26. Dezember 2022

Das Fahrrad ist das Fahrzeug der Freiheit

Der geistige Mensch bevorzugt das Fahrrad, behauptet Tilman Baumgärtl in einem Beitrag für Forschung und Lehre, denn Radeln mache kreativ. Für die Frauen war es allerdings ein regelrechter Emanzipator. 

Das Fahrrad habe zu wichtigen wissenschaftlichen Durchbrüchen beigetragen, schreibt Baumgärtl: "Albert Einstein fiel die Relativitätstheorie beim Radfahren ein, und Albert Hofmann erfuhr die Wirkung des von ihm entwickelten LSD ebenfalls beim Radeln. Autoren wie Ernest Hemingway, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Conan Doyle oder Henry Miller waren zum Teil fanatische Radfahrer, die auch die inspirierende Wirkung des Radfahrens für ihre Kunst hervorgehoben haben.

Ihm sind leider nur Männer eingefallen, denen das Fahrradfahren den Kopf frei gemacht hat für freies Denken und neue Ideen. Für Frauen war und ist vielerorts das Fahrrad allerdings die Freiheit schlechthin. 
Entsprechend riesig war gegen Ende des 19. Jahrhunderts der gesellschaftliche Widerstand. Der Spiegel schreibt: "Ungesund, unweiblich, unmoralisch: Radfahren war für Frauen anfangs verpönt. Diejenigen, die es trotzdem taten, fuhren gesellschaftlichen Zwängen davon. Wie etwa Amelie Rother in Berlin." 

So wie heute andernorts auf der Welt, hielten sich Männer damals für berechtigt und berufen, Rad fahrende Frauen wüst zu beschimpfen, auszulachen oder vom Rad zu reißen. Sie hatten Angst, dass die Frauen ihrer bürgerlichen Frauenrolle (Haushalt, Kinder, Kirche) davonfuhren. In der Tat, in den Großstädten entdeckten die Frauen, dass sie mit dem Fahrrad alleine überall hinkamen, wo sie hinwollten, ohne dass ihre Männer das unbedingt wissen mussten. Deshalb wurde zwischen 1895 und 1900 heftig und böse über radfahrende Frauen diskuiert.

Das Fahrrad war ein Emanzipator. Radfahrende Frauen legten Reifröcke und das Korsett ab, und konnten endlich frei atmen. Und nicht nur das: Sie zogen auch Hosen an (komische weite Pluderhosen, die Bloomers genannt wurden, nach einer US-Frauenrechtlerin), obgleich es auch bald Fahrräder mit nach unten gebogener Stange gab, auf das frau mit Röcken steigen konnte. Aber Röcke flogen eben im Fahrtwind hoch. Sie mussten zu Hosen zugeknöpft werden. 

Die US-Amerikanische Frauenrechtlerin Susan B. Anthony resümierte 1896: „Ich denke, das Fahrrad hat mehr dazu beigetragen, Frauen zu emanzipieren, als irgendetwas auf der Welt. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich eine Frau auf einem Fahrrad vorbeifahren sehe. Es gibt ihr ein Gefühl der Selbständigkeit und Unabhängigkeit in dem Moment, in dem sie es tut.“ (Quelle) Ihr stimmte auch die österreichische Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Rosa Meyer zu: "Das Bicycle hat zur Emanzipation der Frauen aus den höheren Gesellschaftsschichten mehr beigetragen als alle Bestrebungen der Frauenbewegung zusammengenommen." (Quelle

Bis heute ist das Fahrrad für Frauen ein Vehikel zur Emanzipation aus dem einengenden sozialen Korsett der Männer. Wir merken das hier im Westen nicht mehr so deutlich. Allerdings ist unser Radwegenetz immer noch selten für die Bedürfnisse von Frauen ausgelegt, die tendenziell auch bei uns - den Rollenzuschreibungen entsprechend - eher Versorgungswege zurücklegen (Kita, Einkaufen, Großeltern zum Arzt bringen), während Männer eher zur Arbeit radeln und sich über Radschnellrouten freuen. Frauen mit und ohne Kinder wollen auch eher nicht den Konkurrenzkampf mit dem Autoverkehr ausfechten, sondern autoferne Wege, die sich sicher anfühlen und sicher sind. Wer mehr Frauen auf Fahrräder bringen will, muss die kleinteiligen Versorgungswege mit unkomplizierter Radinfrastruktur ausbauen, aber auch Radabstellanlagen in dicht bebauten Wohngebieten bereitstellen, denn die Mobilitätswende entscheidet sich in Wohngebieten

Deutlicher ist der Emanzipationsfaktor in extrem patriarchalisch/religiös geführten Ländern. In Afghanistan bildete sich erst 2011 erstmals ein Radsportteam aus Frauen, die das Tabu brechen wollten, dass Frauen nicht Fahrrad fahren sollen. In Ägypten und in der Türkei (Fancy Women Bike Ride) versammelten sich Frauen auf Fahrrädern, um gegen Diskriminierung zu protestieren und sich neu ins Bild zu setzen. 2013 kam der Spielfilm „Das Mädchen Wadjda“ in die Kinos, gedreht von der saudi-arabischen Autorin und Regisseurin Haifaa al-Mansour. Der Film erzählt die Geschichte eines kleinen Mädchens, das davon träumt, ein Fahrrad zu besitzen und sich auch eines erkämpft. Es war der erste Spielfilm einer weiblichen Regisseurin aus Saudi-Arabien. Damals erlaubte Saudi-Arabien erstmals Frauen, Fahrrad zu fahren, wenn auch nur in Begleitung von Männern. Im Iran wurde Frauen das Radeln in der Öffentlichkeit 2016 ausdrücklich verboten, als Frauen bei einem autofreien Tag mitradeln wollten. Sogleich gründete sich der Hastag (#Iranianwomenlovecycling), unter dem einige Frauen Fotos hochluden, die sie beim Radfahren zeigten, zuletzt im Juni 2020. Damals ließ sich eine Iranerin beim Radeln durch Najafabad filmen, sie trug kein Kopftuch und wurde festgenommen, Männer demonstrierten gegen sie. Der Verein Bikeygees weiß, dass Radfahren auch in Deutschland Freiheit für Frauen bedeutet: Viele geflüchtete Frauen lernen Radfahren und gewinnen dabei einen größeren Aktionsradius (sie können praktisch kostenlos hinfahren, wohin sie wollen) und mehr Selbstvertrauen.

Rad gefahren sind zunächst die Leute aus de oberen Schichten, Männer und Frauen. Fahrräder waren teuer. Erst vor 120 Jahren wurden sie serienmäßig hergestellt und waren erschwinglich auch für Arbeiterinnen und Arbeiter. Schon um 1900 herum gründeten sich Arbeiterradvereine, und das Fahrrad war auch für die politische Agitation nützlich, man kam damit mit Flugblättern weiter durch die Stadt als zu Fuß. Wanderradfahrten brachten außerdem verschiedene Ortsgruppen zusammen. Das Radfahren war wie heute Social Media: Es brachte Menschen bestimmter politischer Interessen zusammen, und meistens ging es um Freiheit. Mit dem Fahrrad begann die individuelle Mobilität mit eigenem Fahrzeug. Weil es aber als Alltagsfahrzeug mit der Arbeiterschaft und gewerkschaftlicher oder sozialdemokratischer Agitation verknüpft war, gilt Radfahren (abgesehen vom Radsport) bis heute als links und oppositionell zum Kapitalismus oder eben unserer Autowelt. Und entsprechend hass- oder angsterfüllt sind die Vertdeidiger:innen des als normal angesehenen Autoverkehrs. 

Die reichen Menschen fanden dann ja auch ein neues Vehikel, das zugleich ihren Wohlstand öffentlich sichtbar machte: das Auto. Seitdem ist es für viele Menschen wichtig, sich ebenfalls ein Auto leisten und damit den eigenen Wohlstand zur Schau stellen zu können. Wer sich kein Auto leisten konnte, musste Fahrrad fahren. Bis heute schwingt die Unterstellung bei Diskussionen mit, Radfahrende könnten sich kein Auto leisten, verdienten kein Geld und trügen nichts zum gesellschaftlichen Wohlstand bei (Zahlt erst mal Steuern!). Tatsächlich sind es aber heute in unseren Städten weniger die armen Student:innen (und schon gar nicht Geringverdiener:innen), die radeln, als vielmehr die Leute, die sich fürs Radfahren entscheiden, weil sie vom Auto loskommen wollen. In Stadtvierteln mit einer bürgerlichen und einkommenstärkeren Einwohnerschaft wird mehr geradelt als in Stadtbezirken mit einkommensschwächerer Bevölkerung, obgleich gerade für sie das eigene Auto unverhältnismäßig teuer ist. 

Radfahren entwickelt sich in den Städten (die nicht vor 30 Jahren angefangen haben, eine gute Radinfrastruktur anzulegen) wieder zu einem Lifestyle. Man  fährt Fahrrad, weil man es will, nicht weil man muss. E-Räder und E-Lastenräder können richtig teuer sein, und man sieht es ihnen auch an. Sie werden zum neuen Statussymbol der Modernen und Gebildeten. Eine 20-km-Regenradfahrt trägt einem Bewunderung bei Kolleg:innen und Freund:innen ein und stärkt das Selbstbewusstsein, man gehört zu einer immer noch exklusiven, aber gar nicht mehr so kleinen Gruppe der Guten und Vernünftigen, und dem Gewissen tut es auch gut, weil man nichts zur Klimakatastrophe und Umweltverschmutzung beiträgt. 

Und immer noch hat Radfahren etwas mit Freiheit zu tun. Das Fahrrad befreit uns Nutzer:innen von der Abhängigkeit vom Auto und verschont uns mit Staus, in denen Autofahrende feststecken. Wir bewegen uns unabhängiger durch die Stadt als Menschen in Autos oder solche, die Busse und Bahnen benutzen. Und wir wissen das meistens auch und genießen es. Ich bin allerdings beim Radfahren in der Stadt so auf den Verkehr konzentriert, dass ich keine Zeit habe für den freien Flug der Gedanken. Ideen für einen Krimi sind mir auf dem Fahrrad noch nie gekommen. Sehr wohl aber befreit die Radfahrt von Ärger und macht den Kopf frei. 

Radfahren ist verblüffend einfach, stellte ein Geo-Autor einmal fest. Es ist Unabhängigkeit pur. Zitat: "Einer der größten Vorteile des Radfahrens ist so offensichtlich, dass es fast peinlich ist, ihn anzuführen: Ich fahre direkt von der Haustür los und muss nicht erst rekonstruieren, wo ich gestern nach nervenzehrendem Im-Kreis-Fahren einen Parkplatz gefunden habe, der - genau besehen - etwas zu eng war. Wenn ich da bin, wo ich hinwollte, stelle ich mein Rad ab. Fertig. Autofahrer dagegen zahlen Monat für Monat gutes Geld für einen Stellplatz. Oder drehen morgens und abends ihre Runden."

3 Kommentare:

  1. Aber wenn die UNO sagt, dass Klimakrise und Diskriminierung dieselben kapitalistischen Ursachen haben, dann wird doch sicher endlich was passieren, oder?

    https://www.theguardian.com/world/2022/dec/27/reliance-on-high-tech-solutions-to-climate-crisis-perpetuates-racism-says-un-official

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  2. An dieser Stelle würde ich gerne Werbung für eine Spende an World Bicycle Relief machen. Die gespendeten Fahrräder kommen überwiegend Frauen zugute. Begleitende wissenschaftliche Studien belegen den Zusammenhang zwischen Mobilität und Freiheit. Thematisch passt das ja genau...
    https://worldbicyclerelief.org/

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  3. Ja, Radfahren gilt als "links". Das ist in den Niederlanden aber nicht so, siehe:
    Das Fahrrad und die Niederlande
    https://www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/nl-wissen/freizeit/fahrrad/index.html
    und
    Konsumenten als nationale Systembauer: Deutsche und niederländische Radfahrerverbände im Vergleich, 1900–1940
    https://zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/2017-3/Ebert_2011.pdf

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