3. August 2022

Radfahren ist doch gar nicht gefährlich!

Wir alle, die wir gerne und oft Rad fahren, hören sie oft: Die Ausreden der Autofahrenden, warum sie nicht aufs Fahrrad umsteigen können. 

Die Seite chrismon hat auf 13 Ausreden ausführlich und klug geantwortet. Blogleser Christian hat mich darauf aufmerksam gemacht. Er hatte vor allem ein Anliegen: Radfahren ist gefährlich - nein, stimmt eben nicht.

Wir tun uns schwer mit Wahrscheinlichkeiten, und wenn wir von Radunfällen hören oder in der Zeitung lesen (wo sie öfter stehen als reine Auto-Auto-Unfälle), dann fühlen sich die, die nicht Radfahren wollen, bestätigt. Dazu tragen auch solche Artikel wie vom Spiegel bei, wo die Unfallversicherer behaupten, wer zum Radfahren auffordere, ohne für mehr Radwege zu sorgen, nehme mehr Tote in Kauf. Dem steht entgegen, dass Radfahren gesünder erhält und das Leben insgesamt verlängert. Das größte Risiko für Radfahrende ist die Luftverschmutzung, das aber sinkt, je mehr Menschen Rad fahren und je weniger mit dem Auto. Luftgifte verkürzen die durchschnittliche Lebenszeit von Radlern um 40 Tage, Unfälle um 9 Tage. Dem steht ein Gewinn an Lebenszeit durch Bewegung und Zufriedenheit von 3 bis 14 Monaten gegenüber. Auch chrismon und der VCD stellen fest: Eine Studie aus England zeigt: Wer regelmäßig Fahrrad fährt, verringert das Risiko, verfrüht zu sterben, um 20 Prozent – und gegenüber Autofahrern sogar um 24 Prozent. Und eines gilt in jedem Fall: Ohne Radfahren lebt man nicht gesünder, sondern ganz im Gegenteil.

Statistisch verunglücken nur zwei Menschen auf eine Million Kilometer mit dem Fahrrad. Eine Million Kilometer muss man erst mal radeln. Klar, die Hauteigenschaft der Wahrscheinlichkeit ist, dass es auch übermorgen passieren kann oder eben in einer Lebenszeit nie. Der ADFC schlüsselt das unter dem Titel Mythen so auf: Radfahrende sind an 3,8% der Verkehrsunfälle beteiligt (etwa an jedem 25. Unfall). Zum Vergleich: Der Radverkehrsanteil (Modal-Split) beträgt etwa 15%. Täglich werden in Berlin 1,5 Millionen Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt (jeder 7. Weg). In Berlin gab es im Jahr 2016 insgesamt 17.394 Verunglückte im Straßenverkehr, davon etwa 10.000 in Kfz. 5.273 Personen verunglückten als Radfahrende, also nur etwas mehr als halb so viele wie in Kfz. Weniger als jeder 3. aller Verunglückten im Straßenverkehr ist ein Radfahrender. Getötet wurden im Straßenverkehr im Jahr 2016 in Berlin 17 Kraftfahrer (davon 10 auf motorisierten Zweirädern), 21 Fußgänger und 17 Radfahrende. Etwa jeder 4. Getötete im Straßenverkehr war mit dem Fahrrad unterwegs. (Ein Verkehrstoter wurde durch die Polizei als “Sonstige” klassifiziert.)

Wer Rad fährt, geht also kein unkalkulierbares Risiko ein. Und je mehr Menschen sich fürs Fahrrad entscheiden, sagt Anika Meenken vom VCD im Chrismon-Beitrag, desto weniger Autos sind unterwegs. Das ist allerdings eine Erfahrung, die wir in Stuttgart derzeit nicht machen. Es sind sehr viel mehr Menschen mit dem Fahrrad unterwegs als noch vor fünf Jahren, aber es sind kaum weniger Autos geworden. Das kann sich erst ändern, wenn die vielen Radfahrenden so viele Druck auf die Politik ausüben, dass die endlich mehr Verkehrsraum für Radanlagen bereitstellt, was nur geht, wenn den Autofahrenden Verkehrsraum weggnommen wird. 

Im Straßenverkehr sterben derzeit knapp 3.000 Menschen jährlich mit sinkender Tendenz, davon ungefähr 400 Radfahrer:innen und rund 350 Fußgänger:innen. Andere Dinge, die wir tun, sind statistisch deutlich gefährlicher als Radfahren oder zu Fuß gehen. Bei Hausarbeiten und Stürzen im Haushalt sterben beispielsweise jährlich inzwischen deutlich über 12.000 Menschen in Deutschland. Etwa 300 Menschen ertrinken (Flutopfer nicht mitgerechnet). Und jährlich gibt es etwa knapp 10.000 Suizide. Die Mordrate schwankt in den letzten 20 Jahren zwischen 450 und 245, nicht mitgezählt Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge (zwischen 1.700 und 2.000 Pro Jahr). Die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle liegt in den letzten Jahren etwa auf Höhe der tödlichen Fahrradunfälle. Es gibt also keinen Grund, das Radfahren für besonders gefährlich zu halten. 

Für Kinder sind übrigens Transportmittel am gefährlichsten, gefolgt von Gewässern (also Ertrinken). Wenn sie jünger sind, verunglücken sie eher im Auto, in dem sie gefahren werden, ältere Kinder eher mit dem Fahrrad. Insgesamt aber haben Kinder ein niedrigeres Unfallrisiko als andere Altersgruppen, wobei sie in Baden-Württemberg weniger oft im Straßenverkehr verunglücken als etwa in Schleswig-Holstein oder Brandenburg. 



10 Kommentare:

  1. schöner artikel im chrismon - vielen dank für den hinweis.
    und dank auch, frau lehmann, für den in teilen herrlich ungegendert geschriebenen beitrag.

    die fakten sprechen ja eh schon lange fürs fahrrad. jetzt geht's um pr.
    ein wenig erinnert das ganze an diskussionen mit rauchern.
    und es fehlt meines erachtens:
    "ich habe gehört, dass radfahren impotent macht, deshalb fahre ich lieber mit dem auto"
    da gibt's auch gute antworten.

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    1. Genau mein Humor: Passiv aggressiv gegen "gegenderte" Texte stänkern, aber einen Text hinterlassen, der durch fehlende Großschreibung kaum lesbar ist. Weiter so!

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    2. Ich bemerke, dass du dich schon so an die Erwähnung von Frauen unter den Radfahrenden gewöhnt hast, dass du das Gendern im Text gar nicht bemerkst und dir nur noch als störend auffällt, wo es in zitierten Texten nicht getan wird. Sehr schön!

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  2. Freundin von mir hatte sich im Homeoffice überlegt, dass sie doch an den einzelnen Tagen, die sie ins Büro muss, einfach mit dem Rad fährt. Sie wohnt auf dem Dorf, muss in die Stadt.
    Hinweg gut, Rückweg vom LKW auf der Landstraße auf Tuchfühlung überholt worden. Sie hat von Nahtoderfahrung gesprochen. Das wars für die mit dem "mit dem Rad zur Arbeit fahren". Es ist für sie zu unsicher und sie wollte nicht irgendwann im Straßengraben liegen, zusammengefahrenvon einem Vol... (ich weiß Christine, du magst den Begriff nicht, aber trotzdem).
    Solange es keine sicheren Radverbindungen gibt, wird man Leute, die solche Erfahrungen gemacht haben und nicht so hartgesotten sind wie manch andere, nicht mehr aufs Rad bekommen.
    Ansonsten gebe ich Dir Recht, dass viele Bedenken wirklich nur Bedenken sind. Aber trotzdem muss man mit dem Rad aufpassen wie ein Schiesshund, dass man nicht unter die Räder kommt.
    Karin

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    1. Wenn die Überland-Radinfrastruktur fehlt, ist das in der Tat keine gute Alternative Rad zu fahren. Die meisten, die Rad fahren, finden aber andere Wege, abseits der ängstigenden großen und von Autos viel befahrenen Straßen. Der erste Weg, den man radelt, ist selten der optimale für einen selber. Als Autofahrer:in kennt man aber nur die großen Straßen, als Radfahrerin findet man dann die anderen Wege, die die Tour zur Arbeit und zurück schön und erholsam machen.

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    2. Allein schon "suchen oder finden andere Wege". Man muss selbst und aktiv einen sicheren Weg suchen. Wegweise in der Regel Fehlanzeige, zu Anfang gute Wege verlaufen mitunter tatsächlich im Sand. Nein, ich möchte nicht ständig im Pfadfindermodus unterwegs sein müssen. Wenn ich unterwegs bin, will ich einen sicheren, beschilderten, guten Radweg vorfinden und keinen Acker oder Ende mit Treppe oder sonst eine Unwägbarkeit. Im Auto habe ich das ja auch nicht, dass ich kiliometerlang fahre und dann unvermittelt vor dem Ende der Strecke stehe, ohne Wendemöglichkeit und mit dem Hinweis "Ende der Srecke". Was denken sich eigentlich Verkehrsplaner bei solchen Aktionen?
      Das sind Dinge, sie vielen das Radfahren im Alltag vermiesen.
      Karin

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    3. "Wer will, findet Wege, wer nicht will, findet Gründe", danke ich manchmal. Radfahren tun wir zunächst einmal für uns, und wenn ich Rad fahren will, dann finde ich oft meine Wege, die es mir ermöglichen, auch wenn die Infrastruktur alles andere als für uns gemacht ist. Bei mir kommt es wie eine Ausrede an, wenn jemand sagt, man könne in Stuttgart nicht Rad fahren, es sei zu gefährlich, es gebe ja keine Radwege. Und selbstverständlich ist Radfahren auch gefährlich, aber es ist kein "unkalkulierbares Risiko", so wie die Wohnung putzen und auf Leitern steigen oder Treppen hinab gehen kein unkalkulierbares Risiko darstellt, aber durchaus gefährlich ist, denn auch da passieren Unfälle. Und auch Autofahren enthält Gefahren, für einen selber und für andere. Ein Mensch, der mit dem Auto einen anderen getötet oder gravierend verletzt hat, wird seines Lebens nicht mehr froh, abgesehen von den Verletzungen, die man selber erleidet, wenn einem auf der Landstraße einer auf der eigenen Spur entgegenkommt und man frontal zusammenstößt.

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  3. Wenn Radfahren nicht besonders gefährlich ist sollten wir davon Abstand nehmen bei dieser Tätigkeit Helme zu tragen. Das suggeriert anderen Verkehrsteilnehmern nämlich genau das Gegenteil.

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    1. Ich denke, wir sollten vor allem keine Vorschriften machen, wie jemand Rad fährt und was er oder sie dabei anzieht. Das bleibt jedem/r selbst überlassen.

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  4. Helmapostel sind da aber nicht zimperlich und stellen jeden der keinen Helm trägt gerne als Idioten dar.

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