18. September 2022

Wir haben halt keine Radkultur in Stuttgart

Auf der Hauptradroute 1, in der Tübinger Straße beim Gerber gibt es eine Baustelle, und man hat die Fahrbahn in einen reinen Radweg umgewidmet. 

Das ist sehr gut. Danke an die Stadt Stuttgart, dass man an uns gedacht hat. Für Autos und Mopeds ist hier die Durchfahrt verboten. Die Verkehrszeichen stehen da und sind völlig eindeutig, wenn auch für die, die von der Paulinenbrücke her kommen, auf der falschen, der linken Seite (Foto ganz unten). Aber daran kann es nicht liegen, dass die Autofahrenden meinen: Scheiß drauf, ich will hier durch. In den zehn Minuten, die ich da stand, kamen vier Autos von dort, zwei Pkw, ein Lieferwagen mit Anhänger und ein Hermes-Paketdienst. Einer wendete und fuhr nicht rein. 

Einmal begegneten sich auch zwei Autos und alles kam ins Stocken, weil die nicht aneinander vorbeikamen (Collage links unten). Das Auto, dass Richtung Paulinenbrücke fährt, kam aus einer Gebäudeeinfahrt des Gerber. Übrigens war natürlich auch ein Moped-Fahrer unterwegs, denn die halten ihre Fahrzeuge ja generell für Fahrräder. 

Hier zeigt, dass Stuttgart im Grunde überhaupt keine Radkultur hat. Das sieht man nicht nur daran, dass viele Autofahrende völlig ungestört über Radwege - auch längere Strecken - fahren, so als seien Radwege eigentlich Autostraßen, sondern auch daran, dass für Fußgänger:innen Radwege auf Fahrbahnen (wie auch Fahrradstraßen) praktisch nicht existent sind. 

Sie sehen sie nicht, sie gehen auf ihnen. Das ist hier so, aber auch an der Kirche in der Radschleuse bei der Baustelle dort. Weder Autofahrende noch Fußgänger:innen haben Respekt vor Radwegen, sie betrachten sie als ihre Flächen, auch dann, wenn dort richtig viele Radfahrende unterwegs sind, so wie am vergangenen  Mittwoch um halb fünf am Nachmittag. 

Vermutlich wird die Einrichtung jetzt länger so bleiben. Die große Frage, die ich mir stelle, ist: Werden sich Autofahrende nun daran gewöhnen, hier einfach durchzufahren, wo sie nicht fahren dürfen? Und werden die Fußgänger:innen diesen Straßenabschnitt aus ihren Gehweg erobern. Wird das nun so bleiben? Und wer kümmert sich eigentlich darum, dass es nicht so bleibt, sondern dass ein Radweg ein Radweg ist, auf dem nur Radfahrende fahren dürfen. 

Ohnehin verfestigt sich auf diesem Abschnitt der Tübinger Straße nicht nur bei Autofahrenden, sondern vor allem bei Fußgänger:innen der Eindruck, dies sei eigentlich ihr Gelände. Fußgänger:innen, die mir vors Vorderrad tappen, pflaumen mich gern mal an, dies sei eine Fußgängerzone. Ich widerspreche dann und sagte: Nein, das ist eine Straße, auf der 20 gefahren werden darf und Rechts vor Links gilt. Einmal pampte mich sogar einer gut informiert und vorwurfsvoll an: "Sie fahren aber nicht 20." - "Stimmt", sagte ich, "ich fahre gerade 15 km/h." 
Ich gönne unseren Fußgänger:innen wirklich jede Fläche, allerdings komme ich hier in innere Konflikte, denn schließlich haben wir Radler:innen nichts anderes als diese Strecke zwischen Marienplatz und Innenstadt, es ist unsere einzige Hauptradroute, sogar unsere einzige Route hier. Es kommt doch auch niemand auf die Idee, die B14 für eine Fußgängerzone zu halten und auf ihr zu spazieren. Wie gesagt: Der Respekt für Radwege ist in Stuttgart minimal. Was vielleicht auch daran liegt, dass es nur ganz wenige gibt und jeder Radweg alle völlig überrascht. 

Wie haben eben gar keine Radkultur in Stuttgart. 

23 Kommentare:

  1. Du bist überrascht das Autofahrer die Beschilderung einfach ignorieren ? Wo doch viele tausend Poller dieser Einstellung ihre Existenz verdanken

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  2. für unserem Parking Day in Esslingen hatte das Ordnungsamt Tage vorher Schilder mit Parkverbot ab 10 Uhr platziert, aber die Parkplätze waren überwiegend besetzt und mussten geräumt werden

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  3. Ein paar Baken in die Mitte stellen? So dass die Spuren nur für einspurige Fz reichen? Rettungsdienst schiebt die dann wenn nötig beiseite.

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    1. Kann das funktionieren ? Ich erwarte das dreiste Autofahrer diese Baken unberechtigt beiseite schieben werden.

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  4. Nun ja, ich fuhr gestern die strecke von Cannstatt nach Kaltental und kam an der gleichen Stelle vorbei. Das Problem sind nicht die Fussgänger und die Autos in diesem
    Bereich, sondern das grundsäzliche Problem der Streckenführung für den durchgängigen Radverkehr. ich fand es auch etwas anstrengend bei dem durchqueren
    dieser Passage, finde es aber gut, das sich vor allem Fussgänger in diessem Bereich,
    auch gegen einen Regelverstoß,- ihre Freiräume einfach nehmen.Und was Hermes betrifft: Wie soll er den zu seinen Kunden kommen? Ich selber nehme es als Radfahrer
    mit den Regeln auch nicht so genau, fahre aber sehr defensiv und versuche gelassen zu bleiben.Wichtig wäre mal eine konsequent getrennte Verkehsführung, die allen- d.h. auch Fussgänger Autofahrer,- gerecht wird. Ansonsten, gelassen bleiben, und entspannt weiterfahren,
    Grüsse Andreas

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    1. Die Autofahrer können anders fahren (es gibt genügend Straßen, auf die Tübinger am Gerber führen, auch für Hermes (der Rest ist Sackkarre, die der Hermes-Boote auch benutzte, um seine Pakete in die Christophstraße zu bringen, also woandershin, wo er auch direkt hätte hinfahren können). Die werden sich daran, denke ich auch gewöhnen. Ich finde tatsächlich die Menge der Menschen zu Fuß am problematischsten, denn latschen da völlig ahnungslos und sind stocksauer, wenn ich ihnen sage, dass das ein Fahrradweg ist. Und das ist nicht gut für eine Hauptradroute, auf der sehr viel Radverkehr ist.

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    2. Aber mal pragmatisch gedacht: Muss diese Route unbedingt durch dieses Gebiet führen? Wir wollen doch alle eine belebte und urbane Innenstadt, und die Menschen in diesem Gebiet scheinen das Angebot anzunehmen. Also: Fussgänger bitte zuerst. Zumal viele Menschen auch kein Fahrradfahren können und wollen. Meine Frau ist sehr gerne zu Fuss unterwegs, und findet uns Radfahrer immer mehr als Bedrohung.Also, lasst uns doch den Verlauf der Hauptroute doch anders planen. Das ist doch der Kern des Problems

      Grüsse, Andreas

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    3. Mein Problem mit den Paketlieferdiensten ist, dass sie zu den angenehmen Lügen unserer Zeit gehören. Man lebt in der Innenstadt und ist prinzipiell für ein Lieferwagen unzugänglich? Kein Problem. Alle werden verstehen, wenn der Lieferer kurz reinfährt um das Paket zu liefern. Wenn man es nicht so handhaben würde, würde das Liefern plötzlich teuerer werden. Man würde tatsächlich das zahlen, was es eigentlich kosten würde.

      Es erinnert mich an das Internet. Wir sind es so gewohnt, dass Internetseiten, E-Mail, Chat usw. usf. kostenlos sind, dass wir uns aufregen, wenn der Seitenbetreiber Geld für die Arbeit oder fürs hosting haben will. (Zum Glück gibt es Google, was alleine so was wie 80% des Internets finanziert). Ein Chat-Dienst kostet halt Geld. Deswegen benutze ich auch nicht WhatsApp. Wie kann eine neue Firma mit einer besseren Idee sich durchsetzen können, wenn die Konkurrenz von dem Mutterkonzern mehrere Milliarden Dollar im Jahr geschenkt kriegt?

      Ed

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  5. Lieber Andreas, ja, das ist die große Frage, die auch immer größer wird. Momentan gibt es nichts anders, und die längste Fahrradstraße Stuttgarts führt genau darauf zu. Die parallele Autostraße (B14 vierspurig) hat keinerlei Radinfrastruktur und immer wieder auch Autostau, da will niemand radeln. Diese Hauptradroute 1 ist die Tallängslinie von ganz im Süden bis ganz in den Norden der Stadt und führt eben durch die Innenstadt. Man muss aber dringend Radler:innen, die nicht in die Innenstadt wollen, parallel dazu auf dieser B14 eine bequeme und sichere Radinfrastruktur anbieten. Pläne dazu gibt es aber die stecken noch im Stadium der Vision. Radfahrende haben also derzeit kaum eine andere Möglichkeit, als genau dort durchzuradeln. Und ich bin auch dafür, dass man Radstrecken aus Fußgängerbreichen der Innenstadt raushält, ist aber in Stuttgart wegen der Kessellage und der Hügel links und rechts nur schwer zu machen, es sei denn, man greift endlich wirklich in die B14 ein und schafft dort Radwege.

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    1. Ausnahmemeinung: ich radle gerne auf der B14. Bei Stau kommt man gut zwischen den Spuren durch, und ohne Stau kommt man sowieso flüssig durch. Ampeln, Kreuzungen und Fußverkehr vermeidet man größtenteils. Exakt das Gegenteil der Tübinger Straße.

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  6. Dass an diesem Wegabschnitt der Hauptradroute für viele Fußgänger es nicht eindeutig ist, wo Fahrbahn und Gehweg ist, liegt sicherlich auch an dem bisherigen Belag im Kreuzungsbereich der Fahrbahnen: der gleiche Belag wie auf dem Gehweg!
    Wäre hier eine deutliche Trennung im Belag, dann wäre es offensichtlicher. Also wird auch der Fahrbahn weniger Beachtung geschenkt und der Fußgänger genießt das kreuz und querlaufen.
    Würde die Fahrbahn deutlicher gekennzeichnet, gäbe es weniger Fußgänger - nicht sofort, aber sicherlich im Laufe der Zeit.

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    1. Habe ich auch erst gedacht, aber auch auf der Fahrradstraße, der Eberhardstraße laufen die Leute auf der Fahrbahn. Sobald keine Autos mehr fahren (oder nur sehr wenige) erobern sich die Fußgänger:innen den Raum auf der Fahrbahn zurück. Das finde ich sehr interessant und eigentlich auch wunderbar. Allerdings geht es zulasten des Radverkehrs. Fußgänger:innen beschweren sich dann über sogenannte rücksichtslose Radler:innen, ohne zu merken, dass sie auf den Verkehrswegen der Radfahrenden gehen. Jetzt denke ich aber auch immer wieder: Es ist ja gut, dass sich Nicht-Motorisierte die gesamte Verkehrsfläche einer Straße sofort zurückerobern, und wir Radler:innen sollten uns nicht aufführen wie Autofahrende und immer "Platz da für uns!" rufen. Aber es ist halt schon auch blöd, wenn man sich als Radler:in nicht nur von Autofahrenden, sondern auch von Fußgänger:innen missachtet fühlt. Aber wahrscheinlich muss ich - müssen wir - damit klarkommen lernen. Eine Lösung weiß ich nämlich für das Phänomen nicht (Außer natürlich die Radfahrenden fußgängerfern führen, aber das geht hier nicht).

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  7. Radfahrer fußgängerfern führen ? Das wird nur dort funktioneren, wo ohnehin keiner hin will. Ansonsten werden Fußgänger diesen Weg auch nutzen.wollen.
    Das Autobahnen weitgehend radfahrer- und fußgängerfrei sind liegt nur daran,daß dort Radfahrer- und Fußgänger konsequent von der Polizei entfernt werden.

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    1. "Das Autobahnen weitgehend radfahrer- und fußgängerfrei sind liegt nur daran,daß dort Radfahrer- und Fußgänger konsequent von der Polizei entfernt werden."

      Und auch dass sie Angst vor den Metallboliden haben.

      Schon im frühsten Alter wird und beigebracht, dass wir Angst vor Autos haben sollten. Straßen seien lebensgefährlich. Wenn wir überfahren werden, dann seien wir selber schuld.

      Ed

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    2. Eltern wollen halt nicht das Risiko eingehen, dass ihre Kinder (ab 10) auf der B14 angefahren oder überfahren werden. Muss man schon verstehen. Dass unser Verkehrssystem völlig falsch und längst unzeitgemäß organisiert ist, ist ja keine Frage.

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  8. Die Antwort auf alle Fragen und Kommentare hier heißt "Niederlande".

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    1. Die Hauptfrage, die wir uns hier aber eigentlich ständig stellen ist: Wie kommen wir da hin, dass wir hier fürs Fahrrad die Niederlande importieren.

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    2. Dazu braucht es aber keine "Radkultur" wie der Titel suggeriert, sondern politischen Willen und dann entsprechend Geld.

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  9. Ein Problem ist, dass die Maßnahmen bei uns wenn überhaupt nur "homöopathisch" erfolgen. Buchstäblich mit der Laubsäge werden Fahrradwegstummelchen eingerichtet, die komplett unfahrbar sind -- und darum (warum auch nicht) als Parkplatz missbraucht werden. Zweitens werden KFZ-Verkehrsverstöße mit läppischen Strafen (bzw. meistens gar nicht sanktioniert). Ich erinnere an die Baumparker in der Möhringerstr., wo jetzt nach monatagelangem Parken im Kreuzungsbereich offensichtlich das "Gewohnheitsrecht" gilt. Drittens muss endlich einmal geklotzt werden. Eindrücklich ist beispielsweise Brüssel (wo die Politiker unsere Zukunft gestalten!!), wo die gesamte Innenstadt "brutalstmöglich" für Radler hergerichtet wurde: Ohne Rücksicht auf KFZ, mit richtigen Betonbarrieren, Pollern, Leuchten, Bremsschwellen, etc., damit die Radstraßen nicht von KFZ benutzt werden können, Kameras zur Überwachung und Sanktionierung -- und siehe da, die KFZ nehmen extremst Rücksicht auf die Radler. Ich bin im letzten Monat viermal auf dem Radweg in der Liststraße angefahren worden, weil es nur einen weißen Strich gibt, der von jedem KFZ überfahren wird. "Ein Poller oder Klemmfixe würden ja die Flüssigkeit des motorisierten Verkehres behindern." Der Klügere (=Radler) gibt nach (ist ja auch weicher als das KFZ).

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    1. Lieber Henry, wenn du so oft auf der Liststraße angefahren wurdest: Hast du wenigstens eine gelbe Karte geschrieben oder an die Verkehrsbehörde? Ist das von der Polizei erfasst worden? Und ja, wir sträuben uns in Deutschland gegen eine massive und effiziente Verkehrsüberwachung, weil eben niemand den Autofahrer:innen das Leben schwer machen will, die Enzscheidungsträger:innen fahren ja alle selber Auto und wollen selber überall durchfahren. Wir sind da irrational. Bei uns ist das Auto eben ein Tabu.

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    2. Liebe Christine,
      ich habe Anzeigen erstattet, und selber eine bekommen, weil das Befahren des Fahrradwegs in der Liststraße angeblich verboten sei (die Stadt Stuttgart kennt auf ihrer amtlichen Karte den Fahrradweg noch nicht .....). Gelbe Karten auch schon mehrfach geschickt, mit marginalem Erfolg . Die Staatsanwaltschaft verfolgt die Fahrerflucht nicht. Es ist ein Witz, dass das Befahren des Höhenparkes mit dem Fahrrad ein vielfaches teurer ist als die körperliche Verletzung eines Radlers auf dem Radweg mit einem SUV.

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  10. Wie bitte? Wobei, einen Fahrradweg gibt es ja an diesem steilen Bergauftück von der Böheimstraße nicht, es ist ein Radfahrstreifen. Und der ist der Stadt natürlich bekannt, sie räumt ihn sogar von Laub, wenn man eine gelbe Karte schickt. Und ich gebe dir Recht, wir Radfahrenden haben - egal was wir machen - immer das Nachsehen. Habe ich auch erlebt. Wir werden nicht gerecht behandelt. Ist halt so in einer Autogesellschaft.

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