8. September 2022

Die Macht des Tabus, das wir Auto nennen

Tabu bedeutet eigentlich "unverletzlich", "heilig" und "unberührbar" und stammt aus dem Polynesischen. Was tabu ist, muss den religiösen Vorstellungen zufolge, streng gemieden werden, weil es gefährliche Kräfte besitzt. 

Das Auto, so sagt man, ist uns Deutschen (und nicht nur uns) heilig. Die meisten von uns haben große Scheu, ein fremdes Auto anzufassen. Findet ein Autofahrer einen Falschparker-Aufkleber an seiner Seitenscheibe, ist er vor allem deshalb aufgeregt, weil er sieht, dass jemand sein Auto berührt hat. Manche Autofahrer erden sogar bereits so wütend, dass sie zuschlagen, wenn man sie mit dem Fahrrad nur ausbremst oder sonstwie an der Weiterfahrt hindert. Die Polizei hat man dann als Opfer nicht auf seiner/ihrer Seite. 

Das Auto ist zugleich ein Gegenstand, der ein Tabu herstellt, nämlich rund um den, der es fährt. Das Auto ist der einzige Ort im öffentlichen Raum, in den niemand eindringen kann und darf. Es macht seine Insassen zu Unberührbaren, zu Heiligen und Unverletzlichen. 

Das ist der tiefere Grund, warum manche Menschen so am Autofahren hängen, obgleich andere Mobilitätsformen, etwa Radfahren oder zu Fuß gehen, oft bequemer, billiger und zeitsparender wären. Sie sind draußen unterwegs von A nach B, aber sie sind nicht im öffentlichen Raum, sie bleiben vollständig unangreifbar. Sie sind umgeben vom heiligen Blech und bleiben bei den meisten Begegnungen (Unfällen) völlig unberührt. Allein auf Stuttgarter Straßen sind jeden Tag einige Hunderttausend im Zustand des Tabus unterwegs. Sie signalisieren allen anderen, die sich zu Fuß oder auf Fahrrädern bewegen: "Rühr mich nicht an!" und "Du kannst mich nicht anrühren", nicht einmal emotional. So bahnen sie sich den Weg durch jede Gegend, jede Stadt, jedes Dorf, jeden Wald. 

Kein Wunder, dass sie auf Radfahrende und zu Fuß Gehende herabschauen. Wir haben nämlich kein Tabu um uns herum, wir sind auch keines. Wir sind nicht unverletzlich und unberührbar, darum auch nicht heilig. Mit uns kann man alles Mögliche machen, weil wir keine Grenze um uns herum ziehen können, die nicht durchbrochen werden darf. Uns kann man bis auf die Knochen nahe kommen. Tabuisierte (Autofahrer:innen) sagen deshalb oft: "Radfahren ist zu gefährlich" oder: "Allein zu Fuß kann ich mein Kind nicht in die Schule gehen lassen." 

Um die Tabuisierten vor Zusammenstößen mit Nicht-Tabuisierten zu schützen, gibt es strenge Regeln. So dürfen die Nicht-Tabuisierten (Fußgänger:innen) Fahrbahnen für die Tabuisierten nur an Kreuzungen, Einmündungen und Fußgängerüberwegen überqueren. Und sogar auf den Zebrastreifen können die Tabuisierten andere Menschen anfahren, ohne sich schuldig fühlen zu müssen. Unser Verkehrsrecht stellt klar, dass ein Fußgänger am Zebrastreifen nicht einfach losgehen und das Anhalten des Autofahrers erzwingen darf. Er muss warten und gucken, ob der Tabuisierte halten will. Sonst trägt er, wenn er verletzt wird, eine Mitschuld. Nur wenn der Fußgänger nach Ansicht der Polizei, der Staatsanwaltschaft und letztlich der Gerichte alles so gemacht hat, wie er soll (vorsichtig, rücksichtsvoll, nicht herausfordernd oder erzwingend), nur dann drohen dem Tabuisierten auch mal ernstzunehmende Geldstrafen oder eine Gefängnisstrafe.  

Kommt es zu einem Zusammenstoß zwischen Tabuisierten und Nicht-Tabuisierten, dann wird dem Tabuisierten meistens nachsichtig unterstellt, er/sie habe es ja nicht mit Absicht gemacht, habe den Nicht-Tabuisierten übersehen (nicht gesehen) oder nicht mehr reagieren können - es war also für ihn unvermeidbar -, während man bei den Nicht-Tabuisieren nach Hinweisen darauf sucht, dass er/sie den Unfall provoziert oder durch eine vorangegangene bewusste oder unabsichtliche Regelverletzung mitverschuldet habe. Dem Tabuisierten darf nur in Ausnahmefällen, in denen Vorsatz nachgewiesen wird, die alleinige Verantwortung aufgebürdet werden. Immer wieder wird den Nicht-Tabuisierten eindringlich empfohlen zu warten, Reflektoren zu tragen, Helme aufzusetzen und auch mal Unrecht vor Recht ergehen zu lassen, ihren Unfall bei einem Konflikt mit Tabuisierten nicht herauszufordern. Ein Tabuisierter kann hingegen einen Unfall nicht herausfordern (provozieren), er ist immer von der Gegenwart eines Nicht-Tabuisierten auf seinem Weg überrascht. 

Flächen für Tabuisierte und ihre Tabus erringen selbst ein Tabu. Um die Tabus für die Tabuisierten aufrechterhalten zu können, wurden und werden breite Straßen gebaut, auf denen sie möglichst ohne Berührung vor allem mit Nicht-Tabuisierten, fahren und stehen können. Wege für Nicht-Tabuisierte werden an den Rand gedrängt, sind schmal und oftmals unterbrochen und führen selten geradewegs zum Ziel. Keinesfalls dürfen die Wege für Tabuisierte verringert oder ihnen ein Umweg abverlangt werden. Es ist in Deutschland darüber hinaus ein Tabu, eine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen oder in Städten oder auf Landstraßen zu fordern oder gar einzuführen, die Gesundheit und Leben der Nicht-Tabuisierten schützen würde. Viele Menschen betrachten es zudem als ihr gutes Recht, ihr Tabu am Straßenrand abzustellen. Sollen die Parkflächen im öffentlichen Raum beschränkt werden, gibt es heftige Proteste und Presseartikel darüber. 

Das Tabu strahlt von den Autos auf alle Flächen in einer Stadt aus. 

Mit dem Tabu dürfen Tabuisierte sogar ungestraft in den Raum der Nicht-Tabuisierten eindringen und ihn besetzen. Für das Parken auf Gehwegen und Radstreifen, gibt es - wenn es überhaupt zur Ahnung kommt - nur ein Bußgeld, keine Strafe. Bei den Ordnungskräften gibt es zudem eine relativ große Toleranz den tabuisierten Fahrzeugen gegenüber, die auf den Flächen der Nicht-Tabuisierten stehen oder auch fahren, was man überall sehen kann, wenn man zu Fuß unterwegs ist oder wieder mal um ein Auto herumradeln muss, das auf dem Radstreifen steht. Es erscheint der Gesellschaft (Politik, Polizei und Ämtern) nicht so wichtig,  etwas zum Schutz der Flächen von Nicht-Tabuisierten zu tun, etwa durch Aufstockung der Ordnungskräfte und konsequente Ahndung. Der Lärm und die Abgase der Tabus dürfen außerdem weit jenseits der Grenzen ihrer Tabuflächen hinaus, also eigentlich überall, Menschen stören, beeinträchtigen oder krank machen, ohne dass dies ernsthaft als Problem erkannt und geändert wird.  

Zum Schutz des Tabus gibt der Staat sehr viel Geld ausTabuisierte müssen nämlich nicht allein für die Kosten aufkommen, die der Erhalt ihres Tabus erzeugt. Den größeren Teil der  Kosten müssen alle über ihre Steuern tragen, auch die, die niemals tabuisiert unterwegs sind und sich immer am Rand der Tabuflächen bewegen. Die Produzenten der Tabus werden vom Staat finanziell gestützt, wenn sie in eine Absatzkrise geraten: Der Kauf von Tabus wird mit Steuergeldern subventioniert, die Nutzung von Tabus steuerlich unterstützt. Damit das so bleibt, versorgt die Tabu-Industrie Politiker:innen, aber auch Medienvertreter:innen mit wertvollen Tabus zu Rabattpreisen, denn sie sollen sich immer in der seligen Isolation der Unberührbaren durchs Mobilitätsgetümmel bewegen, damit sie nicht auf die Idee kommen, das Tabu anzutasten. Für Nicht-Tabuisierte werden zwar viele Pläne gemacht, wie man ihre Wege verbessern kann, aber nur sehr langsam umgesetzt. Wenn über solche Wege gesprochen wird, dann wird oft gesagt, die Nicht-Tabuisierten sollten diese Wege über spezielle Steuern für ihr nicht-tabuisiertes Gefährt selber bezahlen. Die Tabuisierten sorgen außerdem dafür, dass die Nicht-Tabuisierten als asoziale und anarchistische Elemente im Verkehr angesehen werden, sie unterstellen ihnen notorisch übles Verhalten und prangern Verstöße gegen den Respekt vor dem Tabu regelmäßig in den Medien an. 

Wenn Menschen das Tabu nicht akzeptieren wollen und seine Abschaffung fordern, wird ihnen gesagt, dass die Gesellschaft, in der wir leben, nur solange funktionieren kann, wie das Tabu unumschränkt gilt, und dass es immer gelten werde. Menschen, die das Tabu und diese Glaubensgrundlagen aufheben wollen, wird außerdem vorgehalten, dass sie den Menschen die Freiheit wegnehmen wollten, sich jederzeit als Unberührbare und Unverletztliche  durch die Welt zu bewegen und jederzeit Nicht-Tabuisierte in Gefahr zu bringen und zu verletzen. Die Freiheit der Nicht-Tabuisierten, sich jederzeit überallhin bewegen zu können ohne das Risiko, verletzt oder getötet zu werden, wird als minderwertig angesehen. Sie können ja, so sagt man, die Wege meiden, auf denen sie mit Tabuisierten zusammenstoßen könnten, oder sich selbst in einem Tabu bewegen und zu Unantastbaren und Heiligen erheben. Das ist ihre Freiheit.

Allerdings gibt es immer mehr Menschen, die für sich entdecken, dass es schöner und bequemer ist, und vor allem auch billiger, wenn man die vielen kurzen Strecken, die man so hat, mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurücklegt. Zweit- und Drittwagen werden verkauft und nicht mehr ersetzt, stattdessen kaufen sie sich Pedelecs. Mit den Erfahrungen von Fahrten in tabuisiertem Zustand im Kopf, bewegen sich viele von ihnen nun in nicht-tabuisierten Zustand durch die Städte und zwischen den Städten und Dörfern und sind erschrocken. Sie fordern, dass man ihre Wege nun ebenfalls tabuisiert, also vor dem Autoverkehr schützt. Sie wollen nicht einsehen, dass ihr Status geringer ist, als der von Unberührbaren in heiligen Fahrdosen. Sie fordern, dass die Stadträume nicht mehr von Tabus und Tabuisierten beherrscht, sondern den Nicht-Tabuisierten zurückgegeben werden. In manchen Städten außerhalb Deutschlands ist das auch schon gelungen. Es besteht also durchaus Aussicht, dass das Tabu - wenn auch langsam - auch bei uns an Macht verliert. 

 


9 Kommentare:

  1. Sehr guter Text, der das ganze mal auf eine andere Ebene hebt.
    Was das Vorhandensein von Tabus auf Gehwegen angeht - kann ich das mit den heiligen Kühen in Indien nochmal sehen?

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  2. So traurig und so wahr… Sehr guter Text

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  3. Naja, lange müssen wir den Irrsinn nicht mehr mitmachen. Wenn wir das System in wenigen Jahren endgültig vor die Wand gefahren haben werden, wird Schluss sein mit dem Autoverkehr.
    Nur Fahrrad werden wir dann auch nicht mehr viel fahren, erstens, weil uns die Suche nach der nächsten Mahlzeit sehr beschäftigen wird. Und zweitens, denn das Fahrrad ist auch ein Produkt des Industriezeitalters, mangels Reifen, Ketten, Bremsbelägen, Ersatzfelgen etc.

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    1. Sorry, marmotte27 (für die die's nicht erraten haben).

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  4. Glückwunsch - Du bringst es auf den Punkt.

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  5. sehr feine analyse, liebe frau lehmann - vielen dank!

    in einem zweiten schritt gilt es nun maßnahmen zur herstellung einer waffengleichheit umzusezten:
    ähnlich, wie wir radler ganz selbstverständlich unseren aggregatszustand auf freigegebenen gehwegen ändern müssen und von aktiven teilnehmern zu irgendwas anderem ohne klingel und in schrittgeschwindigkeit mutieren, gilt es jetzt parasitäre mobilisten aus ihrer wohlfühlzone heraus zu nehmen und einem kooperativen zusammenleben zuzuführen.

    das wird nicht ohne konflikte und gewalt (in welcher form auch immer) gehen.

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  6. Im Detail schön durchdacht, danke - mit dem Tabu als Prämisse allerdings wird der falsche Empfänger alarmiert - als könne eine Art Enttabuisierung helfen. Es ist paradoxerweise genau umgekehrt: nicht das Tabu verursacht das Problem, sondern die Freiheit.

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    1. Deinen Gedankengang verstehe ich nicht. Vielleicht kannst du es etwas ausführlicher erklären.

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  7. Ein weiteres Tabu ist m.E. leider der Energieverbrauch. Es gibt wohl kaum eine größere Energieverschwendung, als alleine mit dem Auto rumzufahren- ob mit Strom oder Sprit. Mögliche Vergleiche wären
    - man heizt im Winter volle Kanne und wenn einem zu warm wird, macht man das Fenster auf,
    - man bringt eine Badewanne zum Kochen um 250g Nudeln zu kochen, etc.

    Beim Vergleich Pedelec/Auto gehen 97% der Energie in die Bewegung des Autos.
    D.h. von den ca. 150 Mio. Liter Sprit, die in D täglich getankt werden, gehen ca. 105 Mio. Liter nur dafür drauf, das Auto zu bewegen.

    War da nicht was mit "Energiesparen"?

    Stefan, Fürstenfeldbruck, Bayern

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