29. Mai 2020

Warum musste in der Hegelstraße eine Fußgängerin sterben?

Der Fahrer eines Pick-ups ist an einem Bus vorbeigefahren und hat eine Fußgängerin getötet.

Das geschah vor einer Woche. Viele Menschen haben seitdem am Unfallort der Toten gedacht.

Die Hegelstraße bei der Russischen Kirche im Stuttgarter Westen ist nicht unproblematisch. Autofahrende müssen sich die Fahrbahn erst mit der Stadtbahn teilen, dann müssen sie warten, wenn der Bus an der Haltestelle Ecke Seidenstraße hält, weil es nur eine Fahrbahn gibt. Die Stadtbahnschienen links sind mit weißen Streifen als Sperrfläche gekennzeichnet, die nicht überfahren werden darf. Radfahrende sind auch unterwegs und lösen Überholdruck aus.

Hätte der Fahrer des Dodge sich an die Verkehrsregeln gehalten, würde die junge Frau noch leben.

Die 17-Jährige wollte die Straße zur Kirche hin vor dem stehenden Bus überqueren. Sie musste nicht damit rechnen, dass von links ein Auto kommt. Denn da ist jeine Sperrfläche. Der Fahrer des Dodge aber war aber gerade dabei, über die Sperrfläche hinweg an dem Bus vorbeizufahren, offensichtlich so schnell, dass er nicht mehr bremsen konnte (an haltenden Bussen darf nur langam vorbeigefahren werden). Er verletzte die junge Frau so schwer, dass sie am Montag im Krankenhaus starb. Die Polizei sucht noch Zeug:innen, die das Geschehen beschreiben können. Eines aber scheint offensichtlich: Das Auto hätte unter keinen Umständen an dem Bus vorbeifahren dürfen. Die Sperrmarkierungen auf der Fläche der Stadtbahnschinen verbieten das eindeutig. So sehen es auch die Stuttgarter Nachrichten, die auch ein Foto des Fahrzeugs veröffentlicht haben.

Der Unfall löst bei uns Entsetzen aus. Schwere Autos, zu schnell gefahren von Fahrer:innen, denen die Verkehrsregeln egal sind, da sind Menschen zu Fuß oder auf Fahrrädern chancenlos. Wir sind am Mittwoch abend dort eine Stunde gestanden, und wir haben Kerzen aufgestellt. Etliche Menschen kamen und gedachten der Toten. Eine Gruppe betete für sie.

Das Problem ist die grüne Ampel. In der Stunde, die ich dort stand, kamen fünf Busse. Kein Auto ist über die Sperrfläche an dem Bus vorbeitgefahren, das scheint also nicht oft zu passieren. Ein Autofahrer allerdings war dicht davor, es zu tun. er schwenkte schon ein auf die Sperrfläche, doch der Bus fuhr dann los. Allerdings es fuhren zwei von mir gesehene Moped- und Motorradfahrer:innen über die Sperrfläche am Bus vorbei (zum Beispiel der auf der Fotocollage, das andere war so schnell für meine Kamera). Verführt werden sie durch die grüne Ampel. Sie sehen, dass der Bus hält, die Ampel aber Grün ist. Würde diese Ampel auf Rot springen, sobald der Bus die Haltestelle anfährt, wäre die Versuchung für eine illegale Vorbeifahrt geringer. Die Lösung zur Entschärfung dieser Situation wäre also, die Ampel so zu schalten, dass sei rot wird und der Busfahrer sie vor seinem Start auf Grün schalten kann.

Sperrflächen werden gern missachtet. Dass die Sperrflechen Autofahrenen generell keinen sonderlichen Respekt abnötigen, konnte ich auch beobachten. Dieses Auto steht auf der Sperrfläche auf den Gleisen, weil der Fahrer nach links in eine Einfahrt fahren möchte. Selbst wenn er auf der Fahrbahn den Gegenverkehr abgewartet hätte, hätte er so nicht links abbiegen dürfen, denn er muss dazu die Sperrfläche überfahren. Und der Autofahrer (in der Collage unten) überholt einen Radfahrer und tut das, indem er halb auf der Sperrfläche fährt. Ob er sich wohl vorher nach hinten umgeschaut und vergewissert hat, dass keine Stadtbahn kommt?

Die Hegelstraße benachteiligt Fußgänger:innen. Man sieht, dass die Fußängerquerungen zu weit auseinander liegen (es sind 118 Meter). Deshalb queren immer wieder welche die Hegelstraße zwischen den Überwegen. Das ist auch nicht gefährlich, wenn sich Autofahrende an der Verkehrsregeln halten. Die getötete junge Frau hätte, um zur Russischen Kirche zu kommen, erst über die Seidenstraße und dann auf der anderen Seite der Kreuzung über die Hegelstraße gehen müssen. Das sind alles in allem knapp 100 Meter gegenüber 16 Metern direktem Weg. Fußgänger:innen machen nicht gern Umwege. Sie müssen nämlich, im Gegensatz zu Autofahrenden alles mit Muskelkraft machen. Deshalb gehören Fußgängerquerungen eigentlich auf alle vier Seiten einer Kreuzung.

Sicherung der Fußgänger:innen ist vornehmste Aufgabe der Straßenverkehrsbehörden. Es mag die Frage aufkommen, ob die Fußgängerin hier die Fahrbahn hätte überqueren dürfen. Ich bin keine Verkehrsjuristin und kann die Frage nicht beantworten. Wenn ich die StVO § 25 zum Fußverkehr lese, ist da einiges an Abwägung im Spiel.  Zufußgehende dürfen über Gleise gehen, wenn sie Teil der Fahrbahn sind. Sie sollen den Verkehr beachten und zügig rüber gehen. Und sie sollen an Kreuzungen die Fußgängerüberwege benutzen. Queren darf man eine Straße auch, wenn man mehr als fünf Meter von einer beampelten Fußgängerfurt entfernt ist (die auf Rot steht). In den Verwaltungsvorschriften heißt es: "1 I. Die Sicherung des Fußgängers beim Überqueren der Fahrbahn ist eine der vornehmsten Aufgaben der Straßenverkehrsbehörden und der Polizei. Es bedarf laufender Beobachtungen, ob die hierfür verwendeten Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen den Gegebenheiten des Verkehrs entsprechen und ob weitere Maßnahmen sich als notwendig erweisen."

Zwei Lösungsvorschläge: Ich würde sagen, an dieser Kreuzung erweisen sich weitere Maßnamen als notwendig: Entweder braucht es aufseiten der Russischen Kirche ebenfalls einen beampelten Überweg, oder die Ampel an der Kreuzung wird auf Rot geschaltet, sobald der Bus anfährt und hält. Der Busfahrer fordert beim Start wiederum Grün an.
Zebrastreifen sind hier nicht möglich, weil die Stadtbahn bei Zebrastreifen dennoch Vorrang hat, was aber sicherlich niemand weiß.


14 Kommentare:

  1. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Stuttgart steht nicht nur verkehrstechnisch vor dem Super-Gau...

    Die ganzen Autos haben in der Innenstadt überhaupt nichts zu suchen.

    Schade, das ich nicht die Macht habe. Bei mir gäbe es nur eine Fahrzeuggröße und ein Kollektivmodell: Einen E-Smart mit 500 Km-Batterie und einem verpflichtenden/ fest installierten Fahrradständer hinten drauf. Damit würde man vor den Toren Stuttgarts parken und den Rest, radeln. Punkt.

    Dieser kranke SUV-500Ps-Panzer-Wahn ist eine Erfindung von Männern für Männer. Ohne Mehrwert für die Gesellschaft. Dreckschleudern und lebensgefährlich..

    Aber Firmen wie AMG, Porsche & Co. die diese 'sinnfreien' Kisten bauen, werden von den Politikern hofiert: MP Kretschmann an vorderster Front. Verheerendes Signal...

    Ich habe nichts gegen Autos- nur was gegen Dumme Autos und eine Dumme Verkehrspolitik...Klaus Riegert

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    1. Liber Klaus, niemand von uns hat die Macht. In einer Stadt haben überhaupt einzelne keine Macht. Wir leben ja in einer Demokratie. Allerdings könnte die Verkehrsbehörde auch ohne Gemeinderatsbeschluss hier Maßnahmen als Konsequenz aus dem Unfall vorschlagen. Autos verbieten geht halt nicht, das würde der Gemeinderat nicht mitmachen. Dafür gibt es keine Mehrheit. Ich gebe dir aber Recht: Ich finde große Autos müssen in der Stadt nicht herumfahren. Vor allem aber finde ich, müssen sich Autofahrende an die Verkehrsregeln halten.

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  2. Ich wohne in der Nähe des Unfallortes und die Bushaltestelle nutze ich regelmäßig. Entgegen Deiner Beobachtung muss ich sagen, dass es dort sehr häufig vorkommt, dass der stehende Bus überholt wird, meist sind die Fahrzeuge recht schnell dabei.
    Deine Beobachtung resultiert wahrscheinlich aus der aktuellen Situation heraus, die Autofahrer sind ggf. etwas sensibilisiert an dieser Stelle. Sehr lange anhalten wird dies aber sicher nicht.

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    1. So habe ich mir das auch vorgestellt, nämlich, dass ich innerhalb einer Stunde einen Autofahrer sehe, der vorbei fährt. Nomalerweise ist es so, dass alles, was in einer Viertelstunde passiert, häufig passiert. Jetzt fährt der Bus ja aber seltener, deshalb eben eine Stunde. Vielleicht sind die Autofahrnden tatsächlich gerade etwas sensibilisiert.

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    2. ein sehr netter Artikel
      Da ich sehr häufig an dieser Stelle vorbei fahre kann ich sagen dass 95% der Autos die Busse dort überholen
      Normalerweise sollte man sehr langsam einen Bus überholen und immer schauen Busse überholen ist sowieso unangenehm als autofahrer
      Und an der Stelle sollte man es eigentlich nicht machen aber wenn man es macht dann natürlich Augen auf die Straße und nicht woanders hin

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    3. An der Stelle sollte man es nicht nur nicht tun, man darf es nich tun, weil man eine Sperrfläche überfährt, die man nicht überfahren darf.

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  3. Die Erfahrung zeigt doch mehr als eindeutig, dass Autos inzwischen überall fahren, wenn sie es KÖNNEN — unabhängig davon ob sie es dürfen. Denkt mal zurück an die "Unterbrechung" der Tübinger Straße in Höhe der St.-Maria-Kirche bei der Einführung der dortigen "Fahrradstraße": Die Autos sind über die Gehwege gefahren und haben sich sonst wo durchgedrückt, Regeln hin und Regeln her.

    Daher ein Vorschlag für ein einfaches Mittelchen, das in der Hegelstraße helfen könnte: Am Rand der schraffierten Fläche, also entlang der Straßenbahnschienen wird schlichtweg ein simpler, ausreichend hoher Randstein eingebaut — und wenn mans noch optimierter mag, die 50 Meter vollständig eingeschottert. Die Straßenbahn wird davon nicht gestört und Autofahrer werden damit verlässlich daran gehindert, an dieser Stelle regelwidrig zu überholen.
    Solange andere Gründe nicht gegen eine solche Lösung sprechen (ich habe mir die Situation nicht selbst vor Ort angesehen), wäre das meiner Ansicht nach die einzig effektive Vorgehensweise, weitere Verletzte und Tote an dieser Stelle zu verhindern.

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    1. Ich fürchte, die Fahrbahn wird dann für den Bus etwas schmal. Aber überlegt haben wir uns das auch. Zunächst würden Klemmfixe mit Baken helfen. Der Busfahrer muss dann aber schon sehr zielen.

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  4. Wenigstens können die Menschen des Ordnungsamts einer Verstorbenen keinen Strafzettel für mangelnde Achtsamkeit mehr ausstellen.
    Wobei, wen ich mir das so recht überlege...

    Ach, das Ganze ist einfach nur furchtbar.

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  5. Liebe Christine, angesichts dieses furchtbaren Vorfalls will ich auf keinen Fall populistisch wirken, aber oft, wenn ich durch die Stadt radle, denke ich, diese Vorfälle sind in Stuttgart systembedingt, weil die Verkehrsplanung es nicht schafft, eine menschengerechte Verkehrspolitik wenigstens zu proklamieren. Oder ihren Willen dazu öffentlich zu zeigen. Nirgendwo in Stuttgart wird klar, welche Prioritäten gesetzt sind, sondern ausgerufen ist der Kampf um die Macht auf der Strasse. Daher kommt für mich die ganze Agressivität bei den Autofahrern (und auch bei mir auf dem Rad). Alle Bürgerinnen kämpfen gegeneinander, weil von Rathausspitze und Verwaltung keine klare Ansage kommt. DAS ist verantwortungslos. Und gefährlich. Eine Stadt im Umbruch braucht Führung, ihre Verwaltung klare Ansagen, wohin die Reise geht. Nichts kommt dazu von den politisch Verantwortlichen. Nur Wegducken. Und so ist der Krieg auf den Straßen der Spiegel des Kriegs im Gemeinderat. Und der Krieg im Gemeinderat der Ausdruck der Führungslosigkeit der ganzen Stadt. Da ist für mich eine Kausalität.

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    1. Felix, das es in Stuttgart keine Mobilitätsstrategie gibt, das sehe ich genauso wie du. Wir müssen die Mobilitätswende schaffen, und wir brauchen klare Ansagen, auch von der politischen Führung. Allerdings ist es nicht so, dass der Gemeinderat sich von einem OB (egal welchem) da irgendetwas diktieren lässt. Vorlagen des OBs können auch abgelehnt werden, sie fallen dann krachend durch. Das Risiko kann man eingehen, man kann es auch für klüger halten, dies nicht zu tun. Ich habe dazu keine Meinung, ich bin nicht in so einem Amt und ich möchte da auch nicht sein. Initiativen für Mobilitätswenden sind, soweit ich das beobachten kann, nicht vom Stadtoberhaupt ausgegangen, sondern immer vom Gemeinderat oder dem Stadtparlament, meistens angestoßen von Radentscheiden oder Bürgerbegehren oder der Drohung damit. Ich selber bin ein großer Fan von diesen öffentlichen Bewegungen und von Mehrheitsbildung auf Druck der Bürgerschaft (letztlich mache ich mit meinem Blog nichts anderes, als Öffentlichkeit herzustellen), ich mag den Gedanken nicht, dass einer an der Spitze (oder eine) bestimmt, wo es lang geht. Da sehen wir weltweit gerade ganz üble Beispiele von selbstherrlichen Führungsgestalten mit Tendenz zur Diktatur. Ich möchte nicht, dass in Deutchland einer oder eine alleine entscheidet. Und auch eine Diktatur des Guten ist eine Diktatur. Wir kommen um Demokratie nicht herum. Was ich allerdings mag, sind gute Redner:innen, die die Dinge beim Namen nennen und Diskussionen herausfordern, die sinnvoll sind. Und die Diskussion, ob wir Autostadt sind, Fußgängerstadt oder Fahrradstadt, die ist noch nicht geführt worden. Sie muss breit geführt werden. Wir Radfahrenden, du auch, tragen immerhin schon mal was dazu bei. Das empfinde ich als gut.

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  6. Ralph Gutschmidt30. Mai 2020 um 16:59

    In der online Stuttgarter Zeitung steht nur, dass die 17-jährige einfach auf die Straße lief. Von einem Verstoß des Autofahrers ist nicht die Rede.

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  7. Sperrflächen müssen von der Fahrbahn baulich abgehoben werden. Immer dann, wenn man dort lang fahren kann, wird auch dort lang gefahren. Poller oder ähnliches erscheint mit da eine sinnvoll Lösung.
    Denkbar sind auch einfache Bodenerhöhungen, die ein langsames Überfahren ermöglichen.

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  8. das alles bringt mir, meiner Familie, freunde, bekannte nichts mehr.Es wahr meine TOCHTER.Der Hauptschuldige ist unserer meinung nach; die STADT STUTTGART die es versaumt was für die Fussgänger was zu machen

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