20. Februar 2025

Radweg ist, wo Räder fahren?

Für die meisten Menschen scheint ein Radweg alles zu sein, wo sie Räder fahren sehen und selber mit dem Rad fahren können. 

So kommt auch die Behauptung in Kessel-TV zustande, dass der Neckarbrücke-Radweg an einer Treppe ende. Stimmt, die Brücke endet bergauf immer noch an dieser Treppe, und das ist ärgerlich, man kann sie aber auf neuem Radweg runter Richtung Wilhelma-Kreuzung fahren. Die Brücke selbst ist aber (zumindest noch) kein Radweg, sondern nur ein Gehweg, der fürs Radfahren freigegeben ist. Das heißt: Es gilt Schrittgeschwindigkeit, und zwar immer, auch dann, wenn keine Menschen zu Fuß unterwegs sind. Leute wegklingeln, ist tabu. 

Diesen Irrtum begeht zuweilen auch die Polizei, wenn sie Radfahrende von einer Fahrbahn auf den Gehweg schickt, mit der Behauptung, der sei der Radweg. Es gibt sogar Beamte (bezeugt), die behaupten, man dürfen auf einem Gehweg radeln, der nicht als Gehweg gekennzeichnet ist. Was für ein Kennzeichen sie sich vorstellen, bleibt dabei rätselhaft, denn ein Gehweg definiert sich durch Bordstein und Häuserwände oder Zäune als Gehweg und ist dann verboten für Autos und Fahrräder. Nur wenn er fürs Radfahren freigegeben wird, steht da der blaue Fußgänger-Lolli mit dem Schild "Rad frei" darunter. 

Den Irrtum begehen auch so manche Autofahrende, die mich anhupen, wenn ich auf der Hofener Straße auf der Fahrbahn radle, weil sie denken, der Gehweg sei der Radweg, denn dort sehen sie ja die meisten Leute radeln. Der Irrtum darüber, dass freigegebene Gehwege keine Radwege sind, dürfte auch der Grund dafür sein, dass ich immer wieder die Behauptung lese und höre, Radfahrende würden ja gar nicht auf den Radwegen radeln, sondern Autofahrende auf Fahrbahnen ärgern. 

Dieser Irrtum sitzt aber auch tief in den Behörden. 

Es scheint die stillschweigende Übereinkunft zu herrschen, dass freigegeben Gehwege als Radwege genutzt werden dürfen und müssen, zum Radwegnetz dazu gehören und Teil von Radpendelstrecken sind, auf denen niemals langsam geradelt wird. Ich habe die Polizei noch nie am Neckardamm zwischen Cannstatt und Hofen stehen und Radfahrende anhalten sehen, die schneller als 7 km/h gefahren sind (also alle). Denn würde das passieren, gäbe es einen Aufschrei unter Radfahrenden, und die Stadtverwaltung (und die Politik) stünde unter Druck, endlich eine echte Radinfrastruktur anzubieten. Also duldet man den Rechtsverstoß. Unser Verkehrssystem für Radfahrende bemüht sich außerdem mit aller Macht, diesen Irrtum aufrecht zu erhalten. Etwa, indem rot markierte Radstreifen über beampelte Straßeneinmündungen führen, auf die man aber nur auf einem freigegebenen Gehweg heranradeln kann und keineswegs auf einem Radweg kommt. Beliebt sind auch Radwege, die nach der Ampel zu Gehwegen mit Radfreigabe werden und für die es keine Alternative gibt, wie an der Heilbronner Straße (Foto unten). Und kein Radler und keine Radlerin fährt da Schrittgeschwindigkeit. Sie und die armen Menschen zu Fuß haben den Eindruck, dies sei ein Radweg, weil sie unter dem runden blauen Fußgängerschild ein weißes viereckiges Schild mit einem Fahrrad darauf gesehen haben, und Fahrrad auf Schild bedeutet halt Radweg. Weil wir in Stuttgart über mehr als hundert Kilometer über solche Gehwege geschickt werden, erscheinen etlichen Radfahrenden alle Gehwege Radwege zu sein, auch wenn sie es nicht sind. 

Passiert jedoch ein Zusammenstoß auf so einer irrtümlich für einen Radweg gehaltenen Infrastruktur von Fahrrad mit einem Fußgänger, dann wird uns die Polizei die ganze Schuld geben, und stoßen wir auf einem rot markierten Überweg mit einem Auto zusammen, dann bekommen wir eine Mitschuld, weil wir ja beim Heranfahren Schrittgeschwindigkeit hätten fahren müssen, was wir sicher nicht getan haben. 

Dass wir unsere freigebenen Gehwege als Radwege ansehen, hat noch andere Folgen. Wenn Fußgänger:innen ständig erleben, dass sich Radfahrende zwischen ihnen durchschlängeln - auf gemischten Geh- und Radwegen oder auf freigegebenen Fußgängerflächen - haben auch sie den Eindruck, dass ein Radweg auch ein Gehweg für sie ist und spazieren darauf entlang. Sie sind ebenso erbost, wenn man sie darauf aufmerksam macht, dass dies kein Gehweg ist, wie Radfahrende erbost sind, wenn man ihnen sagt, dass ein Gehweg kein Radweg ist und sie auf einem freigegebenen Gehweg nicht im Rennradlertempo an Fußgänger:innen vorbeizischen dürfen. 

Dahinter steckt eine ideologische Agenda, die den Radverkehr von Fahrbahnen fernhalten will und Fußgänger:innen und Radfahrende auf kleinen Flächen zusammendrängt, wo sie dann die Konflikte untereinander austragen, die sie eigentlich mit dem platzraubenden und gefährlichen Autoverkehr austragen müssten. 

8 Kommentare:

  1. Liebe Christine,
    dein letzter Absatz fasst die Ursache für das ganze Elend der Verkehrsplanung hervorragend zusammen.
    Thomas

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  2. Sehr gut zusammengefasst. Das Hauptproblem ist, dass dem Autoverkehr die größte Verkehrsfläche eingeräumt wird und Geh- und Radverkehr oft auf gemeinsame Rest-Verkehrsflächen gedrängt werden. Durchbricht mal ein Radfahrer dieses System, in dem er StVO-konform (!) die Fahrbahn nutzt, gilt das für viele schon als Protestaktion. Ganz genau, StVO-konformes Fahren wird als Protest gewertet, weil in vielen Köpfen die Ansicht "Car first" herrscht. Und das zieht sich durch die gesamte Gesellschaft, bis hin zu Polizei und Justiz. Unerträglich.

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  3. Das buchstäbliche Recht des Stärkeren. Hier und überall sonst in der Gesellschaft und Politik. Immer offener und unverschämter. Wie unverschämt, werden wir am Sonntag, und in den Wochen danach sehen (bzw. sehen es im Ausland schon jetzt).

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  4. In Tübingen setzt die Verkehrsplanung auf sogenannte "Shared Spaces", statt Radwege auszuweisen. In der Theorie mag das ja eine gute Sache sein, wenn alle Verkehrsteilnehmer aufeinander aufpassen müssen. Aber in der Realität geht es immer zu Lasten des jeweils Schwächeren:
    Wenn wieder jemand mit dem Handy am Steuer unterwegs ist, muss der Radfahrende dran glauben. Den Fußgängern geht es dann ähnlich mit den Radfahrenden (zusätzlich zu den Autogefahren).
    Hier in Tübingen durften letztes Jahr einige lokale Weihnachtsmärkte nicht stattfinden, da die (ehrenamtlichen) Veranstalter keine Vorkehrungen gegen Amokfahrer durchführen konnten. Irgendwie komisch: Nur beim Weihnachtsmarkt weicht man von der "Shared Space"-Ideologie ab ...

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    1. Hallo Anonym
      Shared Spaces wurden vor einigen Jahren als das beste Konzept überhaupt angepriesen. Die Verkehrs und Unfallforschung weiß es aber schon immer besser. Shared Spaces haben ihre Berechtigung dort wo Menschen mit und ohne Fahrzeug eh schon sehr langsam unterwegs sind und Verkehrsströme schlecht trennbar sind. Das funktioniert wo eine "Fußgängerzone light" sinnvoll ist.
      Sobald nicht mehr nur vereinzelt Menschen unterwegs sind, funktioniert die Abstimmung unter den Verkehrsteilnehmern nur bei sehr geringen Geschwindigkeiten, da man ja "in alle Richtungen" schauen muss.
      Sobald solche Flächen für alltags Durchgangsverkehr genutzt werden sollen, sind sie definitiv Mist. Und genau das ist das Problem, denn sobald die nicht nur als beruhigter Begegnungsbereich dienen sondern Teil eines Alltagswegenetzes sind funktioniert das nicht.
      Dann passen Radfahrer nicht mehr hin, denn das ist die Gruppe der Verkehrsteilnehmer die normalerweise zu schnell für solche Bereiche sind, aber deren Hauptrouten auch mal da durch geleitet werden.
      Autofahrer haben Umfahrungen, Hauptstraßen, ... je nach Größe des Ortes.
      Die werden so einen Shared Space nur erreichen wenn das Ziel unmittelbar in dem Bereich liegt,
      Fußgänger passen vom Tempo her in den Bereich, und verhalten sich wie in einer Fußgängerzone, haben also keinen Nachteil. Ich kenne keine Theorie in der Shared Space eine gute Lösung ist, sobald auf der Fläche nicht mehr nur Quell und Zielverkehr unterwegs ist. Die Idee Radfahrer durch "shared spaces" zu leiten entspricht dem gleichen Gedanken wie "Gehweg Radfahrer frei" als Radweg zu interpretieren.
      Radfahrer werden hier als Fußgänger mit Gehhilfe betrachtet, und nicht als fließender Verkehr der im urbanen Bereich locker mit dem MIV mithalten kann. Natürlich können wir nur dann ähnliche Fahrzeiten darstellen wie Autos wenn wir nicht einen großteil der Strecke mit Schritttempo fahren müssen.



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  5. "Den Irrtum begehen auch so manche Autofahrende, die mich anhupen, wenn ich auf der Hofener Straße auf der Fahrbahn radle, weil sie denken, der Gehweg sei der Radweg, denn dort sehen sie ja die meisten Leute radeln."
    Ich halte diese Irrtumsthese für recht gewagt. Auf einige einzelne Autofahrende mag das zwar zutreffen, aber Autofahrende als Kollektiv setzen ihr Auto im Sinne struktureller Gewalt durchaus bewußt als Waffe ein um für 'ihre' 'freien Fahrbahnen' zu sorgen. Für die Vertriebenen bleiben dann die Gehwege, oder es werden eingens separate Radwege gebaut, welche ebenfalls sehr wirkungsvoll das Fahrbahnbenutzungsverbot durchsetzen.
    Vor allem tragen auch Polizei und Justiz ihr Teil dazu bei. Interessanterweise wird in Fällen von Auto vs. Auto eine grundlegend andere Beurteilung vorgenommen. Dabei wird regelmäßig Nötigung angenommen und oft auch abgeurteilt.
    Interessant auch ein Urteil aus München:
    "Dichtes Auffahren mit Lichthupe und Hupen – MPU zulässig
    Fährt ein Autofahrer hartnäckig äußerst dicht auf und nutzt dann noch die Lichthupe und hupt zusätzlich darf die Straßenverkehrsbehörde eine MPU (Medizinisch-psychologische Untersuchung) anordnen, ob der Fahrzeugführer möglicherweise eine zu große Gefahr darstellt. Im vorliegenden Sachverhalt war ein Autofahrer über 550 Meter so dicht auf eine vorausfahrende Zivilstreife der Polizei aufgefahren, dass das vordere Kennzeichen im Rückspiegel der Beamten nicht mehr zu erkennen war. Der Fahrer hatte gleichzeitig auch noch die Lichthupe und die Hupe genutzt."
    Aus:
    https://verkehrswacht-muenster.de/wp-content/uploads/sites/20/2025/02/VW-Informativ-Ausgabe-172.pdf (darin Punkt 20, VG München Urteil)
    Im Falle des Bedrängens von Radverkehr, der ja nicht mit Blech und airbag geschützt ist wäre 'eigentlich' noch intensiver in diese Richtung zu entscheiden, was aber - wie wir alle wissen - nicht der Fall ist.
    Eher friert die Hölle ein.
    Alfons Krückmann

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    1. "aber Autofahrende als Kollektiv setzen ihr Auto im Sinne struktureller Gewalt durchaus bewußt als Waffe ein um für 'ihre' 'freien Fahrbahnen' zu sorgen."
      Genau das. Ich weiß zwar nicht, was es tatsächlich bringt, darauf hinzuweisen, besonders aktuell, wo strukturelle Gewalten eher auf- als abgebaut werden, aber trotzdem muss man es unablässig tun.
      Das Beispiel hier zeigt schön, wie strukturelle Gewalt funktioniert, sodass sie dem Einzelnen noch nichtmal unbedingt bewusst wird, wenn er in vorauseilendem Gehorsam auf den Gehweg flüchtet, etc. Ein Teufelskreis, den der einzelne renitente Radler nicht durchbrechen kann.

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    2. ... "aus Mangel an öffentlichem Interesse"
      Ist eine Formulierung die viel zu oft im Zusammenhang mit der vorsätzlichen Gefährdung von Radfahrern fällt.

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