6. November 2020

Unser Verkehrssystem ist ungerecht

Unser Verkehrssystem benachteiligt Menschen mit geringem Einkommen, viele Frauen, viele Kinder, ältere Menschen, Behinderte sowieso, in Summa alle ohne Auto. 

Zu diesem Schluss kommt ein Positionspapier des Bundesumweltamts. Wer wenig Geld hat, wohnt meist an viel befahrenen Straßen und ist einer höheren Lärm- und Luftbelastung ausgesetzt. Nicht nur unter ökologischen, sondern auch unter sozialen Gesichtspunkten ist unser Verkehrsystem dringend reformbedürftig. Es sind die Haushalte mit einem hohen pro-Kopf-Einkommen, die den Autolärm machen, weil sie durch die Straßen fahren, wo die anderen wohnen, die selbst kein Auto haben. Und sie beteiligen sich nicht an den Kosten, die diesen Personen dadurch entstehen und die die Gesellschaft für sie aufbringt. Kurz, der SUV wird aufkosten der Kinder armer Familien gefahren. Und zwar ganz und gar. Die Kinder husten, die Eltern erleiden schneller einen Herzinfarkt, nachts können sie schlecht schlafen. 

Außerdem sind gerade die Menschen, die kein Auto haben, öfter zu Fuß oder mit Fahrrädern unterwegs. Sie sind mit schlechten, zugeparkten und von E-Scootern und Mopeds zugestellten Gehwegen konfrontiert. Sie warten zuweilen minutenlang an Ampeln, weil sie eine Autostraße überqueren wollen. Sie müssen plötzlich auf die andere Straßenseite wechseln, weil eine Baustelle den Gehweg vollständig besetzt hat.

Reiche Haushalte sind zudem unverhältnismäßig große Nutznießer von Subventionen. Nicht nur wird das Auto von unserer Gesellschaft extrem subventioniert, das Dienstwagenprivileg ist ein Beispiel besonderer Ungerechtigkeit. Die Kosten tragen nämlich alle Steuerzahler:innen, während nur einige wenige davon provitieren. Sie beanspruchen auch sehr viel öffentlichen Raum, wo sie die Autos abstellen dürfen, ohne sich an den realen Kosten der Straßenrandparkplätze zu beteiligen. Während die Kosten für Benzin mal steigen, mal fallen, steigen die Ticketpreise für den öffentlichen Nahverkehr beständig an. Sie sind in den vergangenen zwölf Jahren doppelt so stark gestiegen wie die Kosten fürs Autofahren. 

Hinzu kommt noch ein Paradoxon: Je mehr der Staaat Autos mit fossilen Brennstoffen fördert, also durch Subventionen begünstigt, desto mehr muss er auch Subventionen gewähren, um einen Umstieg auf ukmweltfreundliche Verkehrsmittel zu erreichen. Und dann tauscht man denen, die Mopeds mit Verbrennungsmotor fahren günstig oder kostenlos die Dinger gegen E-Mopeds um. Das belastet uns Steuerzahler:innen dann auch noch doppelt. 

Billiger, sozialer und gerechter wäre es, entschlossen den Ausbau von Radwegnetzen und Netzen des öffentlichen Verkehrs voranzutreiben und dem Auto einen anderen Stellenwert zu geben: nicht als Alltagstransportmittel für einzelne Personen, sondern als anlassbezogenes Transportmittel für mehrere Personen und für weitere Wege zu entlegenen Zielen, das sich dann auch diejenigen leisten können, indem sie es leihen, die sich kein Auto kaufen können oder wollen.

8 Kommentare:

  1. Wo werden denn Mopeds mit Verbrennungsmotoren kostenlos gegen elektrische getauscht?
    Es werden Fahrverbote wegen Motorradlärm ausgewiesen, aber restliche Verkehrslärm und die Abgase dürfen bleiben.

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  2. Diesen Artikel empfinde ich ausnahmsweise eher als gut gemeint als gut gemacht. Nach meiner Wahrnehmung ist es mitnichten so, dass verkehrsreiche Straßen gleichbedeutend mit günstigen Wohnlagen sind. Gerade in Zeiten knapper Grundstücke werden auch lautere Lagen mit zeitgemäßem Wohnraum bebaut und die Wohnungen zu marktüblichen Preisen verkauft. Technisch ist das übrigens kein unlösbares Problem. Auch die Generalisierung, dass einkommensschwächere Haushalte keine Autos hätten halte ich für unrichtig. Mindestens sollte man so was mit Daten belegen. Und schließlich sind auch Details fragwürdig: ja, mir gehen die Elektroroller auch auf den Zeiger aber Mopeds? Es stehen mit Sicherheit mehr Fahrräder auf Gehwegen als Mopeds. Warum erwähnst Du die nicht?

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    1. Äh, da oben ist ein Link. Mit zwei Klicks war ich hier, ein dritter lädt das Papier herunter. Ich hab's noch nicht gelesen, aber 32 Seiten sollte die perfekte Länge sein, dass genug Zahlen drin sind, man aber nicht darin versinkt:
      https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/verkehrswende-fuer-alle

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  3. Ich stimme Deiner Auffassung zu. Das Auto wird hofiert und es wird ihm alles untergeordnet.
    Wir hatten uns schon während der Studienzeit(obwohl fachfremd) Gedanken darüber gemacht, wie man die ganzen parkenden Autos von der Straße bekommt. Alles war (und ist es immer noch) zugestellt, kaum durchkommen. Wir hatten uns überlegt, doch Quartiersgaragen (Parkhäuser) zu bauen. Jeder Stellplatzmieter bekommt einen Transponder. Das Parkhaus ist komplett abgeschlossen, also kein Zutritt von Fremden, von außen gut einsehbar (wegen uns Frauen, zur Sicherheit) und Kostenbeteiligung (Stellplatzmiete). Früher hat man doch auch schon für Mietshäuser, Einfamilienhaussiedlungen etc. Garagenhöfe gebaut. Heute muss das heiligs Blechle allerdings direkt vor der Hütte stehen. Das kann man doch wieder ändern.
    Vielleicht könnte man mit solchen Lösungen die Menschen so nach und nach vom Auto entwöhnen. Wenn ich das Blechle erst holen muss, laufe ich vielleicht auch dorthin, wo ich hin will, oder nehme das Rad, was direkt am Haus steht.
    Und vielleicht könnte man dann in 20 Jahren das Parkhaus wieder abreißen, weil es leer steht.
    Seht doch mal nach Barcelona mit der Idee der Superblocks. Da hat es plötzlich Aufenthaltsqualität, wenn die Autos verschwinden. Die Idee finde ich gut.
    Vielleicht mal mehr Utopie und Gedankenspinnerei wagen und kreative Lösungen finden. Und versuchen die Menschen bei der Entwicklung mitzunehmen. Jeder Lösungsansatz hat doch auch Vorteile.
    Nicht immer am Status-Quo festhalten. So gibt es keine Entwicklung und wir brauchen Entwicklung.
    Mehr Zukunft wagen.
    Gruß
    Karin

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  4. Jörg
    Der Aufschrei wenn zum Abstellen von Autos eine Kostenbeteiligung gefordert wird ist schon absurd. Er läßt sich nur mit Gewohnheitsrecht erklären. Wenn es Leute mit mittleren Einkommen gewohnt wären jeden Tag ein Laib Brot und ein paar Scheiben Wurst im Supermarkt geschenkt zu bekommen, würden sie bei der Abschaffung der Brot und Wurst Regel richtig viel Trara machen.

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  5. Alles richtig! Und allein das viel zu lange Stehen an der Fussgängerampel ist ein Skandal! Was lernt ein Kind beim Warten, wenn gleichzeitig -zig Autos durchfahren? Genau: du bist wer, wenn du Auto fährst! Ein alter Wunsch von mir ist, dass Autos an der Fussgängerampel aussteigen und den Knopf drücken müssen, damit klar ist, wer hier gnädig durchgelassen wird. An der Bolzstrasse könnten wir das doch mal machen, oder?

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    1. Ja, den Gedanken hatte ich auch schon. Da wäre aber was los, wenn Autofahrer jedesmal anhalten, Knöpfchen drücken und dann eine Minute warten müssten, bevor sie bei einer Fussgängerampel weiterfahren dürften ;-).
      Nebenbei: es gibt eigentlich gar keine Fussgängerampeln, ALLE Ampel sind nur für bzw. wegen Autofahrern da.
      Besonders 'toll' finde ich es auch immer wieder, wenn ich als Fussgänger über DREI Ampeln muss, um eine Straße zu überqueren, weil an einer der Seiten keine Ampel für Fußgänger vorhanden ist.
      Man stelle sich mal vor, Autofahrer müssten sowas mache...
      Da würden unsere Politiker geteert und gerädert ;-).
      Und grade eben erst erlebt: in Herrenberg wollte ich eine Hauptstraße überqueren... Keine Fußgängerampel, also die Nebenstraße überquert... und dann festgestellt, daß auf der anderen Seite auch keine Ampel oder sonstige Querungsmöglichkeit ist und das auf der Hauptverkehrsstraße von Herrenberg Richtung Tübingen! WTF!?
      Als Radfahrer und Fußgänger hat man echt die A...karte hierzulande :-(.

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  6. "Na, dann geh'n Sie doch in die DDR!"
    Würde Friedrich Merz jetzt wohl sagen.

    Aber was Sie schreiben, stimmt alles.
    Alllerdings sage ich ganz klar: auch als Besserverdiener werde ich von der katastrophalen Verkehrspolitik diskriminiert.
    Wem hilft es, wenn ich 1. Klasse fahre, aber der Anschlusszug fahrplanmäßig eine Minute vor Ankunft los fährt?
    Wem hilft es, wenn ich mit meinem Mietwagen (den's übrigens in der Regel nicht als e-Mobil gibt) Richtgeschwindigkeit oder im Tempolimit fahre und dabei von getunten BMWs zum brake-check genötigt werden?
    Wem nützt es, wenn ich zwar theoretisch viel Dienstwagen- und Kilometergeld steuerlich absetzen könnte, aber gar keine Kilometer fahre, weil ich mein Leben mit kurzen Wegen organisiert habe und dabei hohe Mieten, hohe Lebenskosten und hohe Gehälter meiner Mitarbeiter in Kauf nehme?
    Wem nützt es, wenn ich der Wohnraum, den ich schaffe, allein durch Stellplätze für MIV definiert wird?

    Wenn Sie jemanden kennen, der darauf eine Antwort hat - ich würde sie wählen.

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