17. Juli 2024

Das Opfer - die Verkehrsopfer

Das Wort "Opfer" kommt in unserem Sprechen und Schreiben über den Straßenverkehr vor. Es gibt Verkehrsopfer und Unfallopfer. 

Und es werden auch mal Parkplätze oder eine Fahrspur "geopfert", womöglich sogar für die "Verkehrssicherheit". Solche "Opfer"- das impliziert diese Formulierung - sind unnötig, denn "Opfer" sind so gut wie immer "sinnlos" und damit unnötig. 

Dass der Autoverkehr regelmäßig Menschen opfert, lesen wir so nicht. Niemand sagt, dass "wir dem Autoverkehr über zweitausend Menschen im Jahr opfern". Jedoch taucht das Substantiv für die so Geopferten als "Verkehrsopfer" oder "Unfallopfer" auf. Die Konzentration auf das Objekt der Opferung, das Opfer, hat den Vorteil, dass wir keine Akteure benennen müssen, keine handelnden Personen, keine Täter:innen, nicht die Priester:innen, die ihm Namen einer Gottheit das Opfer verlangen. Auch der Autoverkehr, der Menschen opfert, ist übrigens letztlich keine handelnde Person (wenngleich ein System, das wir aufrecht erhalten). Also bleiben nur noch die Opfer des Straßenverkehrs übrig. 

Wir benutzen das Wort so, als hätten wir kein anderes Wort dafür. Im Englischen wird unterschieden zwischen "victim" (Leidtragende:r Geschädigte:r, Verunglückte:r) und "sacrifice" (Opfer als Akt) und "to be sacrificed" (geopfert werden), also zwischen dem religiös-kulturellen Akt des Opferns und den Folgen eines Unglücks oder Gewaltakts. Dass wir diesen Unterschied im Deutschen nicht machen, hat Folgen für unsere Akzeptanz von Opfern im Straßenverkehr. 

Wie heikel unsere Indifferenz ist, beschreibt der Kulturtheoretiker Wolfang Müller-Funk: "Das Opfer ist ein geheiligter Mord, an Tier und Mensch, an Freund und Feind. Bezeichnenderweise verknüpft die deutsche Sprache zwei Aspekte umstandslos durch das gleiche Wort. Im Deutschen meint "Opfer" den Akt, die Opferhandlung sowie - das zeigt auch an der säkularen Ausweitung des Opferbegriffs (Verkehrsopfer, Opfer eine Katastrophe, Kriegsopfer) - die Person, die im Akt der Opferung zum Objekt wird (...) Das gibt der Opferhandlung ihren unauflöslichen Doppelcharakter: Sie ist schuldiges Handeln und zugleich heiliger Akt, als Gewalt so legitim wie illegitim. Das setzt aber voraus, dass das Opfer ein kollektiver Akt ist, der sich im symbolischen Einverständnis des Kollektivs vollzieht." (Müller-Funk: Kulturtheorie, 2010, S.263)

Auch wir könnten bei Zusammenstößen im Straßenverkehr von "Leidtragenden", "Geschädigten" oder "Getöteten" reden und schreiben. Unsere Sprache gibt das her. Aber wir bleiben bei "Opfer". Das Wort  entpersönlicht den Akt des Verletzens oder Tötens durch Autofahrende, es entrückt ihn die Sphäre eines nahezu unvermeidlichen kulturell akzeptierten Diensts an einem System. Im System Autoverkehr hat der einzelne Fahrer oder die Fahrerin keine Verantwortung mehr. Die Medien neigen - unser Einverständnis vorausgesetzt - dazu, die Folgen des Autofahrens zu verharmlosen, indem sie die Ausführenden, die Fahrer:innen nicht benennen. Wir alle flüchten uns sprachlich in eine Aura der Schicksalhaftigkeit und bekräftigen damit unsere gesellschaftliche Übereinkunft, dass die Toten (und Verletzten) im Straßenverkehr in Kauf genommen werden müssen, weil wir an der Art, wie wir unsere aufs Auto zentrierte Mobilität organisieren, nichts ändern wollen. Oder anders herum: Weil wir nebulös von "Opfern" reden und schreiben, gehen uns die Verantwortlichen für die Todesfälle verloren. Wir sehen sie nicht mehr. 

Würde ein anderes Verkehrsmittel in Deutschland regelmäßig rund 2.800 Todes-"Opfer" im Jahr fordern (437 unter zu Fuß Gehenden und 446 unter Radfahrenden 2023), etwa der Flug-, Schiffs- oder Bahnverkehr, dann würden wir es abschaffen. Die Medien würden unermüdlich Schuldfragen, Verantwortlichkeiten, Sicherheitsmaßnahmen und Risiken diskutieren und die Politik in die Verantwortung nehmen. Als 2006 bei Zusammenstoß des Transrapids mit einem Wartungsfahrzeug auf der Teststrecke 23 Menschen starben, war auch das Projekt für Deutschland gestorben. Wird im Chemieunterricht bei einer Verpuffung ein Schüler verletzt, fragt die Zeitung "Wie gefährlich ist Chemieunterricht?" und "Was wird getan, damit der Schulunterricht sicher ist?" Aber niemand fragt, wenn ein Kind von einem Autofahrer schwer verletzt wird, "Wie gefährlich ist der Autoverkehr? Und was wird getan, damit die Straßen sicher sind?" Beim Autoverkehr haben wir uns in unserer Gesellschaft auf unheimliche Weise darauf geeinigt, dass er so heilig ist, dass Menschenopfer gebracht werden müssen. 

Die Berichterstattung und damit auch wir, nimmt die "Opfer" in den Fokus, nicht die Verursacher:innen. Diese Getöteten oder Schwerverletzten stehen jeweils vereinzelt mit ihrem Schicksal da und erscheinen als mitverantwortlich, wenn mitgeteilt wird, dass ein Radfahrer keinen Helm trug, ein Fußgänger dunkle Kleidung anhatte oder ein Kind plötzlich auf den Zebrastreifen lief oder ein Jugendlicher mit dem Rad neben einem Lkw in die Kreuzung gefahren ist. Wie die Sprache unsere Wahrnehmung von Zusammenstößen im Straßenverkehr beeinflusst, kann man hier ausführlich nachlesen. 

Dem einzelnen Autofahrer (oder der Autofahrerin) soll so wenig persönliche Schuld zugemessen werden wie irgend möglich. Er/sie hat den Radfahrer "übersehen" oder der Fußgänger ist "unters Auto geraten". Und die Strafen fallen dann nicht immer so hart aus, wie die Hinterbliebenen das erwarten. Die Urteile für Rasen mit Todesfolge für andere schwankten in den letzten Jahren extrem zwischen Bewährungssgtrafe per Strafbefehl und lebenslänglich. 


6 Kommentare:

  1. Das ist ein sehr kluger Beitrag über Zusammenhänge, von denen ich wünsche, dass sie endlich mehr und mehr Leuten bewusst werden. Damit das Töten und Verletzen - nicht nur von Menschen übrigens - aufhört.

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  2. Ja.
    Im englischen Sprachraum gibt es den Begriff 'carblindness', der das recht gut auf den Punkt bringt.Siehe zB:
    https://www.forbes.com/sites/carltonreid/2023/01/17/car-blindness-normalizes-dangers-of-motoring-reveals-study/

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    1. Ja, darüber habe ich auch schon mal geschrieben. https://dasfahrradblog.blogspot.com/2022/11/wir-sind-blind-geworden-fur-autos.html

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  3. Das ist eine Folge des unfassbaren Selbstverständnis, das das Auto heute noch besitzt. Autos gelten als unverzichtbar und als Zeichen persönlicher Freiheit und Status. Diese Wahrnehmung führt dazu, dass die Risiken und negativen Auswirkungen des Autoverkehrs häufig unterschätzt oder als unvermeidbar angesehen werden. Siehe auch die völlig ideologisch aufgeladene Diskussionen um ein dringend notwendiges Tempolimit. Auch da nimmt man "Opfer" bewusst in Kauf.
    "Im Jahr 2023 starben in Deutschland 2.830 Menschen bei Verkehrsunfällen. Eine bedeutende Ursache für tödliche Unfälle war nicht angepasste Geschwindigkeit. Nach vorläufigen Daten des Statistischen Bundesamtes war unangepasste Geschwindigkeit bei rund 46% der Verkehrstoten auf Autobahnen mitverantwortlich."

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  4. Ein Top-Artikel
    Danke!
    Thomas

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