Soso, der Radverkehr in Stuttgart wächst kaum, lese ich in der Zeitung. Dem können alle, die im Stuttgarter Kessel radeln, vermutlich genauso wenig zustimmen wie ich. In der Innenstadt brummt der Radverkehr, er hat sich gefühlt verdoppelt. In den Außenbezirken tut er das nicht, so mein Eindruck. Die offiziellen Zahlen helfen diesmal leider nicht weiter, den Radverkehr in Stuttgart zu beurteilen, zumal in der Mitteilung der Stadt zu wenig Informationen stehen. Die Stuttgarter Zeitung bietet etwas mehr Informationen über die jüngsten Erbhebungen zum Mobilitätsverhalten in Stuttgart aufgrund der Kesselrandhzählung und von Befragungen, aber über die Datenerhebung erfahren wir auch nichts. Demnach stieg, so die Aussage, der Radverkehrsanteil am allgemeinen Verkehr von 2017 bis 2022/23 nur von acht auf neun Prozent. Dies liege wohl an der Topographie von Stuttgart, so der etwas kuriose Erklärungsversuch in Zeiten von Pedelecs, mit denen man jeden Berg hochkommt. Vielleicht stimmt die Zahl ja auch gar nicht. Eine Erhebung der SSB ergab 2023 einen Wert von 14 Prozent Radverkehr. Die KI der Seite der Stadt Stuttgart sagt, dass 2024 in Stuttgart fünf Millionen Radfahrende gezählt wurden. Wobei die Zählstellen ungefähr 20 Prozent der Durchradelnden nicht zählen, wie private Zählungen ergaben. (Über die Zahl der Autofahrten in der Stadt kann man keine Angaben machen. Die Kesselrandzählung ergibt ungefähr 418.000 ein- und ausfahrende Autos pro Tag.)
Radinfrastruktur hilft jedoch enorm.
Schaut man sich die Böblinger Straße an,
die Kaltentaler Abfahrt, die vor drei Jahren Radfahrstreifen bekommen hat, auf denen man sich deutlich sicherer fühlt als vorher zwischen geparkten Autos und illegal eng überholenden Autofahrenden, dann sieht man im Vergleich von Mai 2017 und Mai 2025 eine Zunahme des von der Zählstelle erfassten Radverkehrs um rund 33 Prozent. Wer Radverkehr haben will, muss Radinfrastruktur schaffen. Anders geht es nicht.
An der Stuttgarter Topographie dürfte es also nicht liegen, sondern an der leider immer noch großflächig fehlenden durchgängigen Radinfrastruktur, vor allem in den äußeren Bezirken Stuttgarts und zwischen den Stadtbezirken.
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nach Stammheim |
Noch immer kommt man nur schlecht von der Innenstadt nach Stammheim (da muss man sich gut auskennen oder Fahrbahnen fahren) Der Weg zwischen Feuerbach und Pragsattel ist höchst problematisch bis schwierig für den Radverkehr, und der vom Pragsattel runter in den Kessel entweder umwegig durch den Schlossgarten oder eklig die Heilbronner Straße auf den buckeligen Radwegen hinunter und am Hauptbahnhof vorbei. In Vaihingen ist, um nur ein Beispiel zu nennen, das Radfahren auf den schmalen sogenannten Schutzstreifen auf dem Wallgraben zwischen Kreisel Möhringer Straße und Dürrldewang zu den Hauptverkehrszeiten, also, wenn auch Radfahrende pendeln, stressig und von aggressiven Autofahrenden geprägt, und dennoch radeln da tapfer welche.
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Lenzhalde |
In Stuttgart kann mit der Radinfrastruktur nur halbwegs zufrieden sein, wer die Hauptradroute 1 radeln kann (und selbst da gibt es haarige Stellen). Wer aber mit dem Rad von
Stuttgart Ost nach Stuttgart West will und muss, findet so gut wie gar keine Radinfrastruktur vor und wird auf manchen schmalen Straßen von unwirschen Autofahrenden gejagt. Nach Degerloch geht es zwar theoretisch die Neue Weinsteige hoch (zwei Autospuren, kein Radstreifen, und unten nicht mal ein Gehweg), die sich aber kaum jemand hoch zu radeln traut (Foto oben). Und bergab mit Tempo 40 im Atuoverkehr "mitschwimmen" ist nur was für Hartgesottene. Die 11-jährige Lara sehe ich da nicht "mitschwimmen". Oder man radelt die Alte Weinsteige, die sehr steil ist, aber mit Pedelecs gut machbar, währen da nur nicht so viele stressige Autofahrende, die da, egal, ob verboten oder nicht, rauf und runter fahren. Bergab ist das eine Bremsstrecke mit Ausweichmanövern vor dem entgegenkommenden Autoverkehr, also auch nicht angenehm. Oder man radelt große Umwege auf Kieswegen durch den Wald (wo sich Hundespaziergänger:innen aufregen), und der Schimmelhüttenweg ist keine Alternative wegen der Querrinnen. Eine Radroute aus Radfahrstreifen oder Radwegen gibt es aus der Innenstadt auch nach Stuttgart Ost nicht. Richtung Wangen/Hedelfingen fürchtet man sich zwischen Stadtbahnschienen und der Dooringzone geparkter Autos auf einem sogenannten Schutzstreifen. Auf der Hedelfingerstraße nach Hedelfingen ändert sich die Radinfrastruktur alle paar Meter und ist auch mal ganz weg. Vom Kessel hoch zum Killesberg radelt man große Stecken ohne irgendwelche Radinfrastruktur und hat bergauf schnaubende Autos hinter sich. Die Lenzhalte ist ebenfalls blank. Der Schwabtunnel als kürzeste Verbindung zwischen Stuttgart Süd und West ist eine Angststrecke, auf der Autofahrende sich besonders aggressiv verhalten, warum auch immer. Und das sind nur einige Beispiele für einen, trotz einiger Fortschritte, eklatanten Mangel an Radinfrastruktur, die für alle nutzbar ist, von 8 bis 80. Und nur sichtbare und vertrauenserweckende Radinfrastruktur lockt Menschen aufs Fahrrad, die bisher Autofahren als das kleinere Übel betrachtet haben. Gerade unter Frauen wäre das Potenzial groß.

Auch das Verschwenken von Radstreifen zwischen zwei Autofahrspuren ist nicht die Infrastruktur, die Zutrauen schafft. Immer dann, wenn wir uns fragen, ob wir unsere elfjährigen Kinder auf einer Straße zur Schule oder zum Sport radeln lassen würden, und das verneinen, ist die Radinfrastruktur nicht tauglich für einen Alltagsradverkehr all der verschiedenen Menschen, die mit dem Rad fahren könnten und würden: Kinder, Jugendliche, Ältere, Erfahrene und Unerfahrene, Unerschrockene und eher Ängstliche.
Und das ist an den meisten Stellen in Stuttgart so. Wir sehen Kinder und Jugendliche kaum in der Stadt Rad fahren. Es dürfte also mitnichten an der Topographie liegen, dass wir nicht so viele Stadtrand-Radpendler:innen haben, wie wir haben zu wollen vorgeben, sondern am völligen Mangel an zuverlässiger und sich sicher anfühlender Radinfrastruktur. Und selbst dort, wo es sie gibt, auf der Kaltentaler Abfahrt zum Beispiel, werden Radfahrende nicht vor den schweren Fahrfehlern abbiegender Autofahrender geschützt. Solange Radfahren als gefährlich gilt, weil der Autoverkehr nicht gebändigt wird, schreckt das viele ab. Und wenn man vom Auto keine Radwege sieht, die man radeln könnte, dann steigt man auch nicht um.
Die Zahl der Radfahrenden erhöht sich nur, wenn man eine durchgängige und zuverlässige Radinfrastruktur anliegt und die Radelnden vor den Fahrfehlern der Autofahrenden ernsthaft zu schützen versucht.
Die Stuttgarter Zeitung hat die Zahlen nicht verstanden.
AntwortenLöschenDie Angaben zum Radverkehrsanteil stammen aus der Studie "Mobilität in Deutschland 2023" (MiD). Für Stuttgart werden dort 9% Radverkehrsanteil genannt, 2017 waren es 8%.
=>️ Ein kleiner Zuwachs - aber eben beim Anteil an allen Wegen, also eine relative Größe.
https://www.mobilitaet-in-deutschland.de/pdf/MiD2023_Vortrag_regionaleErgebnisse.pdf
Gleichzeitig ist laut der aktuellen SSB-Mobilitätsstudie die Mobilität der Stuttgarter auf einem historischen Hoch:
"Im Erhebungsjahr 2024 verlassen an einem durchschnittlichen Tag 87 Prozent der Stuttgarter:innen das Haus und legen dabei 3,3 Wege zurück. Wiederum zwei Höchstwerte seit 1990."
=> Mehr Wege gesamt = ein höheres Verkehrsaufkommen insgesamt.
https://www.ssb-ag.de/unternehmen/informationen-fakten/mobilitaetsstudie-der-ssb/
D.h. selbst wenn der Radverkehr absolut stark wächst, steigt der Anteil nur langsam, weil die Gesamtmobilität ebenfalls steigt. Deshalb zeigt z.B. die Zählstelle Böblinger Straße auch ein komplett anderes Bild: der Radverkehr nahm dort von fürs 2017 bis 2023 um 70% zu (für Mai sehe ich auf 60% Zuwachs, nicht nur 30%).
Die Überschrift "Radverkehr wächst kaum" ist einfach Unsinn. Die StZ schafft es nicht, Zahlen differenziert zu betrachten.
D.h. dann, dass es ebenfalls viel mehr Autoverkehr gibt, etwas was in vielerlei Hinsicht unerwünscht ist. So wird das wie schon oft angemerkt nix mit der Mobilitätswende. Ohne Verdrängen der Autos wird es nicht gehen, und das scheitert an politischen Mehrheiten, die von uns geschaffen werden (die SPD, nicht nur in Stuttgart), ist zum großen Teil leider nicht kein verlässlicher Partner).
AntwortenLöschenNicht unbedingt, weil zwischen 2017 und 2023 hauptsächlich der Fußverkehrsanteil zugelegt hat (22% > 32% MiD, 29% > 36% SSB). Der PKW-Anteil ging zurück (40% > 36% MiD, 37% > 29% SSB).
LöschenSSB: "Heute wird nur noch die Hälfte der privaten Pkw täglich genutzt. Der Pkw-Anteil an allen Wegen liegt inzwischen bei 28 Prozent. Der Pkw hat damit in den letzten fünf Jahren ein Viertel seines bisherigen Anteils verloren."
https://www.ssb-ag.de/unternehmen/informationen-fakten/mobilitaetsstudie-der-ssb/