5. Oktober 2020

Das verkehrte Augenmaß

Derzeit ist viel von Augenmaß die Rede. Wir ahnen, bei welchem Thema. Ausbau des Radverkehrs mit Augenmaß. Dieses Augenmaß ist begrenzt durch den Rahmen einer Windschutzscheibe. 

Mit diesem Augenmaß sieht man breite Straßten von breiten Autos besetzt. Am Straßenrand parken überall Autos. Es gibt aber auch ein anderes Augenmaß. Das denkt sich den Verkehrsraum von der Hauswand aus, aus der Perspektive eines Fußgängers oder einer Fußgängerin, am besten eines Kindes. Unter diesem Blickwinkel stehen keine Autos mehr am Straßenrand, die dem Kind den Blick verstellen, wenn es die Straße überqueren will. Wir sehen neben dem  Gehweg Fahrräder fahren, dann kommt die Stadtbahn oder ein Bus. Und erst dann sehen wir Autos. Und die parken nicht am Straßenradn, sondern auf Privatgrundstücken und in Tiefgaragen und Parkhäusern.

Die Zeit eröffnet diesen neuen Blick unter Berufung auf einen Bundestagsantrag der Grünen. Der Antrag lautet, dass Autos nur noch dort abgesstellt werden dürfen, wo das Parken ausdrücklich erlaubt ist. Bislang ist es nämlich umgekehrt. Überall, wo kein Verbotsschild steht, darf am Bordstein (nur einem hohen Bordstein) geparkt werden.

Sehen Autofahrende kein Verbotsschild, dann stellen sie das Fahrzeug ab, oft auch auf dem Gehweg (wo das parken verboten ist, aber kein Verkehrzeichen Autofahrende daran erinnert), so als sei der Gehweg oder Radweg Verfügungsmasse des Autoverkehrs, falls er auf der Fahrahn keinen Platz mehr findet. 

Diese Logik muss in der Tat aufgebrochen und umgekehrt werden. Stellen für Fahrrräder oder Fahrradgaragen oder Wanderalleebäume oder einen Schrank an den Straßenrand, ist die Aufregung sofort groß. Stellt jemand ein Auto dorthin, regt sich niemand auf. Wir stellen Autofahrenden an fast allen Straßen so gut wie kostenlosen Platz zur Verfügung, wo sie Autos abstellen können, einfach so. Von Radfahrenden wird aber immer wieder wehement gefordert, dass sie ihr Räder gefälligst auf Privatgrund, in eigenen Kellern oder eigenen Hinterhöffen unterbringen sollen. Dann höre ich: "Es dürfen keine Parkplätze verloren gehen." Wobei diese Parkplätze eben nur denen verloren gehen, die ein Auto haben, für alle anderen ist es ein riesiger Gewinn, wenn sie Fläche auf der Straße bekommen. Auf eine Autostellfläche passen sechs bis acht Fahrräder, ein Tisch mit zwei Stühlen, ein Sandkasten oder eine Wippe. 

Dennoch höre ihr in Diskussionen über die Förderung des Radverkehrs, über Fahrradgaragen (der Bezirk Süd hat jetzt einen umfangreichen Antrag für Radbügel und Radgaragen vorgelegt), immer wieder das Wort "Augenmaß", gefolgt von der Forderung nach "Gerechtigkeit". Der Sraßenraum müsse gerecht verteilt werden, gemeint ist damit, die Radfahrenden sollen keine Fahrspur bekommen, die der Autoverkehr nicht mehr nutzen darf. Wer mit dem Gerechtigkeitsblick auf unseren Straßenraum schaut, sieht natürlich sofort, dass Autos immens viel Platz zur Verfügung gestellt bekommen und Radfahrende hier und dort mal eine schmal Spur oder Fußgänger:innen ein schmaler Gehweg, der dann auch noch zugeparkt ist. Gerechtigkeit ist was anderes. Sage ich das, dann höre ich Wort "Ideologie", "Fahrradideologen", gern auch "Fahrradlobbyisten".  Inzwischen weiß ich, wer im Zusammenhang mit dem Auto- und Radverkehr von Augenmaß, Gerechtigkeit und Ideologie redet, ist ein Rechter, ein Autoabhäniger, ein Radler:innen-Feind. 

Die anderen, zum Beispiel ich, reden nämlich von einem Gewinn für alle. Wenn mehr Leute Rad fahren ist mehr Platz auf den Straßen für die, die unbedingt Auto fahren müssen. Viel Radverkehr heißt weniger Stau, weniger Lärm, weniger Umweltverschmutzung. Radfahrende schenken einer Stadt einen Mehrwert, sie sorgen dafür, dass wir alle gesünder sind, sie helfen dem lokalen Handel, sie festigen den sozialen Zusammenhalt, sie machen unseren Stadtverkehr insgesamt sicherer, auch und gerade für Kinder. 

Andere Städte zeigen es, und wir wissen es: Die Mobilitätswende kommt erst in Schwung, wenn wir die Straßenrandparkplätze umwidmen in Fläceh für Menschen ohne Blech um sich herum. Man fängt in der Innenstadt an, da gibt es zahllose Parkhäuser, am Straßenrand muss niemand sein Auto abstellen. Dann macht man das Anwohnerparken im Rahmen des Parkraummanagements so teuer wie es den Kosten entspricht, die die Gesellschaft dafür vorstreckt, (ca. 2.000 Euro pro Jahr), aber schon 200 Euro würden für einen "Verarmungs"-Aufschrei sorgen, dass dieser Platz da ist. Denen, die viel lieber mit dem Fahrrad fahren wollen, bieten wir Radabstellplätze alle hundert Meter in jeder Wohnstraße an, zum Teil auch als kostenpflichtige Fahrradgarage. Dann haben wir endlich auch Platz für Radstreifen entlang aller Straßen, wo jetzt noch kostenlos geparkt wird (etwa in Heslach entlang der Kaltentaler Abfahrt und Böblinger Straße).

Das Foto ist von Blogleser Gerhard.   

10 Kommentare:

  1. "Überall, wo kein Verbotsschild steht, darf geparkt werden."

    Das ist zwar gängige Praxis, ist aber falsch. Zunächst ist Parken ausdrücklich am Fahrbahnrand erlaubt (mit einigen Ausnahmen). Verboten ist es auf z.B. auf Rad- und Gehwegen. Ganz ohne Beschilderung. Denn Gehwege müssen nicht ausgeschildert werden. Und ein Radwege-Schild untersagt die Nutzung mit KFZ.

    Das autozentrierte Augenmaß ist tief in der Gesellschaft verankert.

    Was die Begriffe "Fahrradlobvyist", "Aktivist",... angeht. Wer mich so bezeichnet, den frage ich, ob er sich denn selbst als Autoaktivist bezeichnet.

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    1. Ja, Matthias, eigentlich müssten Autofahrende die Regeln auch kennen, aber wir sehen ja, dass sie auf Gehwegen parken (wo ja kein Parkverbotsschild stehen muss, weil es ohnehin verboten ist). Würde man die Beweislast sozusagen umdrehen und Autofahrende dürften nur dort parken, wo es ihnen per Schild erlaubt wird, dann wüssten alle ganz genau, dass sie vor Einfahrten oder auf Gehwegen oder Radwegen eben nicht halten und parken dürften. Das ist der Gedanke, den ich versuchte auszudrücken.

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    2. Die Beweislast wie du es nennst ist ja umgedreht. Parken ist nur dort erlaubt, wo es die StVO zulässt. Dazu braucht es keine Schilder. Nur ein Ordnungsamt, Polizei und den politische Willen, bestehendes Recht durchzusetzen

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    3. nicht zu vergessen im Bereich von Verkehrskreuzungen, die sind in Stuttgart notorisch beparkt, auch abgesenkte Bordsteine, etwa damit man mit Kinderwagen oder Rollstuhl die Seite wechseln kann, werden in Stuttgart ignoriert. Das Ordnungsamt beanstandet beide Vorgehensweisen nicht, obwohl sie nicht rechtens und gefährlich sind.

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  2. Liebe Christine, ich bewundere deinen dauerhaften und langatmigen Einsatz für die Belange der Radfahrer und Fußgänger und wie von dir geschrieben auch für diejenigen, die auf einen motorisieren Individualverkehr angewiesen sind. Ich hoffe dass sich dieser lange Atem auf Dauer auszahlt.
    Wünsche noch eine schöne Woche. Michael

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    1. Danke, Michael. Ich lese auch gern mal was Nettes: Und ja, es hat durchaus Sinn, was ich mache, das Blog hat eine weite Verbreitung. Aber schnell geht halt gar nichts, das ist eben in einer Demokratie so.

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    2. "Aber schnell geht halt gar nichts, das ist eben in einer Demokratie so."
      Ich glaube nicht, dass das an der Demokratie liegt. Warum sollte, etwas, das als richtig erkannt wurde, nicht auch in einer Demokratie schnell und konsequent angegangen werden? Zumal wir ja die Probleme nicht gerade jetzt erst entdecken. Da stehen schon sehr mächtige Partikularinteressen dagegen.

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  3. Super Blogpost Christine! Der öffentliche Raum in Stuttgart ist knapp und sollte möglichst aktiv durch viele genutzt werden, statt passiv durch wenige. Ein geparktes Auto ist eine passive Nutzung durch einen einzelnen. Der Platz neben der Strasse könnte besser als Gehweg order Fahrradweg aktiv genutzt werde, durch duzende Radler und Fussgänger. Das bringt Mehrwert für alle.

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  4. Tja das gleiche Augenmaß wenden die "Profis" auch bei allen anderen Bereichen des Klimaschutzes an. Resultat, wir fahren nicht ungebremst gegen die Wand, wir beschleunigen sogar noch.

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  5. Das ist lustig:
    erst am Wochenende habe ich meiner Tochter am Beispiel der Beschilderung am Naturschutzgebiet erklärt, dass in den Niederlanden alles erlaubt ist, was nicht verboten ist und bei uns alles verboten ist, was nicht elaubt ist.
    Es gibt jedoch Ausnahmen.
    Während in NL zur Geschwindigkeitsmessung Kennzeichen temporär gespeichert und so in der Fläche vernünfige Temponiveaus durchgesetzt werden können, versperrt sich hierzulande die Politik vehement gegen diese Form des gesunden Menschenverstands.
    Selbstredend warben die Hauptprotagonisten dieser Fehlentwicklungen mit dem Spruch "digital 1st - Bedenken 2nd".

    Es bleibt ein gewalttätiges Machtspiel.

    Und an diese Spielregeln sollten wir uns langsam auch anpassen.

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