28. Mai 2024

Verkehrsgewalt: Böse Autos bauen Unfälle

In der Pesse "geraten" Menschen im Zusammenhang mit Autos in Situationen, für die niemand verantwortlich zu sein scheint. 

Zum Beispiel: Auto gerät auf Gehweg und verletzt Fußgängerin tödlich, Seniorin unters Auto geraten, Motorradfahrer gerät unter wendendes Auto, Auto gerät in den Gegenverkehr. In Berlin ist ein Auto auf den Bürgersteig geraten und hat Fußgänger erfasst, die nun in Lebensgefahr schweben.

Solche Formulierungen begegnen mir ständig in Medienberichten. (Wobei sich einzelne Medien, darunter die Stuttgarter Zeitung, davon inzwischen erfreulich absetzen.) Ich frage mich dann immer: Wie kann es sein, dass Menschen unter Autos und Autos irgendwohin geraten? Steuert die Autos niemand? Wenden die Autos eigenmächtig, steuern sie Gehwege an, überfahren Sie Fußgänger:innen? Sind die Leute, die drinnen am Lenkrad sitzen, gar nicht da? Werden sie völlig überrascht von den Aktionen ihres Autos? 

Weil in unserer sprachlichen Darstellung auch schwerster Zusammenstöße niemand die Autos zu lenken scheint, können wir dann sogar auch mal lesen: "... soll ein Pkw die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren haben." (Diese erste schnelle Meldung hat die StZ übrigens schnell korrigiert.)

Dass die Presse Autofahrer durch Auto ersetzt, mag zum einen daran liegen, dass "Auto" in einer Schlagzeile kürzer ist als "Autofahrer" oder "Autofahrerin". Aber wenn dann im ganzen Text der Fahrer oder die Fahrerin als Lenker:in des Autos überhaupt nicht vorkommt und immer nur das Auto irgendwas getan hat, dann liegt es nicht mehr am Zwang zur Kürze, sondern ist Prinzip. 

In der Unterüberschrift: "Schwerer Unfall in Böblingen heißt es immerhin: "Eine 76-jährige Autofahrerin erfasst einen jungen Radfahrer." (Allerdings lautet die Hauptschlagzeile: "Auto erfasst ..." Die Autofahrerin kommt im Text dann nicht mehr als handelnde Person vor. Der Radler "wurde von einem abbiegenden Pkw verletzt". Er radelte linksseitig auf dem Gehweg (nicht freigegeben). Die Autofahrerin "wollte nach rechts abbiegen" dann "kam es aus unbekannter Ursache zum Zusammenstoß an einer Einmündung". Im entscheidenden Moment scheint die Autofahrerin unbeteiligt. 

Dass wir allgemein solche Beschreibungen bevorzugen, liegt sicher auch daran, dass wir alle wissen, wir selbst könnten das Auto gefahren und einen kleinen Fehler gemacht haben, der ungewollt verheerende Folgen für andere hatte. Wir wollen uns selbst zusammen mit diesen Autofahrer:innen vorsorglich von der alleinigen Verantwortung entlasten für das, was wir mit unseren gefährlichen Autos anstellen. In dem Moment, wo wir die Kontrolle über das Auto verlieren, sind wir sprachlich nicht mehr da. Gewollt haben diese Autofahrenden den Zusammenstoß sicher nicht, doch ihr Fuß auf dem Gaspedal und ihre Hände am Lenker haben ihn verursacht, sie haben es getan. Sie waren da. 

Es mag auch daran liegen, dass einigen die Formulierung "Autofahrer gerät auf Gehweg" komisch vorkommt. Ein Autofahrer kann man doch auch sein, wenn man gerade nicht im Auto sitzt, und das Auto ist doch mit dem Fußgänger zusammengestoßen, nicht der Fahrer selbst, der sitzt ja unverletzt in seinem Panzer. Übertragen wir das aber nun einmal auf Radfahrer:innen. Niemand hat bisher geschrieben: "Fahrrad kommt von der Straße ab" oder "Fahrrad stößt mit Fußgängerin zusammen". Da reden und schreiben wir immer "Radfahrer" oder "Radfahrerin". Da steht das Fahrzeug nicht für den Menschen, der es fährt. 

Kein Wunder, denn bei Fahrrad sehen wir deutlich, dass es nicht fahren kann, wenn niemand draufsitzt, wir sehen immer den Menschen samt Fahrzeug. Im Auto aber verschwinden Menschen hinter getönten Scheiben in einem Blechpanzer, sie sind unsichtbar, und damit verschwinden sie als handelnde Personen aus der Berichterstattung und aus unserem Denken. Sie sind als Akteur:innen und als Verantwortliche für das, was ihr Auto an Schaden anrichtet, nicht mehr greifbar. Das hat Folgen für die Opfer, die zu Fuß gegangen oder Rad gefahren sind. Sie sind die einzigen Menschen, die man im Moment des Zusammenstoßes sieht. Man sieht sie fliegen, stürzen, hört sie schreien, sieht sie liegen. Das macht es Presse und uns Lesenden dann wiederum sehr leicht, sie - die einzigen Menschen, die man sieht - verantwortlich oder mitverantwortlich zu machen dafür, dass sie "unters Auto geraten" sind. Autos kann man ja nicht verantwortlich machen. 

Das Auto beherrscht weitgehend unser alltägliches Denken, Sprechen und Handeln, selbst bei denen, die keines haben, denn auch sie müssen immer auf Autos achten, die ihnen ihre direkten Wege abschneiden. Wenn wir ein Auto besitzen, hat es sich in unserem Kopf eingenistet, wir müssen es immer betreuen: irgendwo sicher parken, in die Werkstatt bringen, von Eis befreien, an einer Ladestation aufladen etc. Und wir müssen seinen Gebrauch planen: Verkehrsmeldungen hören, Stauzeiten einplanen, die Parkplatzsuche mit einberechnen, Geld für Parkscheine bereithalten, die Reichweite des Akkus beachten. Viele richten einen Großteil ihres Lebens nach dem Auto und seinen Anforderungen. Da kann durchaus der Eindruck entstehen, als seien nicht wir es, die das Auto kontrollieren, sondern das Auto, das uns im Griff hat. Und dann springt es halt plötzlich auf den Gehweg, schleudert gegen einen Baum, nimmt einem Radfahrer die Vorfahrt. Es entzieht sich der Kontrolle des Fahrers oder der Fahrerin. Das trifft für den Augenblick eines Crashs vielleicht sogar zu. Aber bevor das passiert, hat der Fahrer oder die Fahrerin Entscheidungen getroffen: zu schnell gefahren, aufs Handy geguckt, nicht in Fahrtrichtung geschaut, verbotenerweise abgebogen, bei gerade auf Rot gesprungener Ampel beschleunigt und weitergefahren und so weiter. Der Mensch im Auto ist der Verantwortung nicht gerecht geworden, die sie/er für ein schnelles, schweres und potenziell tödliches Fahrzeug hatte. 

Ich meine, wir müssen damit anfangen, die Akteur:innen im Straßenverkehr klar zu benennen. Bei schweren Zusammenstößen müssen die Personen im Fokus der Berichterstattung stehen, die das Auto gefahren haben, mit dem sie andere Menschen schwer verletzt oder getötet haben. Wir müssen uns immer wieder bewusst machen, dass das Fahren von Autos eine Gefahr für andere darstellt, wenn wir nicht aufmerksam, vorausschauend und rücksichtsvoll fahren. Andernfalls verfestigt sich der Eindruck, als seien Autofahrende im Grunde immer irgendwie selbst unschuldige Opfer des Straßenverkehrs und seiner Gesetze der Schnelligkeit und Achtlosigkeit, weil man ja "Auto fahren muss" und weil "jeder Auto fährt" und das alles nicht anders geht. Und wenn sie "den Radfahrer übersehen haben", dann war der Radfahrer mehr daran schuld als sie selbst: Wieso ist er auch übersehbar? 

Also bitte, liebe Medien: Autos fahren nicht selber (noch nicht). Deshalb: "Autofahrer fährt auf Gehweg und verletzt ein Kind schwer" - "Autofahrerin tötet zwei Menschen auf dem Gehweg" - "Autofahrer fährt in den Gegenverkehr" - "Fahrer kommt mit Auto von der Straße ab und prallt gegen Baum" - "Autofahrerin kollidiert beim Wenden mit Motorradfahrer" - "Autofahrer überfährt Seniorin" - "Autofahrerin stößt bei Ausweichmanöver mit Rollerfahrerin zusammen" etc. So viel Zeit muss sein. 

Ich lese allerdings inzwischen deutlich öfter Meldungen und Berichte, bei denen ich spüre, dass die Schreibenden sich genau überlegt haben, wie sie das Unfallgeschehen formulieren. Der Stuttgarter Zeitung merkt man an, dass die Autor:innen sich darüber seit einiger Zeit heftig Gedanken gemacht haben. 

Ein richtig gutes Beispiel habe ich in der Stuttgarter Zeitung (vom 28. März) gesehen. So kann man die Schlagzeile nämlich auch kurz halten: "Mit Auto in Gleisbett geschleudert". Im Zeitungstitel wird sogleich klar, dass ein Mensch mit seinem Auto was gemacht hat. Das Geschehen wird im Aktiv geschildert: Der Autofahrer hat die Kontrolle verloren, er fährt die ganze Zeit. Das Auto macht nichts selber. Der Polizeibericht, der die Quelle ist, nennt im Titel nur den Pkw als Akteur, ist aber ansonsten genauso formuliert.

Klar, manchmal muss es halt schnell gehen, da rutschen einem dann unglückliche Standardformulierungen durch, das verstehe ich, geschenkt. Aber es ist eben wichtig, wie wir über schwerwiegende Zusammenstöße im Straßenverkehr schreiben. Ob wir den Eindruck erwecken, Autofahrende seien selber irgendwie tragische Opfer ihrer Autos oder ob wir deutlich machen, dass andere Menschen Opfer von Fahrfehlern von Menschen in Autos werden, die nicht sein müssten, wenn verantwortungsvoll Auto gefahren würde. 



11 Kommentare:

  1. Ich muss bei solchen Formulierungen immer an das hier denken : https://m.imdb.com/title/tt0075809/
    Im amerikanischen Original heißt der Film einfach The Car.

    AntwortenLöschen
  2. Ein Grund für diese unglücklichen Formulierungen sind Polizeimeldungen. Die Polizei will zwar den Vorgang beschreiben, sich aber nicht durch die Benennung der handelnden Personen auf Täter festlegen. So erklärte es mal ein Polizist. Warum es die Schieflage zwischen Autofahrern und Radfahrern gibt, bleibt trotzdem offen.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ja, wobei die Presse ja Pressemeldungen von Polizei (Wirtschaft oder Politik) nicht einfach abschreiben sollte, und die Schuldfrage ist nicht davon berührt, ob man "Auto" oder "Autofahrer" schreibt, also die Menschen benennt.

      Löschen
  3. Apropo Presse: die Tagesschau hat vor einer Stunde einen ausführlichen Artikel über eine Radverkehrsstudie vom Fraunhofer Institut veröffentlicht mit dem Praxisbeispiel Stuttgart. Interessant zu lesen: https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/radverkehr-studie-klimaschutz-100.html

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Und anscheinend ist das Thema so wichtig, dass das der erste Artikel gerade ist, wenn man in die App / auf die Webseite geht. Und soweit ich weiß hat die Tagesschau keine Filterblasen, die mir Sachen nach meinem Interesse anzeigen. Mal schauen was heute um 20 Uhr kommt...

      Löschen
    2. Im Radio läuft das Thema nun schon warm! Gerade auf SWR3 im Radio war es in den Volle-Stunde-Nachrichten als Beitrag / Kurzzusammenfassung, daß durch gute Angebote der Radverkehr verdreifacht werden könnte und erhebliche Mengen Umweltbelastung eingespart werden könnten.

      Löschen
  4. Passt zwar nicht zu dienen Post, aber das habe ich auch schon gesehen. 😊

    AntwortenLöschen
  5. Ich finde das jedes Mal erschreckend, wenn ich es wieder und wieder lese... Journalisten und Journalistinnen schreiben doch auch nicht: 'Schusswaffe tötet Passanten' oder 'Messer verletzt Ehefrau'.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Wie es C.Lehmann ja auch andeutet, man müsste sich sonst halt gedanklich mit 3000 Toten jâhrlich auseinandersetzen, für die man mitverantwortlich ist... da verdrängt man lieber.

      Löschen
  6. Ähnliche sprachliche Deformationen finden sich seit langem im Bereich der 'Kriegskunst'.
    Menschen (Weichziele), denen die Gedärme aus dem Bauch quellen, die in ihren letzten Lebenssekunden ausblutend entsetzt auf ihre durch Granaten abgetrennten Beine starren, all die Millionen, die derart ihr, oft junges, Leben verloren und verlieren, sind lediglich 'Gefallene', oder, sofern es sich um Zivilisten handelt 'Kollateralschäden'.
    Beim oft genug tödlichen 'Krieg auf der Straße', der abgesehen von einigen Kutschunfällen, erst mit der Automobilisierung und dann verstärkt mit der Massenautomobilisierung einsetzte gelten nahezu die gleichen Regeln.
    - Das Recht des Stärkeren
    - die systematische sprachliche Verharmlosung des alltäglichcn Abschlachtens
    - die Pflege des topos der 'Alternativlosigkeit'
    - umfassende politisch mediale Propaganda zur Inkorporation der automobilen oder militaristischen Paradigmata (symbolische Gewalt)
    Vor den letzten verzweifelten Schreien der vom LKW überrollten Menschen verschliesst unsere 'wertegeleitete' Gesellschaft systematisch und planvoll die Ohren.
    Alfons Krückmann

    AntwortenLöschen
  7. Psychologisch schädlich ist auch der Übertrag der Haftungsregeln auf eine "Schuld". Wenn beim nicht-Auto-Fahrenden Unfallgegner auch nur eine Mithaftung festgestellt wird entlastet sich der Unfallverursacher (und mit ihm/ihr alle Autofahrer) durch einen Schuldübertrag auf das Opfer. Das macht auch proaktiv Unfälle wahrscheinlicher: "Dann ist der selber Schuld". Um hier den Verkehr zu ent-emotionalisieren und ent-moralisieren ist es mAn notwendig die Gefährderhaftung wie in den Niederlanden zu handhaben. Bei Unfällen mit zulassungspflichtigen Kfz tragen Radfahrende oder Zufußgehende Unfallopfer (oder "-teilnehmer") nie irgendeine Haftung (einzige Ausnahme direkter Vorsatz), alle Haftung liegt bei den Führern/Haltern zulassungspflichtiger Kfz.

    AntwortenLöschen