14. Oktober 2022

Eine zufällige Beobachtung

Manchmal stehe ich an einer roten Radlerampel und schaue zu, was die Autofahrenden so machen. Da ich lange stehen muss, habe ich viel Zeit. Ich kann das Handy in die Hand nehmen und fotografieren. 

Ich habe es längst wieder weggesteckt, wenn ich endlich Grün bekomme. Als ich an der Ampel Kolbstraße wartete, sah diesen Autofahrer in dem blauen Auto. Er kommt vom Österreichischen Platz her und muss eigentlich auf der Hauptstätter Straße Richtung Marienplatz und Heslacher Tunnel weiterfahren. Linksabbiegen ist verboten. Er will aber nach links in die Kolbstraße einbiegen und muss den gesamten Gegenverkehr abwarten. Dabei telefoniert er bei offenem Fenster und spricht laut ins Smartphone (schwer verboten!), das er vor sich in der Hand hält. Er hat auf der linken Spur angehalten (schwer verboten!). Alle anderen Autofahrer müssen nach rechts wechseln, um an ihm vorbeizufahren. Ein Lkw-Fahrer tut das nicht, sondern fährt links vorbei, auf der linken Spur des Gegenverkehrs, der ebenfalls die ganze Zeit Grün hat (Collage unten, Bild rechts oben). Während er weiterhin ins Handy spricht, ergibt sich eine Lücke und der Autofahrer biegt ab. Wäre in diesem Moment ein Kind bei Grün über die Fußgängerfurt vor mir gegangen, hätte er es erwischt, denn mehr als zwei Entscheidungen gleichzeitig kann das Gehirn nicht treffen (und eine davon ist telefonieren), allemal nicht schnell genug, um einen Unfall zu verhindern. 

Manchen Zeitungsjournalisten lieben es, auf Radfahrende einzudreschen und dabei kühne Behauptungen über deren Aggressivität und Anarchie aufzustellen. Dabei geht er (manchmal auch sie) nur von persönlichen Beobachtungen aus. Der Radler dort fährt bei Rot, die Radlerin hat Kopfhörer im Ohr, eine Sonnenbrille auf und biegt bei Rot ab, dieser Radler schlingert so abenteuerlich über deine Kreuzung, dass er einen Lkw-Fahrer zur Vollbremsung zwingt etc. Warum fahren Radfahrende als hätten sie zwei Leben, fragt er sich, und warum sind sie, behauptet er mal kurz, aggressiver als Autofahrende? 

Ich kann mindestens ebensoviele gespenstische Begegnungen und Manöver von Autofahrenden schildern, und da geht es mir nicht anders, als allen anderen Radfahrenden. Verkehrsverstöße von Autofahrenden sieht man grundsätzlich schwerer als die von Radfahrenden. Wir sehen nicht, ob einer 60 statt 50 km/h fährt, wir sehen die vielen Fahrten bei gerade rot gewordener Ampel kaum, und andere Autofahrer sehen meistens nicht, ob jemand mit dem Handy telefoniert (ich als Radlerin sehe das ziemlich gut). Die Verkehrsverstöße von Autofahrenden, die wir alle sehr gut sehen können, sind das Parken auf Radwegen und Gehwegen oder in Fußgängerzonen. Aber das übersehen Autofahrende großmütig, denn morgen machen sie es selbst. Deshalb glauben viele Autofahrende, es seien hauptsächlich die Radfahrenden, die sich nicht an Regeln halten. Das ist aber halt ein Irrtum. 

16 Kommentare:

  1. Leute, die nach unten treten, braucht man nicht ernst nehmen, auch wenn sie oftmals von Gleichgesinnten Gehör finden. Ob im Straßenverkehr oder um die Debatte um das Bürgergeld.

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  2. Das nennt man kognitive Verzerrung.
    Confirmation bias und ingroup bias sind hier u.a. am Werk.

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  3. Das Autofahrer sich nicht an die Regeln halten, sieht man auch in der Unfallstatistik ganz gut: Radfahrer verursachen ca. 50-55% der Unfälle ( incl. Alleinunfälle) an denen ein Fahrrad beteiligt ist. Autofahrer aber über 80% der Unfälle mit Autobeteiligung und jeweils ca 75% der Unfälle zwischen Auto und Rad bzw. Fußgänger

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  4. Danke für deine sachlichen Beobachtungen! Mein dickes Fell ist durch die ständige Reibung leider im Laufe der Zeit sehr dünn geworden.

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  5. Heute früh stand in der Zeitung ein Leserbrief mit dem Tenor "Radfahrer halten sich nie an Verkehrsregeln, die gehören mal ordentlich kontrolliert". Nein, alle Verkehrsteilnehmer halten sich nicht an Regeln, egal welcher Verkehrsart. Viele nutzen doch verschiedene Verkehrsarten und sind auch unterschiedlich unterwegs, mal als Fußgänger, mal als Radfahrer, mal mit dem Auto, mal mit ÖPNV. Überall sieht man Verkehrsverstöße, Fußgänger, die bei rot rennen, aber auch Radfahrer und Autofahrer (wo Wunder), überall sieht man Verstöße von egal welchen Verkehrsteilnehmern. Es ist kein Verkehrsmittelproblem, sondern ein gesellschaftliches (und das sag ich als Technikerin). Es ist nicht mehr en vogue sich an Regeln zu halten, nur noch Ellenbogen und ich, ich, ich. Und die Verantwortung immer schön an andere abdrücken wollen, ist mittlerweile Standard. Autofahrer sind zu schnell, wenn Radfahrer unbeleuchtet auf der Fahrbahn rumgondeln, waren zu schnell, wenn man "noch schnell" über die rote Ampel huscht. Der Fußgänger ist zu früh losgelaufen, wo ich doch noch mit dem Auto über rot bin. Sollen sie doch wegziehen, wenn ihnen meine Poserkarre zu laut ist, wer wohnt schon in der Stadt.
    Ein bisschen mehr über den eigenen Tellerrad sehen, nicht unbedingt um für die anderen Verständnis zu haben, sondern das eigene Verhalten hinterfragen. Könnte ich bei Beschwerden vielleicht auch mal Verständnis für die andere Seite aufbringen und mal deren Position beleuchten? Aber trotzdem muss man besonders den Autofahrern beibringen, dss nicht jede Fläche zum Fahren oder Parken gedacht ist. Aber auch e-scooter werden einfach dort stehengelassen, wo man gerade absteigt. Das ist für mich wie einfach Müll wegwerfen. Es wird sich schon einer drum kümmern, dass das wegkommt, mir ist es egal.
    Und das ist das Problem im Verkehr -ich, ich, ich- der Rest ist mir egal.
    Karin

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    1. Wobei der riesengroße Unterschied zwischen Autofahrern und Radfahrern das Gewicht und die Geschwindigkeit sind und mithin die Gefahr ist, die sie auf die Straße bringen. Insofern sind Regelverstöße durch Autofahrer in keinster Weise mit denen von Radfahrern zu vergleichen.

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    2. Danke Karin, du sprichst mir aus der Seele. Dem ist nicht viel hinzu zu fügen.
      Andreas

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    3. Liebe Karin, genau auch meine Beobachtungen. Ich bin als Auto-und Radfahrer unterwegs und versuche mich an die geltenden Regel zu halten. Bei Autofahrern bin ich es gewohnt, dass wenig Einsicht herrscht, wenn man sie auf einen Fehler aufmerksam macht.
      Aber auch die Radlerfraktion möchte offensichtlich dem nicht hinten anstehen.
      Vor kurzem ist ein älterer Herr ganz gemütlich über eine (seit 1 Minute) rote Ampel geradelt. Mein Hupen (im Auto) hat ihn dazu bewogen, mich zu beschimpfen und mit ausgestrecktem Mittelfinger davon zu fahren. Und bei den beiden nächsten roten Ampeln sich genauso zu verhalten.

      Anderes Beispiel:
      Momentan gibt es in der Möhringestr. auf Höhe Bella Napoli ein Durchfahrt verboten (Einbahnstr.) in Richtung Marienplatz.
      Radler müssten beim Bella Napoli nach links über die Böblingesrtr. ausweichen. Es steht auch extra ein Schild dafür da.
      Das Verbot hält manch Radler nicht davon, bergab Richtung Marienplatz zu fahren. Wenn ich als Radfahrer von unten keuchend nach oben fahre und gerade noch ein "das ist eine Einbahnstraße" herausbringe, ernte ich natürlich kein Verständnis, im Gegenteil.
      Fazit: Unser Zusammenleben im Straßenverkehr ist ein großes Problem.
      Meinen ersten geschilderten Fall werde ich in Zukunft zur Anzeige bringen. Im Auto läuft eine Kamera mit und beim Hupen wird das Video gespeichert.
      Klaus

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  6. Deine Beobachtung ist zutreffend! Was mich derzeit aber am meisten nervt, sind die achtlos, von offensichtlich hirnlosen Menschen - meist jung und männlich - entsorgten E-Scooter auf gemeinsamen Geh- und Radwegen, die die sowieso schon unerfreuliche Situation der Mischung dieser Verkehre weiter verschlechtern. Wann gibt es auch in Stuttgart Regelungen, wie in Bordeaux, Düsseldorf usw., die ein Abstellen nur auf markierten Plätzen zulassen oder müssen wir erst mal wieder jahrelang auf ein "Stuttgarter Modell" warten - siehe Stuttgarter Rechteck, statt einfacher und schneller Lösungen
    für das Abstellen von Zweiradfahrzeugen auf der Fahrbahn durch Markierungen, Poller, Bügel?

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    1. Es wird bald solche markierten Flächen für E-Scooter, aber eben nur in der Innenstadt. Die Leute fahren damit aber vor allem die Hänge rauf und lassen die E-Scooter dann irgendwie stehen, und da sie nur rauffahren, sammeln die sich dann. Und wenn man an solchen Wohnstraßen E-Scooterflächen markieren wollte, müsste man das alle 100 Meter tun, was jeweils einen Parkplatz kostet, und was auch deshalb nicht fair wäre, weil wir zu allererst alle 100 Meter Fahrradbügel auf Autostellpkatzflächen bräuchten. Das E-Scooter-Problem ist nicht lösbar. Es sei denn, der Bund würde für die Dinger eine Helmpflicht einführen, aber das tut er nicht, denn dann wäre das Geschäftsmodell tot, weil die Anbieter ja auch Helme anbieten müssten. Ohnehin sieht es so aus, als wäre die ganze E-Scooter-Vermietung nicht wirtschaftlich. Ohnehin wird sich der Service für die jetzt extrem verteuern, weil Energie teurer wird, und sie werden auch zunehmen Schwierigkeiten haben, Leute für den Service zu kriegen. Und wenn wir nicht mal Autofahrende dazu bringen können, nicht auf Gehwegen zu parken, wie sollten wir dann E-Scooterfahrer dazu bringen?

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    2. Ganz einfach: Wir haben ja doch ein Ordnungsamt, das fleißig Knöllchen an falschparkende Autofahrer verteilt. Über das Ordnungsamt die falschparkenden Roller dokumentieren,- ist doch heute kein Problem,-einsammeln und den Vermieterfirmen in Rechnung stellen, inklusive einer saftigen Gebühr.Und keine Diskussionen und langwierige Gerichtsverfahren. Wird die Summe nicht innerhalb einer eng gesetzten Frist bezahlt wird, der Roller ökogerecht
      recykelt und die Kosten trägt der Verleiher.Wird direkt bei Ihm abgebucht. Er kann sich ja das Geld bei seinen Kunden holen. Und Schwuppdiwupp wird der dann ganz schnell die Leihbedingungen höher hängen.

      Viele Grüsse Andreas

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  7. Und noch eine Ergänzung: Die Missachtung mehrerer Verkehrsregeln gleichzeitig, wie ich sie oben im Artikel beschreibe, ist vor allem bei Autofahrenden besonders schlimm, weil sie mit ihren Autos sehr leicht töten können, und weil das ja auch oft geschieht. Durch einen Zusammenstoß mit einem E-Scooter oder einem FAhrrad können Leute zwar verletzt werden, aber sie werden kaum je getötet. Und die Regelverstöße von Fußgäner:innen gefährden nur sie selbst. Deshalb ist es schon ein Riesenunterschied, wer sich über Regeln hinwegsetzt: Vom Auto geht einfach die viel größere Betriebsgefahr für andere aus.

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  8. Ich brauche nur an meinen Arbeitsplatz aus dem Fenster auf die davor liegende Ampel schauen. Dort sind Rotlichtvergehen, Missachtung der aufgemalten Richtungspfeile, falsches Verhalten beim Abbiegen (die Autos müssen hier hintereinander abbiegen, es ist extra beschildert), Missachtung der Grünphase für Fußgänger (insbesondere rasende Rechtsabbieger) und noch so vieles mehr Standard.
    Problematisch ist dieses da sich dort neben einer Bushaltestelle auch eine Stadtbahnhaltestelle befindet und ein entsprechend hoher Fußgängeranteil vorhanden ist. Diese sind sich selbst bei korrektem Verhalten nicht des Lebens sicher.
    Verstöße von Radfahrern und Fußgängern sieht man hingegen sehr selten. Meist nur dann wenn die Stadtbahn einfährt und der Fußgänger versucht wagemutig bei Rot die Straße zu überqueren, um die Bahn noch zu erreichen. Bei 50 % aller Versuche ein gefährliches und vor allem sinnloses Unterfangen, da die Stadtbahn selten erreicht wird.

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  9. "Wäre in diesem Moment ein Kind bei Grün über die Fußgängerfurt vor mir gegangen, hätte er es erwischt".

    Ich mag das Wort "erwischt" im Zusammenhang, jemanden zu überfahren, gar nicht. Es kommt viel zu oft in den verharmlosenden Pressemitteilungen vor. Wenn ich von so einem Dödel überfahren werde, möchte ich nicht lesen, ich sei "erwischt" worden (wenn ich noch lesen kann).

    Für das Opfer eine Beleidung und für den Täter der halbe Freispruch.

    Stefan, Fürstenfeldbruck, Bayern

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    1. Hast ja schon Recht. Allerdings ist es ja nicht passiert. Aber ich werde das nächste Mal bedachtsamer formulieren.

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