25. November 2021

Der Ideologievorwurf

 Bei Debatten über Klimaschutz und das Fahrradfahren höre ich oft die Begriffe "Radlobby" und "Ideologie", "Verbotsideologie" oder "Ideologie der Radlobbyisten". 

Mein erster Gedanke ist dann immer: Ja, und du, welcher Ideologie folgst du eigentlich? Der Ideologievorwurf ist eine Form, den politischen Gegner oder die Gegnerin pauschaul abzuwerten und seine/ihre Ansichten als von vorn herein falsch und nicht auf die Wirklichkeit bezogen zu diffamieren. Um eine inhaltliche Auseinandersetzung geht es da nicht, sondern um eine persönliche Abwertung. Das wird auch allgemein so von denjenigen definiert, die sich wissenschaftlich mit diesem rhetorischen Mittel des Ideologievorwurfs befassen. 

Ich glaube, wir sind uns einig, dass wir alle in unserer Art, die Welt zu sehen und zu interpretieren, nicht frei sind von Anpassungen an das, was wir für wahr und richtig halten. Ich habe jedenfalls festgestellt, dass niemand völlig ideologiefrei denkt, also nicht Voraussetzungen von dem, was er/sie für grundsätzlich wahr und richtig hält, mit einfließen in das, was gesagt wird. Interessanterweise kommt der Ideologievorwurf derzeit tendenziell fast ausschließlich von Rechten oder Rechtskonservativen und richtet sich gegen die Bewegnungen, die für Umweltschutz, Klimarettung und eine CO2-arme Mobilität einsetzen, also diejenigen, die der Überzeugung sind, dass unsere althergebrachten Lebensgewohnheiten verändert werden müssen, wenn wir die Bedrohungen durch die Klimaerwärmung ernst nehmen. 

Wir Radler:innen benutzen auch das Wort Auto-Lobby, und diese Lobby gibt es ja wirklich, also diese Vertreter des Wirtschaftszweigs der Autoindustrie, die direkt mit Bundestagsabgeordneten reden und Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen wollen und ohne Zweifel auch in sehr weitreichend nehmen. Er führt dazu, dass wir (und die Politik) glauben, dass die Wirtschaftskraft Deutschlands leidet, wenn weniger Auto gefahren wird. Es gibt natürlich auch eine Interessenvertretung für Radfahrende, darunter der ADFC. Aber heißt das auch gleich Lobby? Und wie viel Durchsetzungskraft hat die? Der Radverkehr ist jedenfalls in Deutschland nicht nennenswert vorangekommen. Keine Stadt und kein Bundesland hat sich entschieden, keine Straßen ohne Radinfrastruktur mehr zu bauen und alle Straßen, wo schneller als 50 km/h Auto gefahren wird, mit Radstreifen oder Radwegen zu versehen. Noch immer wird in den Debatten um Parkplätze gekämpft und für eine Verflüssigung des Autoverkehrs viel Geld ausgegeben und technisch-elektronische Ausrüstung bereitgestellt. 

Es ist übrigens in unserer Demokratie grundsätzlich erwünscht, dass große Gruppen sozusagen Sprecher für ihre Interessen bestimmen und sie zu den Politiker:innen schicken. Wir alle erwarten, dass wir von der Politik gehört werden. Wir alle kämpfen weitgehend für unsere eigenen Interessen. Die Aufgabe der Politik ist es, zu entscheiden, wem man Gehör schenkt und wem nicht. Diese Entscheidung fällt immer noch - ideologisch motiviert - zugunsten des Autoverkehrs (übrigens auch immer zugunsten der Hochtechnologie). Ideologie nenne ich das, weil mir die begründeten Argumente dafür fehlen, dass wir nichts an unserem Mobilitätsverhalten ändern. Ich kenne mehr begründete Argumente dafür, dass wir uns nur dann vor den Folgen der Erderwärmung schützen können, wenn wir unseren CO2-Ausstoß schnell und drastisch verringern. Und ich halte die Tatsache für belegt, dass die Erderhitzung stattfindet. 

7 Kommentare:

  1. "Ideologie" bedeutet vor allem auch, dass ein bestimmter Standpunkt nicht aus sachlichen Erwägungen vertreten wird. Sondern - so wird unterstellt - es geht insgeheim um eine bestimmte Wertung, die aber nicht mitgeteilt wird.

    Besonders kurios, aber auch gefährlich ist der Hinweis auf "Verbotsideologie". Offenbar glauben viele ernsthaft, dass es Menschen gibt, die einfach Freude daran haben, anderen etwas zu verbieten oder vorzuschreiben. Das Schlimme ist, dass die Politiker darauf hereinfallen und tatsächlich immer mehr in wichtigen Dingen klare Regeln scheuen. Wir können nur froh sein, dass es Brandschutzvorschriften, die StVO oder die zwingende Nutzung der Wasser- und Abwasseranschlüsse schon gibt. Heute würde man auf "Freiwilligkeit" setzen und die Toten in Kauf nehmen.

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  2. mein idiologischer Kampf für eine Verkehrswende hat mir einen FDP- Verkehrsminister beschert, der in einem seiner ersten Statements erklärt, man wolle das Auto nicht verdammen, toll! alle Grüne in diesem Blog- gut gemacht, nach einem CDU OB in Stuttgart, jetzt ein FDP Verkehrsminister

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    1. Hallo EF. Ich verstehe gerade Ihre Aussage nicht: Haben Sie eine Partei FÜR die Verkehrswende gewählt (und wenn JA: welche)? oder haben Sie die FDP gewählt ? NEE - im Ernst: Aber wir haben eine eindeutige parlamantarische Mehrheit gegen die Verkehrswende - und davon sind auch Vertreter in der zukünftigen Regierung. Da können Sie keine Wunder erwarten... Auch das ist Demokratie...

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  3. Letztenendes läuft es darauf hinaus, wie man den Menschen und sein Verhalten sieht.
    Und da deuten immer mehr wissenschaftliche und historische Erkenntnisse darauf hin, dass das "rechte", konservative, "wirtschafstfreundliche" Welt- und Menschenbild - der Mensch als gierig, egoistisch, das Leben als Wettbewerb, Konkurrenz, Kampf - und das darauf aufbauende System, Individualismus und Freiheit (zumindest äußerlich und behauptet), wirtschaftlicher Wettbewerb, Wachstum, Kapitalismus, Extraktivismus, Produktivismus... falsch ist. Also Ideologie. Die nun unsere Lebensgrundlagen, den Sinn selbst unseres Daseins, nämlich das "da sein", zerstört.

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  4. Mir erklärte jüngst ein Politiker das "Mobilität ohne Ideologie" vonnöten sei, aber dafür "z.B. mit Wasserstoff".

    Währenddessen musste ich mein neues Haus allein gemäß den ideologisch geforderten Parkplätzen für Autos bauen, die ich nicht fahre, aber vermutlich andere Menschen der gehobenen Mittelklasse für ihr Selbstwertgefühl.

    Der Politiker wurde abgewählt.

    Vin würde sowas vermutlich mit einem Autorennen lösen.

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  5. Den Vorwurf der Ideologie äußern gerne diejenigen Interessenvertreter, die merken, dass sie selbst keine sachlichen Argumente haben. Denn bei einer sachlichen Diskussion würden sie verlieren. Also Diffamieren der Gegenseite und schon geht die Diskussion um ganz andere Dinge und diejenigen, die lauter schreien oder mit langjähriger optimierter Lobbyarbeit den stärkeren Einfluss auf Entscheidungsträger haben, bekommen ihre Interessen durchgesetzt.

    Ich habe daher immer den Verdacht, dass derjenige eigentlich der große Ideologe ist, der der Gegenseite Ideologie vorwirft. Genau hinschauen, empfehle ich.

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  6. Lobbyarbeit und kanalisierte, offene Einflussnahme an sich halte ich für gut und notwendig. Es ist legitim, dass der ADAC für Autofahrer-Interessen und Motorsport eintritt. der FUSS e.V. für Fußgänger, der ADFC für Radfahrer, der VCD für allgemein sinnvolle Verkehrspolitik usw.

    Nur bitte mit Sachargumenten, nicht mit Ideologie-Vorwürfen zur Diffamierung der anderen Interessensgruppen.

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