9. Juli 2023

Berlin bekämpft Radfahren

Ich höre es bis Stuttgart, das erleichterte Seufzen hinter den Windschutzschreiben: Endlich tut mal jemand was gegen die Radfahrer (gendern tut man bei solchen Seufzern nicht). 

Die neue CDU-Verkehrssenatorin lässt Radzeichen auf den Radfahrstreifen zukleben, damit Autos darauf parken können, und hat die Bezirke aufgefordert, alles zu lassen, was dem Radverkehr nützt. Die taz macht sich in einem Artikel weidlich über diese reaktionäre Politik und ihre kruden Begründungen lustig. Aber mir - und vermutlich anderen Radfahrenden - bleibt doch eher das Lachen im Hals stecken.  

Denn das Schlimme ist: die reaktionäre Verkehrspolitik ist eine, die nur einem Viertel der in Berlin lebenden Menschen zugute kommt. Dreivierteln schadet sie. Die letzte Erhebung des Modal-Splits für Berlin stammt aus dem Jahr 2018 (derzeit läuft eine neue) und ergab, dass nur 26 Prozent mit dem Auto fahren, 18 Prozent das Fahrrad nehmen, 30 Prozent zu Fuß gehen und 27 Prozent mit Bus und Bahn fahren, wobei auch die stets Fußgänger:innen sind, weil sie zu den Haltestellen gehen müssen. Diese 75 Prozent sollen sich nun wieder auf den Gehwegen zusammendrängen, so wie das die alte Radinfrastruktur von Berlin vorsah (siehe Foto).

Radfahrende sind in deutschen Städten zwar auch eine Minderheit, aber eine mit dem Potenzial eine mindestens ebenso starke Minderheit zu werden wie heute die Autofahrenden. Dafür brauchen sie Platz, aber viel weniger als Autos brauchen. Je mehr Radfahrende es gibt (und je weniger Autos herumfahren), desto mehr Platz bekommt eine Stadt für Grünflächen und Plätze, wo Menschen sich gerne treffen und aufhalten, wo soziales Leben stattfindet. 

Zugleich sind Fahrräder leiser und erzeugen sehr viel weniger CO2. Ihre Fahrer:innen sind gesünder und kaufkräftiger. Das nützt der Arbeitswelt und Wirtschaft. Und die Radinfrastruktur ist auch viel billiger. Ein Kilometer Radweg/Radstreifen kostet zwischen 200.000 und 900.000 Euro je nach Qualität, ein Kilometer Autostraße kostet zwischen 6 und 20 Millionen (auch mal 100 Millionen, wenn ein Tunnel oder eine Brücke gebaut werden muss). Außerdem kommen Autofahrende für die Kosten, die sie der Gesellschaft aufbürden, nicht annähernd auf. Laut ADAC liegt der Anteil der Steuern bei 20 bis 30 Prozent der Kosten in Höhe von 27 Cent pro Kilometer, die der Autofahrer verursacht (Gesundheitsschäden durch Lärm, Luftverschmutzung und Bewegungsmangel bei anderen und dem Fahrer selbst). Schließlich bindet das Auto sehr viel Geld derer, die es besitzen. Es kommt den internationalen  Öl- und Autokonzernen zugute, während Radfahrende mehr Geld in Läden, Restaurants, Cafés und kulturellen Veranstaltungen ausgeben können, es also der Stadt und ihren Bewohner:innen zurückgeben. 

Den Radverkehr zu fördern ist also für eine Stadt ökonomisch sinnvoll. Es nicht zu tun ist wirtschaftlich töricht. Und da sind die Gewinne durch den extrem viel geringeren ökologischen Fußabdruck des Radfahrens gegenüber dem Autofahren noch nicht mit eingerechnet, die in in wenigen Jahrzehnten unseren Kindern und Kindeskindern zugute kommen. Eine Stadt, die das Radfahren behindert, verschleudert Geld und gefährdet die eigenen Klimaziele, falls sie welche hat. Sie schadet allen Menschen, die in ihr leben, auch denen, die Auto fahren wollen oder müssen, denn sie sorgt für von Autos verstopfte Straßen. 

Zwischen 8000 und 13 000 Radfahrende haben am Wochende 2/3. Juli gegen die Verkehrspolitik des Beriner Senats protestiert. Und die Deutsche Umwelthilfer hat ein erstes Rechtsverfahren  gegen den Rückbau eines Radwegs in Reinickendorf ist bereits auf den Weg gebracht.

Nachtrag: Die Umwelthilfe hat mit einem Eilantrag erreicht, dass der fast fertige Radstreifen in Berlin-Reinickendorf nun doch fertiggestellt wird. Die Berliner Verkehrsverwaltung behauptet, er habe nicht infrage gestanden. 

16 Kommentare:

  1. oh, das ist ja schrecklich.

    berlin war letztes jahr richtig toll, mit seinen vielen neuen radspuren.

    und eigentlich gibt es dort doch eine mehrheit der vernünftigen...
    wie kann in so einer situation ein reaktionärer an die macht kommen?
    haben die sich womöglich rad aus stuttgart geholt?

    karl g. fahr

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  2. Ich finden den Verkehrsfrieden in Berlin nun wirklich gut: Es ist halt wichtig, alle Beteiligten mitzunehmen und nicht die einzelnen Gruppen gegeneinander auszuspielen.

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    1. Das kannst du nur ironisch meinen, denn Frieden kann nicht der erklären, der sich unfriedlich verhält, in diesem Fall der Autoverkehr. Denn der dominiert den Straßenverkehr und drängt Radfahrende und Fußgänger:innen an den Rand, lässt sie lange an Ampeln warten und verletzt und tötet sie, wenn sich Autofahrende nicht an die Regeln halten oder ihnen Radfahrende so gleichgültig sind, dass sie sie nicht sehen oder sehen und trotzdem anfahren.

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    2. Wenn man Frieden möchte, sollte man nicht hasserfüllt auf die andere Gruppe zeigen - dann wird das nie etwas. Aber das kann ja auch eine Strategie sein. So wie offensichtlich in Berlin:
      https://www.bz-berlin.de/meinung/kolumne/der-schwarze-peter/online-okdie-rad-aktivisten-sind-vor-allem-egoisten

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    3. In dem Zusammenhang kann man auch auf den MP von BW hinweisen:
      https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kritik-an-kulturkampf-gegen-das-auto-kretschmann-fordert-die-gruenen-zur-kurskorrektur-auf.fd459506-2fc2-4360-8f8d-14c2778b4f7c.html

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    4. Oh, eine Critical Mass in Berlin, wie es sie auch in Stuttgart gibt. Dazu kann ich mehrere Sachen sagen:

      1.) Es hat nichts mit Hass zu tun, es ist eine politische Demonstration, und eine Demonstration hat immer die Eigenschaft, einen Aufzuhalten, unabhängig ob sie von der AfD (Heißer Herbst), Busunternehmen (Dieselpreise letztes Jahr), Gewerkschaften (Tarifkampf) oder Umweltgruppen (Fridays for Future) statt finden. Es gibt natürlich Regeln, an die man sich halten muss (zum Beispiel das, was die Letzte Generation macht ist nicht I.O.), aber ansonsten ist das ein Recht, das jeder Mitmensch wahrnehmen kann (solange man sich an die Regeln hält).

      2.) Interessant an dem Artikel finde ich auch, dass er sich gar nicht damit auseinander setzt, was alles die Straßen blockiert. Neben der Critical Mass sind das auch vermeidbare Poserunfälle oder 40% der Autofahrten, die nur in der Freizeit statt finden und auch Staus verursachen. 20 Minuten Wartezeit finde ich dagegen echt human.

      Ich finde, dieser Artikel zeigt den Konflikt differenzierter: https://www.spiegel.de/wirtschaft/service/mobilitaet-tempolimit-und-ausbau-der-autobahnen-deutschlands-kulturkampf-ums-auto-a-efa9ec0d-f9d8-4b70-a20b-292404f02539 - Spiegelleitartikel "Vom Fetisch zum Feindbild" vom 24.02.2023.

      3.) Der Grund warum ich teil nehme: Ich lebe als Elektroniker-Azubi in einer kleinen Dachgeschosswohnung in einem WG-Zimmer, das fast so groß ist, wie ein Autoparkplatz (12m²). Ich finde es egoistisch, dass Menschen den öffentlichen Raum pro Fahrzeug privat so in Anspruch nehmen, wie mein Zimmer groß ist. Wenn ich aber eine Werkbank aufstellen und an einem Projekt arbeiten möchte auf einem Parkplatz, bekomme ich dagegen ein Problem. Zusätzlich kommt dazu:
      - Die Anzahl der privaten PKW nimmt ständig zu, dazu werden sie immer größer. Ich weiß nicht wo die alle stehen sollen. Gebäude abreißen und weiter auseinander bauen geht schlecht.
      - Die Sommer werden immer heißer. Ich habe mich aufgrund der Umwelt bis vorgestern gegen ein Klimagerät entschieden, aber ich habe morgen meine Abschlussprüfung und ich kann einfach nicht bei 25°C schlafen. Für kühlere Städte müsste man mehr Grün in die Stadt bekommen, und ich finde, Autoparkplätze und -Spuren wären dafür die idealen Plätze. (Morgen sind 36°C bei der Prüfung angesagt: Ich will nichts mehr nach dem Motto: "Die junge Generation soll mal arbeiten gehen" hören)
      - Radfahren ist zwar relativ sicher, aber wenn was falsch läuft, verlieren wir immer gegen das Auto. Alleine Überholabstände sind ein wichtiges Thema, denn die Kräfte eines PKWs (Drück-und Ziehkräfte) sorgen für ein subjektives Gefahrengefühl. Darauf muss aufmerksam gemacht werden, und zwar bei 3/4 aller Autofahrer*innen: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.radfahren-in-stuttgart-radler-werden-meist-zu-eng-ueberholt.99a4a6ba-686b-4b24-bb52-03f60164ee50.html .
      - Laut dem IPCC müssen wir dringend etwas gegen den Klimawandel machen, aber da komme ich mir schon fast wie eine Schallplatte mit Sprung vor.

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    5. so wird das nie was - immer nur noch mehr Vorwürfe

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    6. Vorwürfe, oder wie ich es sehe: Argumentation für ein Änderung der Art wie wir zusammen leben, kann man durchaus entgegnen und sogar entkräftigen durch eine sachliche Gegenargumentation.

      Bei "die junge Generation soll mal arbeiten gehen" (was komischerweise immer in einer Klimadiskussion kommt, warum auch immer) zeige ich zum Beispiel meinen Firmenchip, Azubiausweis oder meinen IG-Metall Mitgliedskarte, um das zu entkräften. Und einen Kranführerschein habe ich auch nicht ohne Grund.

      Aber jetzt bist du an der Reihe.

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    7. Liebe/s/r Anonym, erklären sie bitte mal kurz warum sie die aktuelle Lage in Berlin nun gerade für "Verkehrsfrieden" halten, auch was sie an den Argumenten oben für "immer noch mehr Vorwürfe" halten. Dann könnten wir hier inhaltlich reden. Mit ihren bisher leeren Phrasen Zeit zu verbringen, lohnt sich dagegen nicht.

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    8. Die, die die Macht haben - die Autofahrenden auf unserer Straße - können niemals den "Frieden" erklären, denn das ist gleichbedeutend mit: Hört auf mit eurem Protest. Den "Verkehrsfrieden" können nur Radfahrende und zu Fuß Gehende ausrufen, denn sie sind die Opfer im Straßenverkehr (sie werden ganz konkret verletzt oder getötet von Autofahrenden). Wenn man Frieden schließen will, muss man mit der anderen Seite verhandeln und ihr auch etwas anbieten. Anders geht es nicht.

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  3. Soweit ich weiß, soll demnächst das Klimaschutzgesetz dahingehend geändert werden, dass der Verkehr darin weitestgehend keine Rolle mehr spielt. Das ist eine weitere erfolgreiche Maßnahme, die *Fakten* bzgl. des Verkehrs, die ja offenbar ein Tabu-Thema sind, unter dem Teppich zu halten. Dadurch kann das Thema Verkehr auch weiterhin auf einem Ideologie-Niveau gehalten werden, frei von evtl. unangenehmen Wahrheiten, und es kann von "Frieden" gesprochen werden, während alles seinen gewohnten Gang geht. Es geht definitiv zurück in eine Prä-Abgasskandal-Zeit.

    Stefan, Fürstnfeldbruck, Bayern

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  4. In Stuttgart nur inoffiziell... heute war den Kfzler wieder zu heiß: 2x rechts vor links, 3 mal in Engstellen bei linksseitiger Beparkung vom Gegenverkehr abgedrängt, 2 mal trotz Handzeichen beim linksabbiegen in von roter Ampel überholt. Alles in 30er Zonen.
    Inoffiziell, weil Anzeigen zwecklos.
    Gruß Georg

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  5. "Denn das Schlimme ist: die reaktionäre Verkehrspolitik ist eine, die nur einem Viertel der in Berlin lebenden Menschen zugute kommt. Dreivierteln schadet sie."

    Ich würde eigentlich behaupten, dass sie auch dem angesprochenen Viertel schadet, oder nicht? Mehr Schadstoffe und Lärm + Klimaerhitzung bekommen ja auch die ab, die ein Auto besitzen und fahren.

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    1. Habe ich am Ende des Artikels ja auch so formuliert. Autofahren schadet auch denen, die Auto fahren.

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  6. Jörg
    Vielleicht hören die Berliner demnächst auf die Schwaben und kopieren unseren Charlottenplatz und die Kreuzung am Bahnhof und wo die Friedrichstraße lang läuft, nehmen die Konrad-Adenauer-Straße als Vorbild. Mit unserer Friedrichstraße erwecken wir in Berlin sicherlich Neid.
    An den Friedrichstraßen sieht man wie gemütlich oder ungemütlich so eine Straße sein kann. Seht ihr wie dort in Schwaben der Handel und das Stadtleben dank der vielen Autos floriert?

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  7. Ließt sich wie die Gegenbewegung zu den Klimaklebern... Parken gegen das Klima...

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