Dass der Autoverkehr regelmäßig Menschen opfert, lesen wir so nicht. Niemand sagt, dass "wir dem Autoverkehr über zweitausend Menschen im Jahr opfern". Jedoch taucht das Substantiv für die so Geopferten als "Verkehrsopfer" oder "Unfallopfer" auf. Die Konzentration auf das Objekt der Opferung, das Opfer, hat den Vorteil, dass wir keine Akteure benennen müssen, keine handelnden Personen, keine Täter:innen, nicht die Priester:innen, die ihm Namen einer Gottheit das Opfer verlangen. Auch der Autoverkehr, der Menschen opfert, ist übrigens letztlich keine handelnde Person (wenngleich ein System, das wir aufrecht erhalten). Also bleiben nur noch die Opfer des Straßenverkehrs übrig.
Wir benutzen das Wort so, als hätten wir kein anderes Wort dafür. Im Englischen wird unterschieden zwischen "victim" (Leidtragende:r Geschädigte:r, Verunglückte:r) und "sacrifice" (Opfer als Akt) und "to be sacrificed" (geopfert werden), also zwischen dem religiös-kulturellen Akt des Opferns und den Folgen eines Unglücks oder Gewaltakts. Dass wir diesen Unterschied im Deutschen nicht machen, hat Folgen für unsere Akzeptanz von Opfern im Straßenverkehr.
Wie heikel unsere Indifferenz ist, beschreibt der Kulturtheoretiker Wolfang Müller-Funk: "Das Opfer ist ein geheiligter Mord, an Tier und Mensch, an Freund und Feind. Bezeichnenderweise verknüpft die deutsche Sprache zwei Aspekte umstandslos durch das gleiche Wort. Im Deutschen meint "Opfer" den Akt, die Opferhandlung sowie - das zeigt auch an der säkularen Ausweitung des Opferbegriffs (Verkehrsopfer, Opfer eine Katastrophe, Kriegsopfer) - die Person, die im Akt der Opferung zum Objekt wird (...) Das gibt der Opferhandlung ihren unauflöslichen Doppelcharakter: Sie ist schuldiges Handeln und zugleich heiliger Akt, als Gewalt so legitim wie illegitim. Das setzt aber voraus, dass das Opfer ein kollektiver Akt ist, der sich im symbolischen Einverständnis des Kollektivs vollzieht." (Müller-Funk: Kulturtheorie, 2010, S.263)
Auch wir könnten bei Zusammenstößen im Straßenverkehr von "Leidtragenden", "Geschädigten" oder "Getöteten" reden und schreiben. Unsere Sprache gibt das her. Aber wir bleiben bei "Opfer". Das Wort entpersönlicht den Akt des Verletzens oder Tötens durch Autofahrende, es entrückt ihn die Sphäre eines nahezu unvermeidlichen kulturell akzeptierten Diensts an einem System. Im System Autoverkehr hat der einzelne Fahrer oder die Fahrerin keine Verantwortung mehr. Die Medien neigen - unser Einverständnis vorausgesetzt - dazu, die Folgen des Autofahrens zu verharmlosen, indem sie die Ausführenden, die Fahrer:innen nicht benennen. Wir alle flüchten uns sprachlich in eine Aura der Schicksalhaftigkeit und bekräftigen damit unsere gesellschaftliche Übereinkunft, dass die Toten (und Verletzten) im Straßenverkehr in Kauf genommen werden müssen, weil wir an der Art, wie wir unsere aufs Auto zentrierte Mobilität organisieren, nichts ändern wollen. Oder anders herum: Weil wir nebulös von "Opfern" reden und schreiben, gehen uns die Verantwortlichen für die Todesfälle verloren. Wir sehen sie nicht mehr.
Das ist ein sehr kluger Beitrag über Zusammenhänge, von denen ich wünsche, dass sie endlich mehr und mehr Leuten bewusst werden. Damit das Töten und Verletzen - nicht nur von Menschen übrigens - aufhört.
AntwortenLöschenDanke.
LöschenJa.
AntwortenLöschenIm englischen Sprachraum gibt es den Begriff 'carblindness', der das recht gut auf den Punkt bringt.Siehe zB:
https://www.forbes.com/sites/carltonreid/2023/01/17/car-blindness-normalizes-dangers-of-motoring-reveals-study/
Ja, darüber habe ich auch schon mal geschrieben. https://dasfahrradblog.blogspot.com/2022/11/wir-sind-blind-geworden-fur-autos.html
LöschenDas ist eine Folge des unfassbaren Selbstverständnis, das das Auto heute noch besitzt. Autos gelten als unverzichtbar und als Zeichen persönlicher Freiheit und Status. Diese Wahrnehmung führt dazu, dass die Risiken und negativen Auswirkungen des Autoverkehrs häufig unterschätzt oder als unvermeidbar angesehen werden. Siehe auch die völlig ideologisch aufgeladene Diskussionen um ein dringend notwendiges Tempolimit. Auch da nimmt man "Opfer" bewusst in Kauf.
AntwortenLöschen"Im Jahr 2023 starben in Deutschland 2.830 Menschen bei Verkehrsunfällen. Eine bedeutende Ursache für tödliche Unfälle war nicht angepasste Geschwindigkeit. Nach vorläufigen Daten des Statistischen Bundesamtes war unangepasste Geschwindigkeit bei rund 46% der Verkehrstoten auf Autobahnen mitverantwortlich."
Ein Top-Artikel
AntwortenLöschenDanke!
Thomas