19. März 2023

Das routinemäßige Missverständnis der Unfallstatistik

Baden-Württemberg hat Zahlen zu Verkehrsunfälle im vergangenen Jahr vorgelegt. Wie jedes Jahr ist die Interpretation der Statistik eher irreführend und stellt das Radfahren als besonders gefährlich dar. 

Die Presse spitzt die Unfallbilanz 2022 auf den Satz zu, erstmals seien im Land mehr Radfahrende getötet worden als Motorradfahrende. Das klingt, als ob das irgendwie ein Erfolg sei. Das legt die Pressemeldung des Landes nahe. Die steigende Zahl der Unfälle mit Fahrrädern sei besorgniserregend, erklärte der Landesverkehrsminister und lässt sich mit folgenden Worten zitieren: „Im letzten Jahr starben erstmals mehr Radfahrende als Motorradfahrende auf den Straßen Baden-Württembergs. Etwa zwei Drittel der tödlich Verunglückten war mit einem Pedelec unterwegs, 45 trugen keinen Fahrradhelm. Der Fahrradhelm kann Leben retten.“ "Radfahren ist tödlicher als Motorradfahren", macht t-online daraus. Und da wird es hanebüchen. 
 
Dem Bericht des Landes fehlen sämtliche Bezugsgrößen, die eine realistische Einordnung erlauben würden, weshalb ein völlig falscher Eindruck zum Nachteil der Radfahrenden, insbesondere der Pedelec-Radler:innen entsteht. Wieder einmal wird das Radfahren als besonders selbstgefährdendes Tun in die Schlagzeile gesetzt und zur Leitaussage gemacht. Warum eigentlich? Es stimmt nämlich nicht. 
 
Die die Zahl der getöteten Motorradfahrer:innen wird im Bericht übrigens nicht einmal genannt. Es seien 5 weniger als 2021. Gehe ich in den Bericht über  2021, dann lese ich dort auch keine exakte Zahl, sondern nur, dass jeder fünfte Verkehrstote mit dem Motorrad unterwegs gewesen war (5 scheint eine beliebte Standardzahl zu sein). Wenn ich die Zahl der Verkehrstoten im Jahr 2021 durch 5 teile, komme ich auf 69,7, also nicht die tatsächliche Zahl. Laut dem Statistischem Landesamt waren es 83 (Nutzer:innen motorisierter Zweiräder). Im Folgejahr 2022 müssten es demzufolge 64 oder 65 getötete Motorradfahrende sein (oder aber 83 - 5 = 78), t-online meldet 66. Dem stehen 75 Radfahrer:innen gegenüber, die im vergangenen Jahr im Land im Straßenverkehr getötet wurden. (2021 waren es 57 und 28 davon fuhren Pedelecs.) Doch, wenn man die Gesamtzahl der polizeilich registrieren Radunfälle von 12.700 betrachet, ist das Risiko, dabei zu Tode zu kommen, mit 0,6 Prozent für Radfahrende immer noch um zwei Drittel geringer als für Motorrradfahrende mit 1,4 Prozent bei ihren 4.700 Unfällen. 

Gemessen am Bestand von knapp 700.000 Motorrädern, die ja oft nur saisonal oder am Wochenende, also selten, gefahren werden, ist die Zahl der Unfälle doch immer noch recht hoch. Dagegen stehen in Baden-Württembergs Haushalten deutlich mehr als zehn Mal so viele, nämlich rund 10 Millionen Fahrräder herum, die auch mehr oder weniger gefahren werden, teils saisonal und an Wochenenden, teils im Alltag. Rund 9 Millionen Menschen sind in Baden-Württtemberg (mit seinen 11 Millionen Einwohner:innen) jeden Tag im Durchschnitt ungefähr 1 Stunde und 20 Minuten draußen unterwegs, mit Autos, Fahrrädern, E-Sootern, zu Fuß und mit öffentlichen Verkehrsmitteln (siehe hier). Davon fahren nach meinen Berechnungen rund 4 Millionen (44 %) jeden Tag mit Autos auf unseren Straßen und so 900.000 (10 %) mit dem Fahrrad. Fahrten mit dem Motorrad sind offenbar so unerheblich, dass sie (hier S.11) gar nicht aufgeführt werden. Insofern bleibt das Motorradfahren die für ihre Fahrer:innen selber gefährlichste Fortbewegung, und ob es in einem Jahr fünf mehr oder weniger Todesfälle gibt, ist im statistischen Mittel ohnehin wenig aussagekräftig. 

Was bei der Grundaussage des Landesberichts auch fehlt, sind Bezugsgrößen wie die vermutlich von Jahr zu Jahr zunehmende Zahl der Radfahrten. Wenn nämlich mehr Leute Rad fahren und noch mehr Leute mit Pedelecs weitere Strecken radeln und sich länger auf den Straßen aufhalten, könnte im Verhältnis dazu die Zahl der Getöteten im Jahresverlauf sogar abgenommen haben, vielleicht aber auch nicht, wer weiß? Und wenn mehr Leute Pedelec fahren und mehr ältere mithilfe des Pedelecs in den Radverkehr zurückkehren, dann steigt auch ihre Zahl in der Statistik, ob im Verhältnis oder im Missverhältnis dazu, lässt sich von mir leider nicht überprüfen (grundsätzlich ist der Anteil der Menschen über 65 an Unfällen im Verhältnis zu ihrer Zahl geringer als bei jüngeren Menschen), genauso wenig wie die Frage, ob alle, die ohne Helm starben, an Kopfverletzungen gestorben sind oder an anderen Verletzungen.

Ohne Zweifel ist jeder radfahrende Mensch, der in unserem vom Auto dominierten Straßenverkehr getötet wird, einer zu viel. Es müssen weniger werden. Keine Frage. Es ist aber auch jedes Kind, das in einem Auto stirbt, und jede/r Fußgänger:in eine/r zu viel. Wenn man die Zahl der im Straßenverkehr getöteten  Radfahrenden und Fußgänger:innen (also all jener, die ungepanzert unterwegs sind) verringern will, muss man den Autoverkehr verlangsamen, Kreuzungen für Radfahrende sicher gestalten (Ampelschaltungen ändern) und Kampagnen machen, die wertschätzend übers Radfahrend informieren und fürs Radfahren werben. Das wiederum kann nicht der Landeverkehrsminister alleine entscheiden, das müssen die Städte mit ihrer Verkehrspolitik machen, und dafür muss der Bund die Gesetze schaffen, die Geschwindigkeitsbeschränkungen, Vorrang für Radfahrende und Fußgänger:innen und die Entwidmung von Straßen zugunsten selbstaktiver Mobilität erleichtern. 

Bestürzend übrigens, dass die Zahl der meist durch Autofahrende tödlich verletzten Fußgänger:innen dieses Jahr niemanden interessiert. 2021 wurden 35 in Baden-Württemberg getötet (meistens ohne selber Schuld gehabt zu haben). Es ist mir nicht gelungen, die Zahl für 2022 herauszufinden. Es steht zu vermuten, dass es mehr waren, weil im ersten Halbjahr 2022 die Zahl der verunglückten Fußgänger:innen zugenommen hat. Das würde zumindest dem Bundestrend entsprechen. 

Insgesamt starben im vergangenen Jahr in Baden-Württemberg 351 Menschen in Autos, Lastwagen, auf Fahrrädern, Motorrädern, E-Scootern oder zu Fuß. 42.000 verunglückten (+12 %), knapp 7.000 (+4,2 %) wurden schwer und 35.000 (+13,8 %) leicht verletzt. Da die meisten Unfälle von Autofahrenden verursacht werden, die zu schnell fahren, steht zu vermuten, dass im Jahr 2022 in Baden-Württemberg insgesamt etwas langsamer gefahren wurde. Jeder Stau rettet Leben. 


8 Kommentare:

  1. Informativer Beitrag! Die Rechnung 83-5=68 oben bitte nochmal nachprüfen! :-)

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  2. Hab mich gestern am Charlottenplatz fast in die Statistik für 2023 eingefügt. Auf dem Weg vom Landtag Richtung Breuninger, bin ich im zweiten Abschnitt einfach über die kleine Insel weitergefahren … war halt noch nicht grün. Ich bin selber schuld, aber warum ist das eigentlich so? Um Unfälle zu vermeiden, wäre es doch besser erst alles auf einmal grün zu schalten.

    Gruß termhidor

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    1. Ja, schön wär's, aber die Ampel-Ingenieure kriegen das halt nicht hin, weil sonst der Umlauf für die Autos auf dem großen Charlottenplatz nicht mehr so reibungslos funktioniert und es dann zu Staus kommt.

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  3. Beim Modalsplit werden selten Motorräder separat ausgewiesen. Schwäbisch Gmünd hat das in der letzen Verkehrsanalyse gemacht: Fahrrad 9% "Mot. Zweirad" 1%
    Bei gleich viel Todesfällen wäre Motorradfahren 9 mal gefährlicher pro Weg.
    Bezogen auf die Entfernung war die Verteilung 5% zu 2%, also immer noch 2,5 mal so gefährlich pro km.
    https://bi.schwaebisch-gmuend.de/getfile.asp?id=117843&type=do

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  4. there are 3 types of lies:
    lies,
    damn lies,
    and statistics.

    karl g. fahr

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  5. "Etwa zwei Drittel der tödlich Verunglückten war mit einem Pedelec unterwegs, 45 trugen keinen Fahrradhelm"
    Diese Kombination in einem Satz macht mich richtig wütend. Mal vom Victim Blaming abgesehen, ist das mittlerweile zur 08/15 Sprechblase in Polizeimeldungen verkommen.
    Macht ja nix, dass da Radfahrer sterben, aber einen Helm hätten sie tragen müssen. Selber schuld.
    Das ist Mobbing vom Feinsten. Stört bloß unsere freien Autostraßen nicht. Und die Polizei, die eigentlich für *alle* verkehrsteilnehmenden Bürger da sein sollte, macht fleißig mit. Wie die abschreibende Lokalpresse und jetzt sogar das Ministerium vom Winne Herrmann.

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    1. Dabei müßte man ehrlich den Unfallgegner Fahrzeugtyp nennen. Und das werden ca. über 80 % PKW sein. Und die Helmredner sollen mir mal erklären wie der Helm den Unfall verhindert.

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