein Auto besässe. Das war eine der seltsamsten Fragen, die mir je jemand gestellt hat. (Ich markiere "verzichtet" mit Anführungszeichen, um hervorzuheben, worauf ich hinaus will, nicht, um das Wort zu kritisieren.)

      Aber: Die Kosten wären ansonsten ein sehr guter Grund, kein Auto zu haben. Falls jemand Bastlerin ist, mag ein alter Wagen mit nicht mehr viel Wertverlust die Kosten begrenzen, aber mit Wertverlust, Reparaturen, Treibstoff/Strom, Versicherungen, Steuer kommen sicher einige hundert Euro monatlich zusammen. Wenn ein Gebrauchtwagen 15000 EUR kostet und nach 5 Jahren noch 3000 EUR bringt, sind das pro Jahr 2400 EUR, pro Monat 200 EUR. Nur Wertverlust, ohne die anderen genannten Posten. Kurz: Der finanzielle Spielraum wäre erheblich reduziert und es würde immer Druck herrschen, dass nichts Unvorhergesehenes geschehen sollte.

      Das ist jetzt eine generelle Anmerkung und nicht mehr Antwort auf den hiervor stehenden Post: Für mich wäre das das Gegenteil von Freiheit. Aber ja, wenn ich Teil Eurer "Autogesellschaft" wäre (also Wasser, Luft und Auto gleichwertig als absolut überlebenswichtig sähe), würde ich das vielleicht anders sehen.

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    2. Richtig, Anschaffungs- und Unterhaltskosten sind natürlich ein sehr guter Grund, auf den Kauf eines Autos zu verzichten. "Aufs Auto verzichten" ist "sloppy" formuliert. Es muss natürlich heißen: "Das Auto stehen lassen, obwohl es zur Verfügung steht."

      S. Schwager, Fürstenfeldbruck, Bayern

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  4. Grüner Pfeil für Radfahrer ist auch wieder so ein Ding. Da muss man anhalten und schauen -> wer bitte machte das? Da ist der Regelverstoß schon im Gesetz.

    'Autofahrer stellen überall ihr Auto ab'. Ich war in diesem Jahr im Elssas im Urlaub (mit Auto), da kann man auf den Ortsdruchfahrtstraßen 30/50 fahren ohne Stop und Go. Die Straße ist tatsächlich zum fahren da. Bei uns ist das eine reine Katastophe, stellenweise sind die Ortsstraßen so zugeparkt, das ist einfach nur noch unglaublich. Soage mit dem Fahrrad muß man anhalten weil einfach zu eng bei Gegenverkehr.

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  5. Gestern Nacht habe ich einen Fahrer in einem Transporter gesehen, der erst die erste Fußgängerampel bei rot überfahren hat, obwohl schon mehrere Sekunden rot war. Dann ist er um die Ecke gebogen und ist auch dort über die rote Fußgängerampel geheizt. Fünf Minuten später kam er zurück und ist nochmal über rot und dann um die Ecke nochmal bei Gelb rüber. Ich dachte echt ich spinne. Aber sind halt nur Fußgängerampeln und es war Nachts um 2 Uhr. Ein weiteres Auto ist ebenfalls bei Rot über die Ampel gefahren. Die restlichen 5 Autos, die ich beobachtet habe, haben regelkonform gehalten.

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    1. Mir ist auch jetzt erst so richtig klar geworden,dass Autofahrende tatsächlich rote Ampeln an Fußgängerüberwegen brutal missachten, weil sie sie nicht als wichtig für sich selbst erachten. Und das wird sicher noch schlimmer werden.

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  6. Es muss sich im Verkehr viel ändern, wir müssen vor allem weg von der Autokultur. Aber ob es eine gute Idee ist, Rotlichtverstöße von Radlern und Fußgängern nicht mehr zu ahnden, weiß ich nicht. Vermutlich würde das zu neuen Gewohnheiten führen, die mit größerer Sorglosigkeit einhergehen. Und damit schließlich auch zu mehr Unfällen.Vor allem ist es Kindern schwerer zu vermitteln, dass sie bei Rot stehen bleiben sollen, während die Erwachsenen erlaubterweise bei Rot rübergehen.

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    1. Liebe Anonyma, es scheint gerade eben nicht so zu sein, dass das zu größerer Unachtsamkeit führt. Radfahrende missachten ohnehin häufig rote Ampeln. Manchmal übrigens sehen sie sie nicht, so wie Autofahrende rote Amepln nicht sehen, weil sie auf den Verkehr achten. Das Kinderargument ist doch ein vorgeschobenes Argument, das was wir Kindern über den Straßenverkehr vermitteln ist immer: Gefährlich!!!!! Ganz gefährlich!!! Immer abwarten, immer stehen bleiben! Und wenn ein Autofahrer bei Rot fährt, dann macht der das halt.

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  7. Dass der U-Turn von Autofahrern über die Stadtbahngleise permanent zu Unfällen führt, ist doch ein Jahrzehnte langer Dauerzustand.
    Scheint nur niemanden zu interessieren, sonst hätte man an sämtlichen Stellen schon Schranken wie am Bahnübergang eingerichtet, welche sich senken, sobald sich eine Bahn nähert.
    Nichts hilft besser gegen Regelmissachtung als physische Sperren.
    Merke: wo ein Auto parken kann, wird ein Auto parken. Wo ein Auto fahren kann, wird ein Auto fahren.

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  8. Bei dem einen Fußgänger-/Radüberweg in Böblingen warte ich jetzt immer, bis die Autos gehalten haben bevor ich die Fahrbahn quere. Alles andere ist zu gefährlich.
    Ich frage mich, kann man da statt "rot" nicht einfach "gelb" machen, also Fußgänger/Fahrradfahrerampel mit Gelb/Grün.
    Wenn ich weit und breit kein Auto sehe, dürfte ich dann bei Gelb Queren. Das wäre sicherer, als bei "Grün" darauf vertrauen, dass Autofahrende die Ampel beachten und anhalten.

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  9. Interessanter Artikel, aber warum ein Verkehrsteilnehmer für die Fehler der anderen Haften sollte (dies würde ja auch Absicht einschließen) erschließt sich überhaupt nicht und ist eher eine Einladung zu Missachtung von Regeln. Auch warum die Handy-Nutzung bei Radfahrern nicht gefährlicher sein sollte als bei Autofahrern sehe ich nicht, wenn ich von solch einen Radfahrer abgeschossen werden kann das genauso schlimm Enden wie bei einem Crash mit einem Auto.

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    1. Kinetische Energie 1,5t Auto bei typischer Geschwindigkeit von 50km/h 150000kj ( Größenordnung), Radler/in mit Fahrrad 85kg bei typischer Geschwindigkeit von 20km/h 1500kj (auch Größenordnung). Also Auto per se 100 mal gefährlicher als Fahrrad, und das noch bevor man Reaktionszeizen, Bremswege etc. miteinbezieht.

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  10. @marmotte27 Energie ist ein sehr, sehr guter Punkt. Wird m.E. total vernachlässigt. Es stimmt, dass jeder (innerstädtische) Autofahrer ca. die hundertfache Energie verbraucht gegenüber der gleichen Fahrt mit dem Fahrrad. Und das passiert Millionen mal pro Tag allein in D, hochgerechnet kann man durchaus sagen, dass sich allein durch das Sein-Lassen von innerstädischen Autofahrten Milliarden-fach Energie einsparen liesse. War da was bzgl. Energiesparen?

    PS: Ich glaube, du musst das "k" bei "kJ" weglassen. Und zum Vergleich: Eine schwere, absolut tödliche NATO-Maschinenkanone hat eine Mündungsenergie von ca. 190.000 J. Das entspricht durchaus einem SUV mit 50 km/h. Absolut irre und absolut verkannt: Wir beballern unsere Innenstädte dauerhaft mit NATO-Maschinenkanonen.

    S. Schwager, Fürstenfeldbruck, Bayern


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