11. August 2021

Darf ein Motorradpolizist mir auf dem Radstreifen die Vorfahrt nehmen?

An einem Samstag, an dem die Polizei in Stuttgart Großeinsatz hatte, radelte ich durch die Eberhardstraße (Fahrradstra0e) und Tübinger Straße hinter einem Polizeimotorrad her, bis der Fahrer unversehens auf den Radstreifen fuhr und mich zum Bremsen zwang.

Ich hatte auf der Fahrt hinter dem Polizeimotorrad reichlich Zeit, die schönen Rückspiegel zu bewundern, die unter den Handgriffen angebracht sind. Selbstverständlich bremste der Beamte am Zebrastreifen, den Fußgänger:innen queren wollten. Er fuhr im Shared Space beim Gerber ordnungsgemäß 20 km/h. Natürlich habe ich ihn da nicht überholt. Dann kamen wir unter der Paulinenbrücke durch zur Fahrradschleuse an der Feinstraße. Der Beamte fuhr auf der Linksabbiegespur, ich schwenkte auf den roten Radstreifen ein (so wie auf der Fotomontage mit Platzhaltern dargestellt).  Der Motorradfahrer wirkte unschlüssig und ich dachte: "Na, der wird doch nicht!" In der Tat, er entschloss sich und zog, ohne zu blinken, plötzlich auf dem Radstreifen. Zum Glück hatte ich mich schon gefragt, ob er genau das im Sinn habe, und hatte langsam gemacht, musste aber dennoch noch erheblich abbremsen, damit er mich nicht erwischte. Ich schrie wie immer in solchen Fällen erschrocken: "He!" und winkte mit der Hand. 

Hinter ihm radelte ich auf dem Radweg durch die Schleuse, danach machte er so langsam, dass ich mich entschloss, ihn zu überholen. Als ich auf seiner Höhe war, sagte er: "Auch Radfahrer dürfen nicht rechts überholen." - "Sie haben mich regelrecht geschnitten", antwortete ich. Leider war ich so perplex, dass mir die entscheidenden Argumente gar nicht einfielen:

  • Ich befand mich auf meinem Radfahrstreifen, Sie auf dem Autofahrstreifen.
  • Auf dem Radstreifen kann ich rechts an Autos vorbeifahren. Das ist kein Überholen. Auch Autos dürfen innerorts auf der rechten von zwei Spuren schneller fahren als die Autos auf der linken Spur.
  • Dürfen Sie eigentlich ohne zu blinken die Spur wechseln?
  • Und musste ich demzufolge damit rechnen, dass Sie ohne Vorwarnung auf meinen Radstreifen schwenken?  
  • Dürfen Sie eigentlich einfach so über Radwege fahren? Die sind doch für Kfz und Motorräder verboten. (Vermutlich hätte er darauf geantwortet: Ich bin im Einsatz, ich darf das.)
Wobei das mit dem Schutzstreifen und dem rechts Vorbeiradeln durchaus problematisch ist, denn er ist Teil der Fahrbahn. Aber die Frage ist, was ist das hier eigentlich auf der Tübinger Straße? Rot markiert, optisch sehr deutlich vom Autofahrstreifen getrennt, mit einem Radwegschild versehen, aber eine gestrichelte Linie, keine durchgezogene. Andererseits ist ein Schutzstreifen ja nur das, was durch eine gestrichelte Linie links (Zeichen 340) gekennzeichnet ist und nicht auch noch durch das blaue Radwegschild. Und wir haben hier außerdem eine dicke gestrichelte Linie. Es handelt sich also um eine breite Leitlinie, die bei uns  (genauso wie die dünne) dazu benutzt wird, um vor Kreuzungen oder Verzweigungen Fahrstreifen zu trennen. Ist das der Fall (etwa auf Autobahnen), dann darf man auf der Spur rechts der dicken Leitlinie auch schneller fahren als die Autos auf der linken Spur. Auf mich als Radfahrerin übertragen, würde das bedeuten: Hier werden auf der Fahrradstraße nun Auto- und Radspur getrennt (es kommt ja auch gleich das Radwegschild) und ich fahre nun auf einer eigenen Spur, auf der ich auch schneller sein darf, als die Kfz, die nach links abbiegen müssen und am Stoppschild bremsen und anhalten. 

Und da sind wir wieder mal an dem Punkt, der uns Radfahrenden so oft Probleme macht: Es ist schwierig die Radinfrastruktur zu interpretieren und herauszufinden, was sie gerade ist und welche Regeln gerade gelten. Da muss man schon sehr tief in die StVO einsteigen, viel lesen, viel recherchieren, sich viel überlegen, viel mit anderen diskutieren, die andere Meinungen dazu haben. Es sollte aber eigentlich keine Wissenschaft sein, sich mit dem Fahrrad regelkonform durch den Straßenverkehr zu bewegen. Wir brauchen Regeln, die so einfach und klar sind wie die für Autofahrende (und zudem zum typischen Radfahrverhalten passen).  

Nach reiflicher Überlegung bin ich also zu dem Schluss gekommen, dass  der Polizist nicht Recht hatte, als er meinte, ich hätte auf dieser Radinfrastruktur (Schutzstreifen, Radstreifen?) nicht schneller radeln dürfen als er links von mir fuhr. Auch wenn ich mich irre, in jedem Fall hätte er blinken müssen, bevor er mir vor das Vorderrad fährt, und in keinem Fall hätte auch er seine Spur wechseln dürfen, wenn ich dadurch gefährdert oder behindert werde (StVO § 7.5).  

Mir geht durch den Kopf, dass bei allem Verständnis für die vielfältigen Aufgaben und Einsatzfelder der Polizei, ich doch eigentlich erwarte, dass Polizisten, wenn sie auf oder in schweren Fahrzeugen sitzen, die Verkehrsregeln kennen und einhalten. Zum Beispiel blinken, wenn man die Fahrspur wechselt. Und gucken, ob man nicht gerade einem Fahrrad auf dem Fahrstreifen  in Bedrängnis bringt. Und ich möchte auch sicher sein, dass sie mir nichts Falsches erzählen, nur um einen eigenen Fehler zu rechtfertigen. (Ein "Entschuldigen sie!", statt der, wie ich meine, fehlerhaften Belehrung, hätte mich lächelnd abwinken lasen: "Kann ja mal vorkommen.") Leider ist es ja auch nicht das erste Mal, dass Polizeibeamte die Regeln nicht so genau kannten oder meinten, sie gelten nicht für sie. 


19 Kommentare:

  1. Polizisten haben leider keine juristische oder sonst wie gute Ausbildung. Auch Äußerungen zur Unfallvermeidung sind zum Teil grotesk. Es sind eben zu 99 Prozent KFZ Fahrer... Und so Benehmen sie auch auch.

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  2. Polizisten bekommen eine sehr gute Ausbildung und sie werden rechtlich geschult, in allen für sie notwendigen Belangen, STVO, STVZO, Strafrecht, Strafprozessrecht, Polizeirecht, Verwaltungsrecht.... Die Ausbildung dauert 3 Jahre für den mittleren Dienst (grüne Sterne) und nochmal(ich gaube) 3 Jahre FH-Studium für den gehobenen Dienst, (silberne Sterne) und 3 Jahre Umlauf und 1 Jahr Hiltrup (Führungsakademie) für den höheren Dienst (goldene Sterne/Laub).
    Über mangelnde Rechtsausbildung kann sich bei der Polizei keiner beschweren. Eventuell fehlt es aber an einzelnen Ausbildungsinhalten.
    Übrigens "rechts überholen" gibt es in der Stadt nicht. Hier darf rechts auch schneller als links gefahren werden (steht in der STVO §7, Abs.3) beim Linksabbiegen muss(!) rechts vorbeigefahren werden, STVO §5 Abs.7). Und Radfahrer dürfen auf den Radweg/-streifen/-etc. auch rechts vorbei fahren, im ganz normalen Verkehr, sonst müssten sie Autofahrer beim Abbiegen nicht durchlassen, sie dürften dann garnicht vorbeifahren.
    Der Motorradpolzist hat reagiert, wie alle Autofahrer. Der Radfahrer hat sich falsch verhalten, weil sich alle Radfahrer prinzipiell falsch verhalten und man natürlich eigenes Fehlverhalten prinzipiell nicht zulassen kann.
    Christine, schreib doch ans Präsidium und bitte darum, dass man Motorradpolizisten in Punkto Radverkehrsanlagen und Radfahrerrechte einmal schult. Hier scheint es Bedarf zu geben.
    Karin

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    1. Danke, Karin, ja, ich gehe auch davon aus, dass Polizisten juristische Grundlagen lernen. Klar, dass man im Lauf der Zeit was vergisst. Ich glaube allerdings, dass es rechts überholen auch in der Stadt gibt, etwa wenn man sich auf einer Straße mit je einer Richtungsfahrspur befindet und dort, weil Platz ist, rechts an einem Auto vorbeifährt, was allemal mit dem Fahrrad ganz leicht ist, und fürs Fahrrad nicht erlaubt ist. Man darf nur rechts an Autos vorbeifahren, wenn sie an einer Ampel stehen. Fahren sie los, darf man das bereits nicht mehr. Dann muss man sich einreihen.

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    2. Das (kompliziert eingeschränkte) Rechtsüberholverbot für Radfahrer gilt nur dann, wenn Du auf dem selben Fahrstreifen fährst wie der Autofahrer links von Dir. Radfahrstreifen sind Sonderweg und da handelt es sich um Vorbeifahren, nicht um Überholen. Angebotsstreifen sind ein merkwürdiger und regeltechnisch komplizierter Zwitter, denn eigentlich bleiben sie Teil des Fahrstreifens. Die jüngste StVO-Novelle hat leider zusätzliche Unlogik eingeführt.

      Beachte aber immer die Mindestabstände (bzw. für Radfahrer die Mindestlückenbreite, die dummerweise größer ist als die Mindest-Angebotsstreifen-Breite), wenn Du vorbeifährst oder überholst. Und immer gilt das Killer-Argument: Ist die Verkehrslage unklar, dann musst Du "zurückstecken" und Unfälle vermeiden, sonst bist Du beim Unfall mitschuldig. Die Anforderungen an Radfahrer in dieser Hinsicht werden von Polizei und Staatsanwälten (gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern) regelmäßig extrem hoch gesteckt. ;-)

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  3. Nach meinem Verständnis ist das Argument dass du als letztes aufführst am wichtigsten:
    "Dürfen Sie eigentlich einfach so über Radwege fahren? Die sind doch für Kfz und Motorräder verboten. (Vermutlich hätte er darauf geantwortet: Ich bin im Einsatz, ich darf das.)"
    Solange das Polizei-Fahrzeug keine Sonderrechte (Blaulicht) hat muss man nicht damit rechnen dass er auf den Radstreifen fährt, weil er das schlicht und ergreifend gar nicht darf!

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    1. Sonderrechte und Blaulicht sind verschiedene Dinge. Sonderrechte habe alle in § 35 STVO genannten Fahrzeuge unter bestimmten Bedingungen, auch ohne Blaulicht.
      Blaulicht ist in § 38 geregelt und räumt Wegerecht ein, heißt: Zusammen mit Martinhorn haben andere Verkehrsteilnehmer freie Bahn zu schaffen.

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    2. Das mit den Sonderrechten ist immer so eine Sache, weil es ja auch wichtige Fahrten gibt, die keine Blaulichtfahrten sind. Die Polizei antwortet immer, wenn man ihr sagt, hier dürfen Sie doch gar nicht, dass sie gerade im Einsatz sei, und wenn die Polizei herumkurvt, ist sie immerhin oft im Ordnungsdienst tätig. Letztlich will ich da nicht so päp sein, ich fand hier nur, so ganz ohne Blinken plötzlich rüberziehen nicht in Ordnung, zumal ich ja nicht damit rechnen muss, dass der mit dem Motorrad seine Linksabbiegerspur verlässt.

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    3. Ich gebe Dir natürlich vollumfänglich recht, und Sonderrechte sollten selbstverständlich nicht als Ausrede für Fehlverhalten herhalten. Mir ist Florianps Kommentar nur aufgefallen, da ich zuletzt auch sehr überrascht war, dass Sonderrechte und Blaulicht getrennte Dinge sind. Deshalb schrub ich den Kommentar.

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    4. Das war mir so auch nicht bewusst, und das obwohl ich vor vielen Jahren im Zivildienst selbst mit Blaulicht rumgefahren bin.
      Da wurde mir alledings auch eingebläut dass, ganz egal was für Sonder- und Wegerechte ich habe, niemand gefährdet werden darf!

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  4. Nur mal so aus reinem Interesse: Kommt §7 STVO hier überhaupt in Betracht? Gibt es irgendwelche Entscheidungen, dass dieser für Radfahrer überhaupt gilt? Streng genommen gilt dieser nur für Kraftfahrzeuge. Der Titel lautet "Benutzung von Fahrstreifen durch Kraftfahrzeuge" und in dem Paragrafen ist ausschließlich von Kraftfahrzeugen die Rede.
    Lars

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    1. Wir Radfahrenden sind ja immer auf der Suche - also ich zumindest - nach Regeln, die auf und für eine Radinfrastruktur gelten oder gelten könnten. Da mache ich manchmal Analalogbildung. Aber letztlich krankt die Regelung des Radverkehrs an mangelnden oder unklaren Regeln.

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    2. Ja, die ewige Suche nach der richtigen Interpretation der falschen Regeln ;-). Da gibt es so viele Beispiele. Neben der STVO gibt es ja noch die Verwaltungsvorschriften und auch noch die amtlichen Begründungen. Bis jetzt bin ich bei Diskussionen über solche Situationen immer gut aus der Sache rausgekommen, da meiner Erfahrung nach kaum einer weiss, was "regelkonform" ist. Sollte aber tatsächlich mal etwas passieren, ist evtl. davon auszugehen, dass Gerichte das anders interpretieren. Und das ist in meinen Augen ein Problem.

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    3. Die Behörden verursachen häufig Gefahren, weil sie unklare Situationen schaffen, wo die StVO eigentlich eine klare Situation vorsieht. Ich habe aber noch nie davon gehört, dass im Gerichtsverfahren nach einem Unfall der
      Leiter einer Straßenverkehrsbehörde wegen Fehler seiner Behörde, für die er verantwortlich ist, Teilschuld bekommen hätte.

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    4. Hier im konkreten Fall wären die Alternativen nach StVO:

      a) Schutzstreifen, erkennbar an unterbrochenem Schmalstrich, Strich und Lücke in gleicher Länge und jeweils relativ lang, keine Benutzungspflicht per Lolli.

      b) Radfahrstreifen, erkennbar an durchgezogenem Breitstrich, Benutzungspflicht per Lolli angezeigt.

      Aufgemalte Radsymbole sind bei beiden möglich aber nicht erforderlich (mit Spezialregelungen auf Kreuzungen, wo das dann aber eine Radfurt ist).

      Farbliche Markierung ist auf Radfahrstreifen zulässig. Ob sie auch auf Schutzstreifen zulässig ist? Vermutlich eher nicht. Müsste ich mal recherchieren...

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  5. Danke für diese gute Beschreibung eines Symptoms auf der seit sehr sehr langem unbefriediegend gelösten Fahrradinfrastruktur der Hauptradroute Stuttgarts.
    Masha Gessen sagt in diesem Zusammenhang sinngemäß und passend zur o.g. Diskussion der STVO:
    Eines der Schlüsselelemente jedes Unrechtsregimes besteht darin, die Rechtsstaatlichkeit zu untergraben.
    Zum Beispiel, indem man sie für Interpretationen offen hält.

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    1. Vielleicht sollte ich mal einen Artikel schreiben: "Das Unrechtsregime des Autoverkehrs." Dafür müsste ich allerdings wohl sehr exakt recherchieren, damit ich nichts Falsches behaupte.

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    2. Haha!
      Wer, wenn nicht Sie?

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  6. Polizisten dürfen Ordnungswidrigkeiten begehen - und das muss ihnen erlaubt sein. Dazu haben sie manchmal Stress-Situationen. Daher muss man u.a. immer damit rechnen, dass Polizisten sich nicht an die Verkehrsregeln halten. Von Polizisten im Straßenverkehr geht somit logischerweise grundsätzlich überdurchschnittliches Gefahrenpotential aus.

    Wenn Polizisten allerdings keinen besonderen Auftrag haben, sollten sie sich vorbildlich verhalten - wie alle Funktionsträger, die "im Boot" sind, um ein geregeltes Miteinander in Staat und Gesellschaft durchzusetzen - also auch Behördenmitarbeiter, Staatsanwälte und Richter und nicht zuletzt Politiker.

    Daher ist Karins Vorschlag, der ihre Insider-Kenntnisse berücksichtigt, doch ein guter Weg. Der Polizist mag ja eigentlich einsichtig gewesen sein. Er hat evtl. nur um seine Autorität gefürchtet, wenn er offen einen Fehler/Nachlässigkeit oder seine Unkenntnis zugibt. Leute, die sich ihrer Autorität nicht sicher sind, handeln oft übertrieben autoritär und unkooperativ. Sie bewirken damit leicht das Gegenteil von dem, was sie erreichen wollen, weil man sie dann nicht mehr als kompetent wahrnimmt. Das weiß er vielleicht auch nicht (trotz psychologischer Ausbildung, die er theoretisch erhalten hat).

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