3. Oktober 2020

Die hohe Kunst des Radfahrens

Radfahren kann jeder und jede. Nö. Manche können's nicht, manche wollen's nicht, weil sie es mental nicht schaffen. Was ein und dasselbe ist.

Die, die es in der Kindheit nicht gelernt haben, könnten es lernen, wenn sie wollten, aber sie wollen nicht. Sie haben Angst. Schlicht Angst. Große Angst. Angst haben ist ja auch sehr schick. Wozu sie überwinden, wenn sie mich an dem hindert, was ich eh nicht machen will: Radfahren. Angst ist gemütlich. Sie führt direkt ins Auto. Dabei ist nichts ist so leicht zu überwinden wie Angst. Beispielsweise durch Gewöhnung. Spinnenphobien, Klaustrophobie in Fahrstühlen, Velophobie sind leicht zu heilen. Man setzt die Patient:innen den Angstauslösern aus. Aber manche brauchen ihre Angst, umd "ich kann nicht" sagen zu können.

"In Stuttgart kann man doch gar nicht Rad fahren", sagen sie und sehen mit eigenen Augen ganz viele, die auf Fahrrädern die Straßen entlang rollen. Das sind dann die Radler, die immer auf Gehwegen fahren und immer bei Rot und immer ... also die bösen, die Kampfradler. Als ob man, wenn man sich aufs Fahrrad setzt, zum Ungeheuer wird, das man nicht werden will und das zu Recht von einem Auto über den Haufen gefahren wird. "In Stuttgart ist Radfahren doch lebensgefährlich. Außerdem habe ich es nie gelernt, nie richtig. Und ich habe Angst."

Wer vom Auto aufs Fahrrad umsteigt, um den 6-km-Weg zur Arbeit zu machen, begeht einen Mentalitätswechsel. Man merkt es nicht gleich. Zunächst dominiert die vielleicht auch positive Anspannung, ein bisschen Vorsicht, Verwunderung über die in Stuttgart doch sehr lückenhafte Radroutenführung. Man muss viel lernen: wie Autofahrende ticken (wie man selbst als Autofahrer:in getickt hat, wie rücksichtslos man mit Radfahrenden selber umgegangen ist.) Man erweitert den eigenen Verständnishorizont, ändert auch im Auto die eigene Fahrweise. Und man fühlt sich besser, weil man sich mehr bewegt, weil man sich mit eigener Körperkraft Stadträume erobert, die man noch gar nicht kannte.  

Radfahren macht Spaß, nicht Angst.

Ich habe keine Angst beim Radfahren. Die meisten haben keine Angst. Es haben sicher mehr Leute vorm Fliegen Angst, als vorm Radfahren. Der Grund ist ganz einfach: Im Flugzeug habe ich das Gefühl, ich könnte die Situation nicht kontrollieren, ich kann nicht in den Lenker greifen, wenn der Pilot Mist baut. Ein Fahrrad aber habe ich unter Kontrolle. Und genau das schafft ein Gefühl von Sicherheit. Ich habe es in der Hand, wo hin ich fahre, wann ich bremse. Ich kann langsam fahren, wenn ich das will. Dennoch haben wir beim Radfahren nicht alles unter Kontrolle: zum Beispiel die Aufofahrenden. Wenn ein Autofahrer mich nicht sehen will, sieht er mich nicht. Zugegeben also, als Radfahrerin muss ich vorausschauender fahren und mich vor den Fehlern der Fahrer:innen großer schwerer Autos schützen. Das gelingt nicht immer.

Ich kann aber auch etwas tun, um meine eigene Gefährdungen zu verringern. Zum Beispiel
  • nicht dicht an geparkten Autos entlang radeln. Das schützt vor den höchst gefährlichen Dooringunfällen (also wenn einer die Autotür aufstößt und man dagegen prallt). 
  • Mit dem Rad knapp rechts von der Mitte auf der Fahrbahn fahren. Das macht Autofahrenden klar, dass sie nicht versuchen sollten zu überholen, auch wenn der Platz eigentlich nicht reicht.
  • Klare Handzeichen geben, bevor ich abbiegen will. Dann wissen alle, wo man hinwill und können sich darauf einstellen.
  • Mit freundlichem und vorausschauendem Sinn radeln, so ist man gelassener, wenn andere Fehler machen, die man selber ausgleichen muss (denn: auch man selbst mach Fehler, die andere ausgleichen.)
  • Nicht immer so schnell wie möglich radeln, sonderna auch mal langsam machen, wenn die Situation unübersichtlich oder der Radweg eng ist.
  • Immer an roten Ampeln anhalten und auf Grün warten.

7 Kommentare:

  1. Wenn man beim Fahrradfahren keine Angst haben muss, warum tragen dann manche Radfahrer einen Helm?
    Beim zu Fuß gehen muss ich genau so wenig oder genau so viel Angst haben wie beim Radfahren.
    Aber beim zu Fuß gehen tragen die allermeisten Menschen keinen Helm.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Vielleicht weil man auf dem Fahrrad eine höhere Geschwindigkeit erreicht und damit auch eine deutlich größere kinetische Energie vorhanden ist? Die bei einem Sturz oder Zusammenstoß dann zwangsläufig in erheblich schwereren Verletzungen resultiert?
      Weil man vom Fahrrad eben im wahrsten Sinne des Wortes "runterfallen" kann und nur wenig Kontrolle darüber hat, wie und wo man mit welchem Körperteil aufkommt?

      Löschen
    2. Man muss auch beim Reiten (oder Motorradfahren) keine Angst haben, trotzdem tragen die meisten Reiter:innen einen Helm, weil man ja aus größere Höhe fällt. Es ist uns hier aber auch allen klar, dass das Risiko bei einem Treppensturz eine schwere Kopfverletzung zu erleiden größer ist als beim Radfahren, nur dass beim Treppensteigen niemand einen Helm trägt. Die Helm-Diskussion ist eine schwierige Diskussion, die ich an anderer Stelle immer wieder gefährt habe. Ich schätze mal, du, liebe Anonyma (oder bist du ein Mann?) hast eigentlich ganz genau verstanden, worum es in diesem Artikel geht. Die Frage ist ja eigentlich nicht, ob man beim Radfahren Angst haben sollte, sondern die große Frage ist,warum Autofahrende so wenig Angst beim Autofahren haben, denn ihr Unfallrisiko ist höher, auch das Risiko schwerer Kopfverletzungen, und hinzu kommt das Risiko, andere Menschen zu töten, weil man sein Auto nicht beherrscht oder Fehler macht. Davor sollten sich Autofahrend eigentlich fürchten, denn wer jemanden tötet, wird seines Lebens nicht mehr froh. Eigentlich sollten wir darüber reden, ob man Angst vorm Autofahren haben sollte.

      Löschen
  2. Das mit der Angst ist mir zu theoretisch. Ich glaube, es ist viel einfacher: Wer vom Auto aufs Fahrrad umsteigt, gibt damit freiwillig seinen First-Class-Platz im Verkehr auf. Wo man fahren muß, will man nicht. Wo man fahren will, darf man nicht. Und man merkt schnell, dass man als Radler auf der Fahrbahn unerwünscht ist. Zumal, wenn man nicht brav ganz rechts in der Dooringzone fährt. Das "rechts von der Mitte fahren" wird einem ziemlich schnell ausgetrieben.

    Wer wird schon freiwillig Schwarzer, wenn er Weißer bleiben kann?

    Nach deiner Theorie müssten jedes Jahr Hunderttausende Schüler ab 18 aus Angst vom Fahrrad aufs Auto umsteigen. Tun sie nicht. Sie wissen instinktiv, dass sie ab jetzt zum richtigen Verkehr gehören.

    S. Schwager, Fürstenfeldbruck

    AntwortenLöschen
  3. Naja... So einfach ist das leider nicht immer mit der Angst. Ich kenne eine Person, die bekommt ausgewachsene Panikattacken wenn ihr ein Auto begegnet. Schweißausbruch, Schnappatmung, Zittern am ganzen Körper. Da hilft dann nur anhalten und kurz durchatmen. Diese Phobie zu überwinden kann mehrere Jahre dauern. Und selbst dann bleibt meist ein gewisses Unbehagen.
    Übrigens hat die Person auch als Fußgänger*in Probleme mit Autos, aber wesentlich seltener, da es hier fast immer baulich getrennte Wege und klare Ampelschaltungen oder Zebrastreifen gibt, auf denen man sich sicher fühlen kann.

    AntwortenLöschen
  4. Punkt 1/2 habe ich aufwärts im Kaltental an der Böblinger Straße versucht. Nachdem ein Porsche SUV mich auf Höhe eines dauerhaft geparkten Wohnmobils, welches aufgrund seiner Breite auf den Schutzstreifen ragt, fast touchiert hätte bin ich neben dem Schutzstreifen gefahren. Beim Radstreifen mit durchgezogener Linie bin ich rechts auf den Streifen. Ergebnis: ich wurde von einem Audi SUV abgedrängt, der dazu über die durchgezogene Linie nach links zog und mich dabei durchs Fenster beschimpfte. Und aus einem schrottreifen 3er BMW mit lautem Auspuff wurde ich mit einer Zigarettenkippe beworfen. Wir brauchen da eine bauliche Lösung bevor es tote gibt.

    AntwortenLöschen
  5. Mit der Flugangst ist es wirklich so. Aus Angst bin ich nur selten als Fluggast mitgeflogen, dafür aber um so mehr als Segelflieger. Sprich, solange ich die Kontrolle hatte, war alles ok. Was mir anfangs, als ich mit dem Rad durch die Innenstadt gefahren war gleich auffiel, war die Schnelligkeit von A nach B und dass sich die Distanzen gefühlt "verkürzen". Früher war ich fast ausschließlich mit der Stadt- oder S-Bahn durch die Stadt unterwegs. Da kam mir Strecke, wie beispielsweise zwischen Hauptbahnhof und Stadtmitte, noch sehr weit vor. Mit dem Rad hingegen hatte ich mich dann gewundert wie kurz doch die Strecke ist. Meine räumliche Wahrnehmung im Freien muss hier wohl eine andere als im dunklen Stadttunnel sein.

    AntwortenLöschen