17. Dezember 2021

In Stuttgart werden Fahrräder zu eng überholt

In Stuttgart werden Radfahrende in drei von vier Fällen zu knapp überholt. Die Stuttgarter Zeitung hat im Rahmen des Projekts "Radort Stuttgart" dazu eine umfangreiche Untersuchung gemacht. 

100 Radfahrende wurden mit den Kesselbox-Sensoren ausgestattet, die den Überholabstand messen, und sollten damit ihre üblichen Strecken fahren. In drei Viertel der Fälle wurden sie mit weniger als den erforderlichen 1,50 Metern Abstand überholt, in 2 Prozent der Fälle waren es weniger als 50 Zentimeter zwischen Lenker und Außenspiegel.  Insgesamt 27 Prozent der Autofahrenden überholten mit einem Abstand von weniger als einem Meter.

  • 26 Przent hielten sich an mindestens 150 Zentimeter Abstand
  • 47 Prozent überholten mit einem Abstand von zwischen 100 und 150 Zentimetern
  • 25 Prozent fanden 50 bis 100 Zentimeter ausreichend
  • 2 Prozen schrappten mit unter 50 Zentimeter Abstand an den Radfahrenden vorbei

Die Stuttgarter Zeitung vergleicht unser Ergebnis mit Zahlan aus Berlin. Demzufolge wird in Stuttgart enger überholt als in Berlin. Dort wurden vor drei Jahren 20 Prozent der Überholabstände von unter einem Meter. In Berlin wurde auch beobachtet, dass Radfahrende um so enger überholt werden, je langsamer sie unterwegs sind. Alle Radler, die mit unter 50 Zentimetern überholt wurden, fuhren im Schnitt 13 km/h, diejenigen, die mit anderthalb Meter überholt wurden, fuhren rund 18 km/h oder schneller. Auch die Art der Straße und das Tempolimit spielen dabei eine Rolle. So wurden Radfahrende in der Tübinger Straße beim Gerber und in der Lautensschlager Straße, wo nur 20 km/h gefahren werden darf, extrem eng überholt. Beide Fahrbahnen sind schmal, und allgemein wird langsam gefahren. Bei Tempo 50 oder 60 halten sich Autofahrende dagegen wieder eher an den Überholastand. 

Offensichtlich empfinden Autofahrende ihr Auto als weniger gefährlich für Radfaherende, wenn sie selbst langsaam fahren und/oder wenn die Radfahrenden langsam sind. Dabei bringt die Berührung mit einem Auto einen Radfahenden genauso zu Fall, wenn das Auto langsam fährt, denn Blech auf vier Rädern ist immer stärker und gewalttätiger als Haut und Knochen auf zwei Rädern. Der Radler stürzt immer und verletzt sich dabei auch fast immer.

Ich beobachte selber, dass ich bergauf (wenn ich zwsichen 10 und 14 km/h fahre) in Tempo-30-Zonen eher und demzufolge auch enger überholt werde, als wenn ich diese Strecke bergab fahre. Die lange Bergaufsterecke der Böblinger Straße, die großteils auf einem schmalen Schutzstreifen entlang geparkter Autos führt, wo Radfahrende nicht überholt werden dürfen, weil der Platz nicht reicht, zwingt Autofahrende genau zu dem, was ihnen schwer fällt, nämlich hinter einem Fahrrad zu bleiben, das zwischen 10 und 18 km/h fährt. Folglich überholen sie, und sie überholen zu eng, und bei Lkw bleiben dann keine 50 Zentimeter zwischen Radler und Außenspiegel.

Ich bin deshalb der Meinung, dass wir den Rad- und Autoverkehr konsequent trennen müssen, vor allem an Bergaufstrecken. Die Radfahrstreifen müssen breit genug sein, damit Autofahrer gar nicht erst knapp überholen können. Zur Not müssen dafür die Parkplätze am Straßenrand beseitigt werden. Die meisten Radfahrer:innen radeln nämlich auf ungeliederten Fahrahnen oder auf einem zu schmalen Schutzsstreifen nicht so selbstbewusst und sich Raum nehmend, dass Autofahrende gar nicht erst versuchen, sie auf zu schmalen Fahrbahnen zu überholen. Die meisten radeln dann zu eng an geparkten Autos entlang oder gleich auf dem Gehweg. Und Leute, die ein bisschen Angst haben vor dem Autoverkehr, die kriegen wir so nicht aufs Fahrrad, und genau die wollen wir doch überzegen.

20 Kommentare:

  1. "Ich bin deshalb der Meinung, dass wir den Rad- und Autoverkehr konsequent trennen müssen"
    Ich befürchte, das man damit das Gegenteil des Gewünschten erreicht.
    Denn Überholunfälle sind trotzdem vergleichsweise selten. Das Risiko , bei Benutzung einer Radverkehrsanlage neben der Fahrbahn von kreuzendem Verkehr "übersehen" und überfahren zu werden ist da deutlich höher. Das musstest du ja dieses Jahr leider selbst erfahren.

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    1. Kreuzungsbereiche müssen natürlich entsprechend gestaltet werden.
      Letztenendes läuft es auf das niederlandische Modell hinaus, die aber auch Jahrzehnte lang geforscht und ausprobiert haben, wie es richtig geht.

      ODER aber man begibt sich gleich in das 21.Jahrhundert, dasjenige in dem die Klimakatastrophe gestoppt werden soll(te), und drängt zuallererst den Autoverkehr massivst zurück. Wo kein Auto, da auch kein zu enges Überholen...

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    2. Mit einem Radstreifen kann man aden Rad- und Autoverkehr auch wirkungsvoll trennen. Kritisch sind immer die kreuzungsbereiche, auch dann, wenn man als Radler:in auf einer Fahrbahn unterwegs ist.

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    3. Nochmal:
      Die Lösung des 20.Jahrhunderts: weitestgehende Trennung von Auto und Radverkehr, mit penibelst gestalteten Kreuzungsbereichen.

      Die Lösung des 21.Jahrhunderts: weitestgehende Unterdrückung des Autoverkehrs.

      Ist aber auch egal, denn zu beidem sind wir in Deutschland unfähig.

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  2. Dreiviertel unserer Begegnungen mit parasitären Verkehrsteilenehmern findet also unter Regelverstößen der Nachgenannten statt.
    Also beim Schwarzfahren kommst Du als Wiederholungstäterin in den Knast.

    Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.

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    1. Ehrlich gesagt beim falsch parken auch.

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  3. Ich fahre seit fast einem Jahr mit einem "OpenBikeSensor". Man muss drei Arten von Radinfrastruktur unterscheiden:
    a) Überholen faktisch verboten (z.B. Kaltental zwischen U-Halt Waldeck und Kaltental)
    b) Überholen mit Abstand möglich (z.B. Robert-Leicht-Straße)
    c) Überholen _nur_ mit Abstand möglich (z.B. Hochbordradweg zwischen Kaltental und Vaihingen)
    Zu den Beispielen:
    Bei a) messe ich einen mittleren Abstand von 76cm, kein Abstand >1,5m
    Bei b) messe ich alles, von 30cm bis >2,5m
    Bei c) fühle ich mich am sichersten und das ist auch mit Abstand die angenehmste Strecke zu fahren (Besser noch als der Radschnellweg mit seinen Fußgängern und dem KFZ-Verkehr).
    Ich halte es bei Hauptradrouten für unabdingbar, dass enges Überholen baulich ausgeschlossen ist.

    Ich hatte schon zwei Überholunfälle. Das reicht mir, brauche ich nicht nochmal.

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    1. Noch eine Anmerkung:
      Zwischen Kaltental und Vaihingen auf dem Hochbordradweg sehe ich regelmäßig Schüler, die mit dem Rad zur Schule fahren.
      Auf dem "Schutzstreifen" in Kaltental habe ich noch nie Kinder gesehen.

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  4. Es gibt unter Autofahrern einen "Überholabstandmythos", der besagt, dass der Überholabstand sich an der Geschwindigkeit bemisst. Also tatsächlich eng bei langsam und weiter bei schnell.
    Es ist denen aber nicht beizubiegen, dass der Abstand mittlerweile bei 1,5m innerorts liegt, egal wie schnell gefahren wird. Es scheint auch den Mythos zu geben, dass Radfahrr sofort Platz zu machen haben, wenn ein Auto kommt und man dann den Radfahrer umso enger überholen muss/darf oder sogar ausbremesen, beschimpfen und nötigen. Irgendwie würde ich mir wünschen, dass alle Autofahrer einen Fürerschein machen müssten und nicht nur einzelne und dass Rücksichtnahme etwas ist, das alle, inkusive einem selbst betrifft, und nicht nur andere. Das geht mir wirklich aus den Keks.
    Karin

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  5. Jörg
    Mit der Geschwindigkeit geht der Überholabstand schon hoch. Außerorts gelten 2 m Abstand. Das wurde im StZ Artikel glaube ich nicht vermerkt.
    Unfallstatistiken taugen nicht, um die Effekte vom engen Überholen zu erfassen. So sagen mir Leute die mit 30 durch die Spielstraße gerast sind "es ist nichts passiert". Es ist etwas passiert. Sie haben anderen Angst gemacht. Das ist eine Tatsache. Dieser Fakt wird nur nicht aufgeschrieben und gezählt. Viel schlimmer noch, diese Tatsache wird als subjektive Sicherheit abgewertet.
    Die Angst führt zum Nichtradfahren und zum Gehwegradfahren. Ganz reale Effekte, bevor Blut geflossen ist.

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  6. Ich fände es interessant und wichtig , wenn die, von dem Sprecher der Stadt Stuttgart so bezeichnete "Fachaufsicht", nämlich die Straßenverkehrsbehörde Stellungnahme beziehen würde, warum es in Stuttgart, im Vergleich zu Berlin, schlechter ist? Die Radinfrastruktur die wir haben wird ja von ihr verantwortet. Schade dass man dazu bisher nichts hört. Auch eine Stellungnahme der Leitung der Verkehrspolizei wäre angebracht. Was macht Berlin besser als Stuttgart? Und will Stuttgart überhaupt besser als Berlin sein?

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    1. „Wenn ich in Berlin ankomme, denke ich immer: ‚Vorsicht, Sie verlassen den funktionierenden Teil Deutschlands’“

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    2. Aus Hamburg und Berlin kenne ich deutlich mehr Radwege, die auf Gehwegen liegen und weit entfernt vom Autoverkehr führen. Bei uns in Stuttgart werden wir sehr häufig auf Starßen ohne Radinfrastruktur oder schmalen alten Schutzstreifen geführt. Ich könnte mir vorstellen, dass bei uns deshalb mehr enge Überholvorgänge gezählt werden. Andererseits gibt es in Berlin erscheckend viele Abbiegeunfälle, die typisch sind für eine Radführung über Radwege. Ich fürchte, weder die Berliner noch die Stuttgarter Radführungen sind gut. Ich plädiere ja immer für eine Trennung der Gescchwindigkeiten, aber auf Radfahrstrerifen, nicht auf Radwegen. Knapp überholt kann man auf denen nicht werden und abbiegende Autofahrer:innen sehen einen besser.

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    3. Interessant, Boris, inwiefern funktioniert Berlin nicht, radfahrtechnisch?

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    4. In Tübingen finde ich es noch schlimmer. Dieses Jahr wurde dazu auch wieder Geld für schmale Schutzstreifen entlang parkender Pkw ausgegeben.

      Thomas

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    5. Christine, meinst Du Radfahrstreifen oder Protected Bike Lanes? Meine Erfahrung aus Winnenden und Stuttgart ist, dass ich auch auf Radfahrstreifen zu eng überholt werde und dass Autofahrer den Radfahrstreifen wie selbstverständlich mitbenutzen (auf der Ringstraße in Winnenden zu über 80%).

      Ich hatte mehrere Abbiegeunfälle auch bei Fahren auf der Fahrbahn und ich konnte x-fach Abbiegeunfälle auf der Fahrbahn vermeiden, indem ich kurzerhand (undgewollt und ungeplant) zusammen mit dem überhol-abbiegendem Auto abgebogen bin. Betroffen sind sowohl Kreuzungen als auch Kreisverkehre. Beim Kreisverkehr sind sowohl einfahrende als auch ausfahrende Autofahrer diejenigen, die (trotz freier Sicht) die Radfahrer "übersehen".

      Das höhere Risiko von Abbiegeunfällen auf Radfurten bei baulich getrennten Radwegen wird verursacht, wenn die Sichtachsen nicht freigehalten sind und die Gestaltung der Kreuzung zu schnellem Abbiegen verführt. Dass die Theorie "auf der Fahrbahn Rad fahren" sicher ist, widerlegen alle Unfälle auf den Kreisverkehren, um die keine baulich getrennten Radwege geführt sind.

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  7. Wie ist hier die allgemeine Erfahrung? Hat die 1,50m-Kampagne mit den Digitalanzeigen, Flyern und Plakaten etwas gebracht oder nicht? Rein subjektiv ist mein Eindruck, dass es tatsächlich mehr rücksichtsvolle Autofahrer gibt. Die große Mehrheit möchte den Radler ja auch nicht bedrängen.

    Eine schöne Stelle, wo man das sehen kann, ist die Deckerstraße in Cannstatt, vom Kreisverkehr aufwärts (am Carré vorbei). Hier hat man parkende Autos, Tempo 50 und Gegenverkehr bei vergleichsweise engen Platzverhältnissen. Dadurch, dass es bergauf geht, kann man auf dem Rad ohne Motor aus dem Kreisverkehr hinaus nicht so schön beschleunigen wie die Autos. Ich erlebe jetzt viel weniger dringende Überholer, die allermeisten Autofahrer warten ab, bis ich ein paar Straßen später abbiege, und ich habe nicht das Gefühl, bedrängt zu werden.
    Demgegenüber gibt es ein paar wenige, die hupen, knapp und schnell vorbeizischen und ggf einem noch den Vogel zeigen. Bei solchen Menschen hilft nur eine bauliche Trennung mittels Betonmauer, aber grundsätzlich bin ich recht erfreut über die Kampagne.

    Spannend wäre jetzt halt, ob man die Veränderung in den Daten sehen kann...

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    1. Es gibt immer die paar wenige, die einem das Radfahren stressig machen. Ich erlebe die meisten Autofahrenden so, dass sie Rücksicht nehmen und mich auch sehen, manchmal zu vorsichtig sin und anhalten, wo sie Vorfahrt hätten, aber ich erlebe auch immer wieder und nicht selten, sehr aggressive Autofahrer:innen.

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  8. S. Schwager, Fürstenfeldbruck

    Leere Beifahrersitze dürften einfach keinen Platzanspruch auf öffentlichen Straßen haben, zumindest innerörtlich, und das Problem wäre so gut wie gelöst.

    Bei uns in Bayern, zumal im LK Fürstenfeldbruck, sind (lt. StVB) *alle* Straßen zu schmal für eine gleichzeitige, sichere Benutzung durch Autos und Fahrräder. Fazit: Fahrräder müssen praktisch *überall* auf dem Gehweg fahren, haben defacto *überall* ein Fahrbahnverbot.

    Die Trennung von Fahrrad- und Autoverkehr wird hier rigoros durchgezogen, indem *jeder* Gehweg zum gemeinsamen Geh/Radweg "promotet" wird/wurde. Sogar in Neubaugebieten wird zugunsten von Baufläche auf ausreichend breite Straßen verzichtet. Im Gegenzug können jeden Tag Millionen leere Beifahrersitze ungehindert durch die Städte und Ortschaften gewanzt werden. Zumindest, bis ich auftauche :-).

    Ich bin kein Freund dieser Trennungs-Tendenz. Ich *weiß*, dass mein Risiko, über eine Kühlerhaube zu fliegen, auf der Fahrbahn viel geringer ist als auf den mir vorgeschriebenen "Sonderwegen".

    Leider weiß ich nicht, wie man den Irrsinn, einem leeren Beifahrersitz mehr Platzrechte zuzusprechen als einem Radfahrer, korrigieren kann. Das hat wohl was mit Religion zu tun.

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