20. Juni 2022

Wem gehört die Fahrradstraße?

Wenn ein Transporter die Fahrradstraße blockiert, kümmert sich die Polizei; allerdings nur, wenn ein Auto nicht mehr durchkommt. 

So habe ich es an einem Montag im Mai erlebt, als ich mit dem Rad Richtung Marienplatz die Tübinger Straße entlang kam. Vor mir stand dieser BMW. Um den in zweiter Reihe stehenden Transporter fuhren munter die Autofahrer vom Marienplatz drum herum mir entgegen. Als ich einem sagte, er habe keine Vorfahrt, das Hindernis stehe auf seiner Seite, sagte er, die Autofahrerin (in dem BMW) traue sich nicht durch. Aha. Deshalb also warte ich hier. Eine  Autofahrerin traut sich nicht zwischen geparkten Autos und dem Transporter in zweiter Reihe durchzufahren und blockiert nun auch die Fahrradstraße. Super! 

Ich sehe eine Polizistin beim Transporter stehen. Der Fahrer wird vermutlich einen Bußgeldbescheid bekommen: 55 Euro, bei Behinderung (hier der Fall) 80 Euro und 1 Punkt in Flensburg.

Erst als alle Auto vom Marienplatz her durch sind, kann ich auf meinem schmalen Fahrrad an dem BMW und dem Transporter vorbeiradeln. Kopfschüttelnd. Denn das ist eine Fahrradstraße, hier sind Autofahrende nur zu Gast, und hier ist auch nur für Anlieger frei. Es sind doch sehr viele Gäste, die sich breitmachen. Auch in einer Fahrradstraße ist es nicht erlaubt, in zweiter Reihe zu stehen. Aber dass die Polizei sich um so einen in zweiter Reihe stehenden Falschparker kümmert, habe ich noch nie erlebt, wenn nur Radfahrende unterwegs waren, die allesamt auf der Gegenfahrbahn in den Gegenverkehr drum herum fahren müssen. Geht ja. Radfahrende kommen ja überall durch, jedenfalls fast, denn hier kam ich nicht mehr durch, oder erst, nachdem die Autos, die mir entgegen kamen, alle durch und weg waren. 

Verkehrte Welt! 

Fahrradstraßen erzeugen oftmals dieses Gefühl. Eigentlich dürften auf ihnen gar keine Autos fahren, auch keine parken. Ist eine Fahrradstraße so ausgeschildert (nicht für Kfz freigegeben), ignorieren die Autofahrenden das aber komplett. Denn das deutsche Verkehrsrecht lässt es zu, Ausnahmen zu gestatten, und der deutsche Autofahrer (und die Fahrerin) geht sowieso davon aus, dass alles, was Straße ist, für ihn/sie befahrbar und erlaubt ist. 

Ausnahmen gibt es  auf allen Fahrradstraßen. Entweder heißt es "Anlieger frei", dann wieder "Kfz frei" oder es dürfen immerhin noch Taxis, Lieferfahrzeuge und Menschen mit Behindertenausweisen zu Behindertenparkplätzen rein, wie in der eigentlich reinen Fahrradstraße Eberhardstraße. Auch das wird von Autofahrenden regelmäßig missachtet. Die sehen die Schilder gar nicht. Eine wirklich autofreie Fahrradstraße ist mir nicht bekannt. (Sie hieße dann vermutlich auch Radweg.)  Obgleich in Fahrradstraßen der Radverkehr das Tempo vorgibt, erlebe ich es oft, dass ein Autofahrer mich unbedingt überholen will, obgleich ich schon 25 km/h radle. (So extrem, wie es diesem Radler erging, ist es mir noch nicht passiert, aber so was passiert eben auch: Ein Autofahrer schlägt zu, weil der Radler nicht Platz macht.

Wo bin ich eigentlich?, frage ich mich dann, und: Weiß der Autofahrer eigentlich, wo er sich befindet? Die Tübinger Straße ist leider so organisiert, dass man sie mit dem Auto in einem Rutsch (auf einer Vorrangstraße) vom Marienplatz bis zur Silberburgstraße Richtung Stuttgart West durchbrausen kann, obgleich es verboten ist, denn hier dürfen ja nur Anlieger rein und wieder raus. Sie hat also jede Menge Durchgangsverkehr. Sowas finden auch die Unfallforscher der Deutschen Versicherer falsch. Denn auf Fahrradstraßen ereignen sich auch relativ viele Dooring-Unfälle, weil Radler:innen eben doch aus Angst vor drängelnden Autos zu dicht an den geparkten Autos entlang radeln und weil Autofahrende die Türen viel zu oft ohne zu gucken aufstoßen. (Habe ich kürzlich mal wieder gesehen. Der Radler war jung und konnte gerade noch ausweichen. Der Autofahrer war erschrocken und völlig ratlos. Ich habe ihm den Holländischen Griff empfohlen.) 

Die Einrichtung von Fahrradstraßen erzeugt bei Anwohner:innen regelmäßig volle Panik: Radfahrende erscheinen ihnen viel gefährlicher als Autos, man befürchtet, dann wegen der "rasenden Radler" nicht mehr über die Straße zu kommen. Die Vorbehalte, die es bei der Einführung der Fahrradstraße auf der Tübinger Straße gab, tauchen jedes Mal auf. Radler sind auf Fahrradstraßen entweder unkalkulierbar gefährlich oder ihrerseits in tödlicher Gefahr. Beides stimmt natürlich nicht. Aber die Idee, die im Wort Fahrradstraße steckt, nämlich dass sie nur für Radfahrende bestimmt ist, erzeugt in unserer Autogesellschaft eben Neid und Zorn: Wieso dürfen Radfahrend etwas, was wir Autofahrende nicht dürfen? 

Ich bin trotz aller Mängel für Fahrradstraßen, denn sie tragen ein bisschen dazu bei, einen Mentalitätswandel einzuleiten: Dem Auto gehören nicht alle Straßen. Sie machen das Radeln auf Strecken, auf denen sowieso viele Radler:innen unterwegs sind, etwas leichter, auch weil sie meistens Vorrangstraßen sind, und sie ermuntern tatsächlich Eltern mit Kindern, dort zu radeln, auch wenn genauso viele Autos dort unterwegs sind wie vorher. Irgendwann werden es auch wir schaffen, die Durchfahrt mit Pollern oder gegenläufigen Einbahnstraßen für Autos zu unterbinden. 

Allerdings geraten wir dann sofort in eine zweite verkehrte Welt: Denn wo wenige oder keine Autos fahren, erobern sich Fußgänger:innen die Verkehrsfläche sofort und fangen an, sie für ihre zu halten. Sie queren oftmals Fahrradstraßen, ohne zu gucken, sie laufen auf ihnen wie in einer Fußgängerzone. Und sie beschweren sich dann, dass die Radler da viel zu schnell führen. Für Fußgänger:innen sind Fahrräder keine Autos, auf die man achten müsste, und sie sehen Fahrräder genauso wenig wie Autofahrende sie sehen. Reine Fahrradstraßen werden schnell zu Fußgängerzonen. Ich finde Fußgängerzonen gut, ich finde, Fußgänger brauchen auch mehr Platz. Aber Fahrradstraßen sind halt auch Straßen für den Fahrverkehr, nur eben nicht für Autos. Und oft sind es Hauptradrouten, auf den viele zügig unterwegs sein wollen und dürfen. 

Wir sehen also: Fahrradstraßen sind in unser Straßenverkehrswelt das Dritte, das weder von Autofahrenden noch von Fußgänger:innen so recht respektiert wird. 



13 Kommentare:

  1. Beim letzten Abschnitt musste ich schmunzeln, denn es ist einfach nur wahr- Fußgänger nehmen Radfahrer nicht als Gefahr ernst, deshalb latschen sie dir direkt vors Rad, trotz direktem Blickkontakt. Ich kann ganz gut Slalom fahren und habe damit also weniger Probleme. Sehr viel nerviger sind die 6 Zebrastreifen in der kurzen Fahrradstraße: Würden Fußgänger weniger in Horden die Seite queren, müsste man gar nicht stoppen- wie immer reicht Rücksicht.

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    1. Ralph Gutschmidt20. Juni 2022 um 14:28

      Das Problem bei Zebrastreifen ist, dass Fußgänger oft am Straßenrand stehen bleiben und warten, dass man anhält, anstatt einfach los zu laufen.

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    2. Jaaaa! Das ist echt ein Problem. Ich rede dann immer und rufe: "Gehen Sie nur, ich sehe Sie ja, ich kann dann hinter Ihnen durchradeln." Manchmal halte ich auch an und nehme mir Zeit, es ihnen zu erklären. Manche Fußgänger:innen müssen halt noch umlernen.

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    3. In der Schweiz wird Kindern in der Primarschule teils beigebracht, dass sie am Zebrastreifen erst gehen sollen, wenn Fahrzeuge des Fahrbahnverkehrs vollständig angehalten haben: Es gab dort mal eine Kampagne "Rad steht, Kind geht". Und ich meine, daß vor ein paar Wochen jemand hier im Forum kommentiert hatte, daß das hier in Baden-Württemberg auch teilweise so sei.

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  2. Jörg
    In den Ferien konnte ich Radinfrastruktur in Köln befahren. Es gibt z.B. die Deutzer Freiheit eine Art Fußgängerzone mit Fahrradstraße eigentlich meine Vorstellung von Einkaufsträßchen in Stadtteilen. Es wäre vielleicht gut die Gehwege zu verbreitern und die Fahrradstraße bei 4 bis 5 m Breite zu belassen. Damit führt Parken zu einer Blockade für weitere Autos. Interessant war es, dass man schwer eine Fahrradparkplatz findet.

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    1. Fahrradstraßen sollten wohl tatsächlich schmaler sein, damit Fußgänger:innen merken, dass das nicht ihr Bereich ist (vorausgesetzt Autos sind verboten). Ich erlebe es jetzt oft, dass in dem sogenannten Mischverkehrsbereich in der Tübinger Straße mir die Fußgänger:innen hinterherrufen: "Fußgängerzone!" Sie checken nicht, dass das eine normale Fahrbahn ist, in der nur 20 gefahren werden darf. Ist schon schwierig, das alles, weil wir unsere Umgebung oftmals nur schlecht wahrnehmen und nicht verstehen.

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    2. Ja, ich finde auch, dass zu Fuß gehende oft auf Radwegen und Fahrradstraßen gehen. So oft, dass ich wirklich bezweifele, dass der/die Durchschnitts-zu-Fuß-gehende wirklich Angst vor Fahrrädern hat. Selten wird direkt auf die Fahrbahn gelatscht, ohne vorher zu schauen, aber auf dem Radweg zu gehen während man mit dem Handy spielt kommt ziemlich oft vor.

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    3. Ja, das kenne ich schon aus meiner Schulzeit, als ich mit dem Fahrrad in die Schule radelte und erbost war, dass die Fußgänger:innen mich auf dem Fahrrad auf der Fahrbahn überhaupt nicht ernst nahmen und einfach losgingen. Für viele Fußgänger:innen fallen wir - ungepanzert wie wir unterwegs sind - unter die Kategorie Fußgänger und die kommen ja nie schnell an und weichen einander aus. Ich bimmle ziemlich penetrant, wenn ich auf Radwegen unterwegs bin, auf denen Fußgänger:innen schlendern. Ich muss manchmal auch "Achtung" rufen, so schnell tritt der Fußgänger auf den Radweg.

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  3. In Karlsruhe sind beinahe sämtliche "Fahrradstraßen" für sämtliche Kraftfahrzeuge freigegeben, was sie de facto nur zu Tempo-30-Abschnitten mit anderem Anstrich macht. (Die meisten davon waren auch vorher schon Teil von Tempo-30-Zonen, aber so hat die Stadt etwas kostengünstiges Marketing abgegriffen, ohne an der Realität für Radfahrende tatsächlich etwas zu ändern.) Dadurch werden Auto- und LKW-Fahrer*innen (nicht zuletzt auch die Polizei) dazu erzogen, dass sie das Fahrradstraßen-Schild nicht als Ausschlusskriterium betrachten müssen, und fahren auch regelmäßig durch den einzigen nicht für sie freigegebenen Fahrradstraßen-Abschnitt der Stadt, nämlich die 100 Meter über den Friedrichsplatz.

    Und durch diesen Gewöhnungseffekt fahren die selben Kfz-Fahrer*innen dann auch in anderen Orten, wo ihnen nicht in jeder Fahrradstraße der rote Teppich ausgerollt wird, ganz selbstverständlich in Fahrradstraßen und stören dort Radfahrende, die nicht damit rechnen.

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    1. Durchfahrtverbote sind für Autofahrende generell ganz schwer zu erkennen, zu realisieren und noch schwerer auch wirklich zu befolgen. Das ist nicht nur in Fahrradstraßen ein Phänomen, sondern auf Feldwegen oder in Straßen, wo die Durchfahrt explizit verboten ist. Ich weiß nicht, was dahinter steckt, ich vermute aber, dass Autofahrende davon ausgehen, dass sie "zur Not" überall durch- und langfahren dürfen, wo der Untergrund asphaltiert ist. (Weshalb wir es in Stuttgart jetzt mit türksblauer Einfärbung probieren, aber das wird nicht viel nützen.)

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    2. "Durchfahrtverbote sind für Autofahrende generell ganz schwer zu erkennen, zu realisieren und noch schwerer auch wirklich zu befolgen." Tut mir leid das sagen zu müssen, aber der Satz ist schlichtweg falsch. Das Durchfahrtsverbot wird schlichtweg ignoriert und zwar aktiv, selbst Baken, Pfosten etc. werden zur Seite geräumt oder umfahren, weil man eine ehemals befahrbare Strecke weiter befahren will. Selbst gut beschilderte Baustellen werden ignoriert und reingefahren.
      Bei uns in Mannheim sehr gut zu beobachten zwischen E1 und E2, am gesperrten Übergang Kunststraße und am gesperrten Übergang Fressgasse. Deutlich zu erkennen (große Schilder, Baken, neue Bemalung, Leitboys auf der Fahrbahn), dass andere Verkehrsführung installiert wurde, aber es wird aktiv ignoriert, nicht "übersehen". Auf der Rechtsabbiegerspur um die Baken herumgekurvt und dann die Fußgänger beschimpft, die bei grün gehen.
      Der Großteil der Autofahrer ist schlichtweg einfach ignorant. Ich bin für deutlich mehr Kontrolle und höhere Strafen.
      Karin

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    3. Ganz so drastisch wollte ich es nicht sagen. Ich beobachte, dass etliche Autofahrende überfordert damit sind, Schilder zu erfassen (also auch ihre Bedeutung). Auch Fußgänger:innen erkennen nicht, dass sie auf einem Radweg gehen, und viele Radfahrende erfassen die Bedeutung von Verkehrszeichen auch nicht, sie wundern sich dann, dass sie was verkehrt gemacht haben. Wenn man beim Fahren lange Schilderlatten mit Ausnahmen sieht, dann kann man die sich oft nicht erklären und ist schon drin in der Straße, in die man nicht reinfahren durfte. Davon abgesehen missachten auch einige die Verkehrszeichen bewusst und penetrant. leider machen wir Radfahrende ja oft die Erfahrung, dass die Baustellenbeschilderung nicht passt und wir uns überlegen können, ob wir da durchfahren dürfen, weil man vergessen hat, eine Freigabe unter das Verbot zu hänge, oder eben nicht. Obgleich Baustellensperren für Autofahrende eindeutiger sind, machen auch sie die Erfahrung, dass Verkehrszeichen manchmal einer Interpretation bedürfen und man sich fragen muss, ob das Schild richtig steht. Ich würde nicht alle, die Verkehrsverstöße begehen über einen Kamm scheren, wüste Verkehrsregelbrecher:innen gibt es in allen Verkehrsarten.

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  4. Wir haben es hier ja schon öfter festgestellt, für viele, wenn nicht die meisten Leute gilt nur noch das Recht des Stärkeren.
    Eine höchst beunruhigende Tatsache, da es zeigt wie gesellschaftliche Strukturen anfangen sich aufzulösen.
    Damit werden Szenarien à la MadMax immer wahrscheinlicher.

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