Auf Fußgänger:innen schimpft niemand, auf Autofahrende auch nicht. Auf Radfahrende schimpfen - gefühlt - alle. Radfahrende darf man auch direkt beschimpfen. Warum eigentlich?
Die Artikel sind zahlreich, in denen von "Kampfradlern", "Rüpelradlern" oder von beispielhaft aggressiven Radfahrenden die Rede ist. Oder es wird ausführlich beschrieben, welche Radtypen die Autofahrenden nerven (eigentlich alle). Radfahrende hassen geht immer. Den Zeitungsartikel, wo drin steht, welche Autofahrertypen Fußgänger:innen und Radfahrende nerven (und vor allem gefährden), habe ich noch nicht gefunden. Eigentlich seltsam.
Während die zivilisierte Gesellschaft es als richtig akzeptiert, dass wir nicht auf Menschen anderer Herkunft oder anderer sozialer Stellung oder Lebensweise hemmungslos schimpfen, ihnen Böses zurufen oder über sie verallgemeinernde negative Aussagen machen, lassen sich selbst gebildete, gut erzogene und an sich kultivierte und friedliche Menschen sofort darauf ein, hochemotional über Radfahrende zu schimpfen, sobald die Rede auf sie kommt.
"Die halten NIE an Zebrastreifen", "Die fahren IMMER über Rot.", "Die halten sich an KEINE Verkehrsregeln." Dabei wissen wir doch: Verallgemeinerungen stimmen nie. Mitglieder einer Gruppe dürfen und können nicht nicht für das Fehlverhalten einzelner aus dieser Gruppe verantwortlich gemacht werden. Und wenn man das doch tut, dann ist das ein Kennzeichen dafür, dass diese Gruppe als Minderheit, als nicht zur Norm gehörig angesehen und zudem verachtet wird.Der Sozialwissenschaflter Stan Cohen hat ein solches Verhalten in den sechziger Jahren "moralische Panik" genannt. Die Gesellschaft reagiert auf abweichendes Verhalten kleinerer oder größerer Gruppen vom allgemeinen Verhalten mit einer Aufregung, die in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Vorkommnissen steht. Es ist eine Art Hysterie und Überreaktion, die von den Medien befeuert wird. In unserer Verkehrswelt werden vor allem Radfahrende zu Verkehrssünder:innen erklärt und zu Sündenböcken gemacht für alles, was in der Verkehrswelt schief läuft. Sofort ist der neue Radweg für den Autostau verantwortlich (den es vorher auch gab), und Fahrradstraßen ohne Autos vertreiben Kund:innen, die vorher auch nicht kamen. Wie es im Psychologielehrbuch heißt: Zu Sündenböcken werden Menschen oder Gruppen gemacht, wenn die aus Frustration entstandene Aggression gegen den eigentlichen Verursacher des Ärgers nicht möglich ist. Wer anderen die Rolle des Bösen zuweist, kann sich zudem vor seiner eigenen Verantwortung drücken.
Wer ist in unserer Verkehrswelt also der eigentlich Verursacher des Ärgers, sowohl unter Autofahrenden, als auch unter Fußgänger:innen und Radfahrenden? Autofahrende ärgern sich über Staus, über andere Autofahrer und darüber, dass andere Autofahrende sie daran hindern, so schnell voranzukommen wie sie wollen. Aber sie schimpfen auf Radfahrende. Fußgänger:innen ärgern sich nicht über andere Fußgänger:innen, sondern darüber, dass sie an Ampeln ewig lange stehen müssen, damit der Autoverkehr rollt, über lange Umwege, um über eine Straße zu kommen, darüber, dass ein Autofahrer am Zebrastreifen nicht gehalten hat, sie sind unzufrieden mit Lärm und Abgasen, aber sie schimpfen auf Radfahrende. Die absolute Herrschaft des Autos, des Autoverkehrs und der Autofahrenden ist den meisten nicht bewusst, sie erscheint normal. Was sie infrage stellt - das Radfahren - erscheint als unnormal und als gesellschaftliches Außenseitertum. Die meisten Menschen identifizieren sich deshalb mit den Bedürfnissen von Autofahrenden, selbst dann, wenn es nicht ihre eigenen sind.
So verfemte Minderheiten können allerdings auch davon profitieren. Sie schließen sich zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammen und werden damit zunehmend faszinierend für andere, die sich von der langweiligen Normalität absetzen wollen. Je attraktiver das Radfahren wird, desto normaler wird es dann, und die Gruppe, die man mit dem Geschimpfe ausgrenzen will, wird immer größer und stärker.
Auch Radfahren kann mehr und mehr normal werden. Es kann - wie man in Städten wie Kopenhagen oder Paris sieht - zu einem Mehrheitsverhalten werden. Dass Radfahren Regeln braucht, wird dann anders verhandelt werden, vernünftiger. In den Niederlanden hebt man die Hand, um Radfahrenden hinter einem anzuzeigen, dass man anhalten wird. Auch deutliche Richtungsanzeigen werden um so wichtiger, je mehr Radfahrende unterwegs sind. Immer mehr Menschen merken, dass die Verkehrsregeln für den Autoverkehr für den Radverkehr vielfach nicht passen und einige auch gar nicht nötig sind. Es wird sich die Einsicht durchsetzen, dass man an viel mehr Kreuzungen Grüne Pfeile für Radfahrende aufhängen kann. Und wenn man Radfahrthemen nicht zuerst hochemotional und aufgeregt verhandeln würde, könnte man anfangen darüber nachzudenken, ob Tempo 30 in Städten nicht wirklich für alle besser wäre und ob im Gegenzug bei Pedelecs die Unterstützung von bisher 25 km/h auf 30 km/h erhöht werden könnte, damit schnelle Radler:innen auf den Fahrbahnen fahren, während langsamere die Radwege benutzen können.
Das stimmt so nicht, Fußgänger:innen werden sehr wohl beschimpft (oder weggeklingelt), von Radfahrern, die auf Gehwegen oder in Grünanlagen unterwegs sind. Und zumindest ich als Fußgänger, beschimpfe auch Autofahrende, die einem mit Lärm und Gestank das Leben vermiesen, den gesamten öffentlichen Raum für sich beanspruchen.
AntwortenLöschenLeider haben Sie recht, natürlich werden auch Fußgänger von Radfahrern beschimpft und angeklingelt, und das auch auf eigentlich dem Fußverkehr gewidmeten Flächen. Aber es sind eben auch Fußgänger die Radfahrer beschimpfen, oder auch mal mit einem Stockschirm bedrohen, und das auf Flächen die exklusiv dem Radverkehr gewidmet sind.
LöschenDer Unterschied ist nicht das Verhalten, wäre auch komisch, denn die beiden Gruppen rekrutieren sich aus einem sehr ähnlichen Querschnitt der Bevölkerung. Es ist das was in der Gesellschaft und in vielen Medien daraus gemacht wird. In einem Fall sind es aggressive Einzelpersonen, deren Fehlverhalten keine Berichterstattung rechtfertigt im anderen sind des Rüpelradler die für die ganze Gruppe stehen.
Was Beschimpfungen angeht, habe ich bisher Morddrohungen ("... beim nächsten Mal ...") immer nur von Kraftfahrern bekommen, nie (oder jedenfalls so gut es die Erinnerung hergibt nie) von Fußgängern oder Radfahrern. Und es fühlt sich auch nicht optimal an, so jemanden irgendwo hinter sich oder in der Nähe zu wissen. Das heißt natürlich nicht, dass einfache Beschimpfungen vernachlässigbar wären, kann aber helfen einmal die Skalen einzustellen.
LöschenIch persönlich kriege als Fußgänger auch wesentlich weniger Angst durch sich schnell näherndes Klingeln verglichen mit vielen Situationen die sicher nicht nur ich einigermaßen regelmäßig mit Kraftfahrern erleben muss.
Ganz symmetrisch ist es wahrscheinlich auch zwischen Radfahrern und Fußgängern nicht. Von vorsätzlichen "Unfällen" habe ich zumindest bisher eher in eine Richtung gehört (ggf. auch subjektiv, was einem auffällt). Die krassen Beispiele -- zum Beispiel den Stock oder Schirm ins Rad zum Glück selten. Absichtliches umrempeln und in den Weg treten auf Radinfrastruktur habe ich schon erlebt (absichtlich, um einen zu "stoppen" und zurechtzuweisen). Bei Fahrlässigkeit würde ich sagen, sieht es wieder anders aus -- suggeriert (für mich) zumindest die recht ausgeglichene Verkehrsunfallstatistik von Unfällen zwischen Radfahrerinnen und Fußgängerinnen nach Verursachern.
Ich kann dem oberen Kommentar nur zustimmen. Und den Artikel in der Frankfurter Rundschau erscheint mir ein wenig polemisch, aber doch auch zutreffend,da sich die
AntwortenLöschenAussagen auch mit meinen Beobachtungen oft decken.Ausserdem musste ich auch schmunzeln. Ich denke das wir Radfahrer ruhig mal inne halten könnten, um uns an der eigenen Nase zu fassen, statt uns immer zum Opfer hoch zu pushen.
Schönen Sonntag , Andreas passionierter Radfahrer, b. B. auch Stadtmobil
Ich finde Ihren Aufruf ein bisschen problematisch. Natürlich gibt es Fehlverhalten einiger Radfahrer, wie aller anderer Verkehrsteilnehmer auch ABER: ich bin als Autofahrer nur für mein Fehlverhalten verantwortlich, ich bin als Fußgänger nur für mein Fehlverhalten verantwortlich,
Löschenund ich bin als Radfahrer nur für mein Fehlverhalten verantwortlich. Dummerweise führen Berichte über Ramboradler dazu, dass einige andere Verkehrsteilnehmer meinen man müsste Radfahrer nicht ihre vollen Rechte nach StVO gönnen, und wenn das angesprochen wird, sollen sie sich nicht so haben weil irgendwo ein anderer Radfahrer ja gerade über eine rote Ampel fährt. Leider wurde mir mit genau solchen Begründungen schon mehrfach der Vorrang genommen, viele Situationen waren nur lästig, einige gefährlich. Viele Situationen in denen Radfahrer eine Situation beschreiben, in der sie sich als Opfer sehen, waren objektiv gefährlich, und das wird nicht anders, nur weil irgendwo einer durch eine Fußgängerzone radelt.
es gibt natürlich auch bei Radlern völlig verpeilte, welche überhaupt gar kein Gespür
AntwortenLöschenfür verkehrliche Situationen haben und nur das eigene Vorwärtskommen im Sinn haben. Nach meinen Beobachtungen hängt unter anderen vom Alter ab.
Tho
Und sofort wird irgendwie reflexhaft versucht, sogar von (zumindest vorgeblichen) Radfahrern, Nachgewiesenes wegzudiskutieren. Warum?
AntwortenLöschenAuf Radfahrende schimpfen geht halt immer. Und dass sich Fußgänger:innen über Gehwegradler:innen saumäßig ärgern, das verstehe ich nur zu gut. Ich ärgerer mich da auch. Meistens muss die Gehwegfahrt nicht sein. Mir fällt halt nur auf, dass die Medien sich auf die Radfahrenden stürzen, nicht aber in gleichem Maß auf rasende Autofahrende, die ja wirklich eine Todesgefahr für andere darstellen, oder auf dieses notorische Falschparken, was Schulwege für Kinder schwierig und gefährlich macht. Und wie oft erzählt mir jemand eine ungeheuerliche Begegnung mit einem Radfahrer, wenn ich sage, das ich mit dem Fahrrad gekommen bin, und wie selten (eigentlich nie) erzählt jemand eine ungeheuerliche Begegnung mit einem Autofahrer, wenn ein anderer sagt, er sei mit dem Auto gekommen? Wir neigen dazu, das Verhalten von Radfahrenden sehr schnell zu skandalisieren, aber nicht das von Autofahrenden. Und wohlgemerkt, Regelverstöße begehen alle gleichermaßen, nicht etwa die Radfahrenden mehr als die Autofahrenden.
AntwortenLöschenstimmt
LöschenThomas
Ja, ja die heiligen Autofahrer! Wenn ich sehe wieviel € verschwendet werden, damit die Autofahrer auf der Infrastruktur bleiben die für Sie vorgesehen ist könnte ich kot...
AntwortenLöschenIst es in Stuttgart eigentlich immer noch üblich, dass die Fahrradwege einfach so aufhören und man sich als Radfahrer dann entscheiden muss, regelwidrig sichere Fußverkehrsanlagen oder regelkonform gefährliche Fahrbahnen zu benutzen, oder das nächste Mal besser ganz aufs Rad zu verzichten?
AntwortenLöschenJa, das ist immer noch üblich, obgleich die Radinfrastruktur schon viel besser geworden ist. Für nicht so mutige oder geübte Radfahrende ist es immer noch schwierig, in einen Kreisverkehr einzufahren, wenn der Radstreifen kurz vorher aufhört, etliche flüchten dann auf Gehwege. 70 Prozent der Stadt sind Tempo-30-Zone, da radelt man so gut wie immer im Mischverkehr. Kinder sieht man da halt aber auch nicht alleine radeln, denn die Eltern empfinden das als zu gefährlich. Die Kreuzungen sind zugeparkt, Autofahrende sehen Kinder auf Rädern nicht, die Kinder sehen nicht, was von rechts kommt.
LöschenHabe es in den letzten Wochen mindestens zweimal erlebt, dass ich von älteren Frauen grundlos angemotzt wurde (Fahrradspur neben dem Fußgängerüberweg oder beim Absteigen auf der Königsstrasse).
AntwortenLöschenDas war neu für mich. Keine Ahnung woher das kommt? Radikalisierung in der Apothekenumschau?
Im Übrigen nach Jahren der Beschimpfungen, negativer Artikel etc. rücksichtsvoller ggb. Fußgängern fordere aber Respekt von den Autofahrern bzw nehme mir den Platz (so hab ich die Respekt-Kampagne der Stadt umgesetzt)