28. Dezember 2022

Wo gucken Radfahrende eigentlich hin?

Und welche Wahrnehmungsfehler spielen bei Fahrradunfällen eine Rolle? 

Das wollte eine Studie von Human-Factors-Consult-GmbH wissen, die bei bei der BAST (Bundesanstalt für Straßenwesen) online erschienen ist. Ziel war es, die visuelle und akusti­sche Wahrnehmung der Verkehrsumwelt von Rad­fahrenden zu beschreiben, und Wahrnehmungsfehler und deren Ursachen zu identifizieren. Die Meta-Studie wertet dafür bereits  vorliegende Studien zu einzelnen Themenfeldern aus, befragte aber auch zusätzlich Radfahrende zu bestimmten Verkehrssituationen. 

Deutlich wird, dass Radfahrende viel mehr beachten müssen, als Autofahrende, dass sie ihr Gehör ebenfalls intensiv einsetzen und dass sie außerdem den Straßenbelag im Auge haben und ihr Rad physisch ausbalancieren müssen. Dabei kommen Fehler vor. Technisch klingt das dann so: Fehler beim Informationszugang, Fehler bei der Informationsaufnahme, Fehler bei der Bewertung und Planungsfehler.

Also, man sieht nicht alles, was wichtig ist; man sieht es, interpretiert es aber falsch oder ist abgelenkt, man hat keinen Plan, was man tun muss, oder man sieht schlecht. Die Studie wollte wissen, welche Informationen Radfahrende im Straßenverkehr aufnehmen - visuell, akustisch und taktil - und welche nicht, und welche Faktoren die Wahrnehmungen von Radfahrenden beeinträchtigen und mit welchen Konsequenzen. 

Radfahren ist anders als Autofahren. Während Autofahrende und Radfahrende gleichermaßen angeben, dass sie auf Ampeln, Straßen und Straßennamen achten und dass Ein- und Abbiegen erhöhte Aufmerksamkeit fordert, kommen bei Radfahrenden noch ein paar Komponenten hinzu: Sie suchen nach alternativen Wegen, die ihnen sicherer vorkommen (Gehwege und Gehwegecken an Kreuzungen), sie beobachten die eigene Position des Rades auf der Straße und das Geschehen links (überholende Autos) und rechts (Türen geparkter Autos), und sie nehmen Blickkontakt zu Autofahrenden in einmündenden Straßen auf und horchen auf deren Motorengeräusche. Außerdem vermitteln Lenker, Sattel und Pedale Informationen über die Bodenbeschaffenheit und Stabilität des Rads, was zur Vermeidung von Stürzen wichtig ist. (Stürze sind eine der häufigsten Unfallursachen von Radfahrenden, tauchen aber meistens nicht in Statistiken auf, weil sie glimpflich abgehen.) Die Rolle von taktilen Wahrnehmungen von Radfahrenden ist allerdings bisher noch nicht untersucht worden. Besser untersucht ist fehlerhafte Wahrnehmung (nicht sehen, zu spät sehen, nicht gehört haben). Bei einer Befragung berichten 37 % der Radler:innen, ihren Unfallgegner nicht gesehen zu haben, offenbar, weil sie sich nicht umgeschaut hatten. Auch Radfahrende richten ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Bereiche, wo sie Autos erwarten und (wie Autofahrende auch) weniger auf Fußgänger:innen oder andere Radler:innen. 

Exkurs über das Sehen und Sehfehler beim Autofahren: Wohin Autofahrende gucken, ist hier auf Seite 8 ff beschrieben, auch das, woran sie sich erinnern, wenn sie etwas fixiert oder eben nicht fixiert haben. Je mehr sich Autofahrende mit den Bordmitteln (Tacho, Spiegel, Navi, Radio, Telefon etc.) befassen, desto größer wird die Unfallwahrscheinlichkeit. Vor allem Fahranfänger:innen haben im ersten Jahr Schwierigkeiten, alles Relevante wahrzunehmen, gucken mehr im Nahbereich und befassen sich zudem häufiger mit Handys. 

Bei Autofahrenden ist das Phänomen bekannt, das lautet: "looked-but-failed-to-see" (Geschaut, aber nicht gesehen, hier genau beschrieben auf Seite 10). Dabei handelt es sich nicht so sehr um das, was in der Presse immer als "übersehen" bezeichnet wird, sondern um ein genau dorthin Schauen, aber nicht sehen, nicht realisieren. Das passiert vor allen an Kreuzungen und vornehmlich tagsüber und besonders dann, wenn man Beifahrer:innen hat. Ob es das bei Radfahrenden auch gibt, ist nicht untersucht. 

Das Gucken-aber-nicht-sehen ist die Folge von Schaltfehlern im Gehirn. Man lässt sich geistig ablenken, z.B. von einem Telefongespräch (per Freisprechanlage), ist also nicht fokussiert auf das Geschehen auf der Straße. Es hat aber auch etwas mit einer falschen Annahme zu tun, etwa, wenn man zum Gehweg guckt, die A-Säule aber einen Gehwegbereich verdeckt und man wie selbstverständlich annimmt, dass sich hinter der A-Säule auf dem Gehweg nichts befinden könne. Auch kann etwas auf der Straßeso so sehr unsere Aufmerksamkeit in Bann ziehen, dass wir das nicht mehr sehen, was unmittelbar daneben passiert, etwa, wenn wir an einer Unfallstelle vorbeifahren. Außerdem ist der Mensch erstaunlich blind für optische Veränderungen (siehe hier S.21). Werden auf einem Foto zwischen erstem und zweiten Blick darauf die Köpfe der Personen vertauscht, bemerkt man es oftmals nicht, das Bild erscheint gleich. Hat man also gerade auf die Fahrbahn geschaut, schaut danach auf den Navi und guckt wieder nach vorn und steht da jetzt ein Fußgänger, dann sieht man ihn nicht oder nur verzögert. Ich vermute, ein auf dem Radstreifen dem Autofahrer von ferne entgegenkommender Radfahrer ist für den Autofahrer, der nach links über den Radstreifen abbiegen will, praktisch ein Standbild. Er wird deshalb nach diversen Autofahrerblicken in den Rückspiegel, auf Schilder, Bodenmarkierungen etc. beim nach vorne Blicken nicht bemerkt, obgleich er bereits da ist. Da unsere Augen darauf getrimmt sind, auf Bewegung zu reagieren, sehen wir eine Bewegung dagegen sehr schnell, also den Radler oder Fußgänger, der sich quer zu uns bewegt, oder Pedalreflektoren, die sich auf und ab bewegen.  

Zurück zum Radverkehr: Alleinunfälle haben oft etwas mit der baulichen Gestaltung des Verkehrsraums zu tun. Bei einer schwedischen Fragebogenstudie kam heraus, dass 51 % der Radler:innen ungenügend geräumte Radwege, Schnee, Eis, nasse Blätter, Kies als Unfallursache angaben und 18 % Mängel der Fahrbahnoerfläche wie Löcher oder Unebenheiten. In 19  % der Fälle kollidierte der Radler mit dem Bordstein, in 7 % mit was anderem. Gefragt wurde allerdings nicht, ob die Radler:innen die Gefahr überhaupt wahrnehmen konnten oder nur nicht beachtet hatten. 

In der Nacht sieht man schlechter - was für Autofahrende und Radfahrende gleichermaßen gilt. Wie gut man Radfahrende mit welcher Beleuchtung oder Ausstattung mit Reflektoren sehen kann, ist untersucht, nicht hingegen, was Radfahrende bei Nacht eigentlich sehen oder nicht sehen können. Nächtliche Unfälle von Radfahrenden werden bisher darauf zurückgeführt, dass sie selbst schlecht zu sehen waren (kein Licht, dunkle Kleidung). Ob sie selbst aber irgendwas nur schlecht sehen konnten (Autos ihn blendeten, gigantische Rücklichtstreifen sein Sichtfeld überblendeten etc.), hat bisher niemanden interessiert. 

Musik hören und Handy in der Hand halten, lenkt ab. Und das schränkt die Wahrnehmung erheblich ein. In einer Studie gaben 12 bis 27 % ältere Radfahrender an, abgelenkt gewesen zu sein, als sich der Unfall ereignete. Eine andere Studie fand heraus, dass jeder vierte Radler mit Nebenaufgaben beschäftigt war, zur Hälfte mit einer Unterhaltung mit einem anderen Radler. Abgelenkte Radler:innen zwangen andere Verkehrsteilnehmer:innen signifikant häufiger, ihnen auszuweichen. Es ist hingegen unbekannt, ob bei Radfahrenden Müdigkeit auch so eine große Rolle spielt wie bei Autofahrenden. Radfahren erfrischt ja immerhin die Sinne, man ist aufmerksamer. 

Wo schauen Radfahrende hin? Bei Einmündungen orientieren sich Radfahrende weniger an Bordsteinen und Fahrbahnmarkierungen, dafür aber mehr an parkenden Autos. Eine Studie behauptet, von acht bis zehn gezielten Blicken, richteten sich nur zwei bis vier auf die Dinge im Straßenraum, die wichtig seien (was auch immer der Autor damit meinte). Auf jeden Fall werden von Radfahrenden mehr Bereiche oder Punkte in kürzerer Zeit fixiert als von Autofahrenden. Eine andere Untersuchung von Radler:innen in einem Parcour zeigte, dass Radfahrende mehr einzelne Punkte fixieren (3% vor dem Rad, 41 % auf dem Weg, 40 % das Ziel, 10 % externe Bereiche). Es gibt mehr Hinguckpunkte im Nahbereich als bei Autofahrenden. Da es sich hier um einen Parcour handelte, ist das nur sehr bedingt auf den Straßenverkehr übertragbar. Eine weitere Untersuchung des Blickverhaltens fand heraus, dass bei schlechten (engen, kurvigen, löchrigen etc.) Radwegen, die Radfahrenden dem Radweg mehr Aufmerksamkeit schenken als bei guten Radwegen. 

Schließlich analysiert die BAST-Studie 1.232 Fälle von Fahrradunfällen aufgrund von aussagekräftigen Daten der Unfallaufnahme und stellt fest, dass in fast 28 % der Fälle Wahrnehmungsfehler verantwortlich waren, in 5,4 % geschah der Fehler, weil man etwas nicht sehen konnte (weil Gebüsch, ein Auto oder was anderes die Gefahr verdeckte, oder die Sonne blendete etc.), in 22,4 % der Fälle, weil man das Gesehene nicht realisiert hatte, nicht auf einen anderen Verkehrsteilnehmer achtete oder die Straßenbahn zu spät sah, um noch zu bremsen etc. Fragt man die Leute, geben sie zu 38 % mangelnde Aufmerksamkeit und Übersehen als Unfallgründe an, nur 13 % sagen, dass sie gerade woanders hin geschaut hatten. In nur einem einzigen Fall konnten die Wissenschaftler:innen bei Radfahrenden den Looked-but-failend-to-see-Fehler nachweisen. Allerdings gründen sich diese Zahlen auf die Unfallbeschreibungen, die teils beschönigend oder entschuldigend sein können. 

Bei den 28 % identifizierten Wahrnehmungsfehlern wurden in neun von zehn Fällen Autos oder Motorräder oder Radfahrende und Fußgänger:innen nicht richtig wahrgenommen. Beim Rest handelte es sich m Gegenstände wie Parkuhren, Haltestellen, Laternenmasten, Poller, Leitpfähle oder Mauern. Aus den Unfalldaten ist jedoch nicht herleitbar, dass beispielsweise Fußgänger (schmal, dunkel gekleidet) schlechter gesehen oder öfter übersehen wurden als Autos. Auch scheinen bei Dunkelheit nicht mehr Wahrnehmungsfehler vorzukommen als am Tag, genauso wenig wie bei Regen, Hagel und Schneefall. Vielleicht liegt es dran, dass Autos nachts wegen der Scheinwerfer besser gesehen werden. Wenn ich von mir ausgehe, dann würde ich allerdings behaupten, dass Radfahrende nachts aufmerksamer sind, weil sie wissen, dass die Sicht eingeschränkt ist. Im Schlossgarten durchbohre ich mit Blicken die Dunkelheit regelrecht auf der Suche nach den finsteren Gestalten der Fußgänger:innen, die ich tagsüber nicht fokussiere. 

Interessanterweise hat man bisher nicht untersucht, welchen Einfluss Drogen und Medikamente auf die Fahrtüchtigkeit von Radfahrenden haben. In den Unfallberichten wird, je höher der gemessene Promillewert war, desto seltener ein Wahrnehmungsfehler erwähnt, was daran liegen mag, dass die Polizei in Unfallbeschreibungen nur selten von mehr als einem Fehler oder Fehlverhalten berichtet. Da nur in 1,8 % der Unfälle klar war, dass die Radler:innen Kopfhörer trugen, telefonierten oder am Gerät hantierten, kann man nicht sagen, ob das zu mehr Wahrnehmungsausfällen führte oder nicht. Immerhin ist klar, dass Radlerunfälle wegen Medienablenkung sehr selten sind. Auch Müdigkeit spielt keine Rolle. 

Schließlich untersuchte die Studie (S.38 folgende), wo Radfahrende hingucken und hinhören. Die Grafiken (rechts) basieren auf einer ausführlichen Befragung von Radfahrenden zu bestimmten Situationen. Das Bild rechts zeigt: Zwischen geparkten Autos, stehen Leute. Zunächst beobachten Radfahrende geparkte Autos, und zwar nach eigenen Aussagen, ziemlich dezidiert (öffnet sich eine Tür, sitzt einer drin, wird ein Auto gleich losfahren), dann sehen sie die Fußgängergruppe. Die Grafik zeigt, dass Radfahrende, wenn sie sich der Situation nähern, ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf die Leute richten, zugleich aber auch nach hinten lauschen, ob ein Auto kommt, für den Fall, dass die Fußgänger auf die Straße treten und sie als Radfahrer ausweichen müssen. Ist man fast auf der Höhe der Fußgänger, werden vor allem die fixiert, ist man auf ihrer Höhe, werden sie und der Weg vor einem verstärkt kontrolliert, zugleich lauscht man immer noch, ob von hinten ein Auto kommt. Der Gegenverkehr verschwindet dagegen fast völlig aus der Beachtung. In dieser Situation stellen sich Radfahrende übrigens auf Ausweichen ein, falls die Leute auf die Straße treten. Wenn sie dann den rückwärtigen Verkehr (Radler:innen, Autos) nicht im Fokus haben, kann es zu einem Unfall kommen. 

Und hier eine Ausfahrt. Radfahrende berichteten, dass sie hier ihr Gehör einsetzen, um herauszufinden, ob der Motor des Autos läuft, es also losfahren könnte. Die akustischen Anstrengungen sieht man in der unteren Reihe des Bildes. Ansonsten ist die optische Aufmerksamkeit ähnlich strukturiert, zunächst auf die geparkten Autos gerichtet, dann auf das Auto, das da steht, es wird intensiv im Auge behalten, bis man vorbei ist. Radfahrende bewerten diese Situation in der Studie als ziemlich anspruchsvoll. Ein Ausweichen wird hier nicht vorbereitet, weil man nicht weiß, wohin der Autofahrer will. Auf den rückwärtigen Verkehr achtet man gar nicht mehr. Wenn man vor dem Auto ist, herrscht Stress (Zeitdruck), weil man ja nicht ausweichen kann, wenn es losfährt. 

Und richtig komplex für Auge und Ohren wird es, wenn man sich auf einer Vorrangstraße einer Kreuzung ohne Ampeln nähert und von rechts ein Auto herankommt. Die Grafik zeigt, worauf Radfahrene alles achten, wenn sie an die Kreuzung kommen, sie halten viele Stellen auch auf der Gegenfahrbahn im Auge. Sobald das Auto gesehen werden kann, das von rechts kommt, wird vor allem das intensiv im Auge behalten, zugleich aber auch die linke Ecke, wo auch ein Auto kommen könnte. Radfahrende kontrollieren das Vorfahrt-achten-Schild für den Autofahrer und das Auto selbst. Viele suchen Blickkontakt mit dem Menschen im Auto. Auch das Gehör beobachtet die Kreuzung, und zwar fortährend, während es sich zugleich immer mehr in Richtung des Autos von rechts orientiert (jault der Motor auf, fährt es gleich los, befindet sich der Motor im Standleerlauf etc.). Auch hier wird Ausweichen eher nicht in Erwägung gezogen, wir Radfahrenden müssen uns darauf verlassen, dass der Autofahrer die Verkehrsregeln kennt. 

Unterbleibt bei solchen Situationen eine oder mehrere Fokussierungen, dann kann es zu Unfällen kommen. Etwa, wenn man die Fußgänger:innen nicht gesehen hat und einer hervortritt, wenn man nicht gehört hat, dass der Motor lief und das Auto losfährt, das man einem auf dem Radweg geparkten Auto ausweicht, aber nicht auf den Verkehr links hinter einem gelauscht hat. Je komplexer eine Situation ist und auf je mehr man achten muss, desto größer wird die Gefahr, ein Element zu vernachlässigen, weil man auf andere konzentriert ist. Da Radstrecken, anders als Autostrecken, in Gestalt und Zustand immer wieder wechseln (verschiedene Ampelsysteme, Radweg, Radstreifen, Gehweg, Fahrbahn, Gullideckel) kommt für Radfahrende noch ein Element hinzu, das Autofahrende vernachlässigen können. Wir teilen unsere Aufmerksamkeit zwischen Fahrbahn (Schlaglöcher, Busspurrillen), der Verkehrssituation (was macht der andere als nächstes?), der fahrradspezifischen Gefahreneinschätzung (wenn mich das Auto anfährt, habe ich keinen Blechschaden, sondern einen Knochenbruch) und der Frage, wie und wo geht es jetzt für mich weiter? 

Exkurs zum Autofahren: Die meisten Autofahrenden achten nicht intensiv auf das, was sich am Straßenrand abspielt, weder auf Fußgängergruppen zwischen geparkten Autos noch auf ein Auto, das einer Einfahrt oder aus einer Vorfahrt-achten-Straße von rechts kommt, sie gehen selbstverständlich davon aus, dass nichts ihrer Fahrt in die Quere kommt. Und wenn doch, dann schützt ihr sie Blech vor Verletzungen. Das reduziert den Aufmerksamkeitsstress enorm. 

Die Erkenntnisse der Studie sind jetzt für uns Radfahrende keine Überraschung. Wir verhalten uns alle ähnlich und versuchen, Gefahren  einzuordnen und eine Reaktion vorzubereiten. Wobei uns - genauso wie den Proband:innen der Studie - vieles nicht bewusst ist, weil es automatisch abläuft. Erst auf Nachfragen berichteten die Testteilnehmenden davon, dass sie automatisch auf die Bordsteinnähe achteten, Bodenunebenheiten auswichen und die Balance hielten. Auch erst auf Nachfragen kam heraus, dass viele in solchen Situationen mit der Hand an der Bremse radelten. Und weil die meisten Radfahrenden es bewusst vermeiden, runterzubremsen (sie müssten dann wieder antreten), entsteht ein gewisser Stress, weil man nicht weiß, ob man noch reagieren kann, was die Proband:innen einräumten. Geht es in solchen Situationen ums Ausweichen, gaben viele Proband:innen zu, dass sie zwar nach hinten horchen, ob ein Auto fährt, aber wenn sie tatsächlich ausweichen müssen, die Zeit für zu kurz halten, sich nach hinten umzuschauen, wo das Auto ist (ein Grund, warum für Autos ein Überholabstand von 1,5 Meter unbedingt eingehalten werden muss). Besonders riskant wird das, wenn etwas den Radstreifen versperrt, Radfahrende im Schwung des Rollens auf die Autofahrbahn ausweichen und wenn Autofahrende damit nicht rechnen (da habe ich schon grenzwertige Situationen gesehen). 

Es erstaunt nicht, dass von unseren Sinnen um so mehr abverlangt wird, je komplexer die Verkehrssituation ist. Die befragten Radler:innen gaben an, dass sie eher ausweichen, wenn es eine ruhige Straße mit wenig Verkehr ist, bei viel Verkehr eher abbremsen, Fußgänger:innen werde generell ausgewichen, bei Autos werde eher abgebremst. Wenn möglich, werde die Geschwindigkeit aber nicht reduziert, um Kraft zu sparen. Das Ausweichen wurde als anspruchsvoller bewertet, weil man den Verkehr hinter sich beachten müsse. Ich denke, bei Radfahrenden spielt das Gehör eine viel größere Rolle, als uns bewusst ist. Das Gehör ist allerdings ungenauer als das Sehen. Einige Radfahrenden gaben aber zu, dass sie sich beim nachfolgenden Verkehr vielleicht sogar zu sehr aufs Gehör verlasse und sich nicht mehr umgucken. Man hört ja den Motor, man hört ihm sogar die Ungeduld oder Geduld des Fahrers oder sein/ihr fahrerisches Können an. (E-Autos oder E-Mopeds werden von uns eine erhebliche Umstellung verlangen.) Ich weiß auch von mir, dass ich den Freilauf oder Radgeräusche von Fahrrädern hinter mir höre. 

Da die Stichprobe klein war, und automatisierte Prozesse kaum ausgesprochen werden, lassen sich nur begrenzt allgemeine Rückschlüsse ziehen, so die Macher der Studie. Aber immerhin deckt sich das mit meinen eigenen Beobachtungen an mir selber und kommt mir pausibel vor. Eine große Überraschung gab es ja dabei auch nicht. Mir ist allerdings klar geworden, dass wir Radfahrende mehr Gefahren mit erhöhter Aufmerksamkeit abschätzen müssen als Autofahrende, weil wir mit unserem ungeschützten Körper für die Fehler einstehen müssen, die wir bei der Abschätzung einer Situation machen. 


10 Kommentare:

  1. Für Stuttgart und etliche andere Städte kommen noch Gleiskörper als Unfallursache bei den "AlleinUnfällen" hinzu.

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    1. Ja, das ist richtig. Offenbar war das in den Gegenden, auf die sich die Studien beziehen, kein Thema. In der Tat wird die Verkehrssituation für Radfahrende noch komplizierter, wenn sie ihre Aufmerksamkeit zwischen geparkten Autos, überholenden Autos, Fußgänger:innen am Rand und den Gleisen teilen müssen.

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  2. Zum Hörsinn: "Nichts hören" -> "Man kann fahren" ist ein Fehler. Nur "Etwas hören" -> " Lage per Sicht überprüfen und/oder Bremsen" ist richtig.
    Bei Autos ist es ein Komfortmerkmal, die Insassen vor dem Lärm des eigenen Fahrzeugs zu schützen. Dementsprechend wenig ( in der Regel nur Hupen und Martinhörner) bekommen Autofahrer akustisch von ihrer Umgebung mit. Obwohl Sie ihre Umgebung auch dank Sichtbehinderungen durch die Karosserie schlechter sehen können als Fußgänger und Radfahrer. Trotzdem sind sie die Ersten , die das Tragen eines Kopfhörers als Sicherheitsrisiko darstellen.

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  3. Eigentlich ist der innerstädtische Verkehr ja ein "Random Hindernis Feld" und man weiß, dass der Mensch aufgrund der Evolution maximal bis 20 km/h reagieren kann (ein junger flinker Jäger...)

    Man glaubt nun, dass man durch "Regeln" diese Randomness komplett ausschalten kann und das Ganze dadurch zu einem deterministischen System wird. Das wird aber nie passieren (Bayes lässt grüssen), die vielen Abweichungen vom Determinismus werden "Unfälle" genannt.

    Ich finde, man müsste das System Verkehr mal völlig neu denken. Die erste Erkenntnis wäre vermutlich, dass ein menschlicher Hürdenläufer, vor dem die Hürden zufällig auftauchen, schon bei 10-20 km/h versagen muss.

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    1. Sorry, Impressum vergessen, Stefan, Fürstenfeldbruck, Bayern

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    2. Interessante Idee. Völlig neu denken finde ich faszinierend. Wie könnte man das tun? Abgesehen davon, dass man - wie ja jetzt viele fordern - den Verkehr vom Menschen und der Schrittgeschwindigkeit her denke. Wohei die Verkehrsentwicklung ja dahin ging, dass der Mensch immer schneller sein wollte als er zu Fuß gehen kann, bis hin zum Flug mit Überschallgeschwindigkeit. Nächstes Ziel, Lichtgeschwindigkeit. Bei hohem Tempo sind autonome Fahrzeuge den von Menschen gelenkten überlegen. Aber so ganz erscheint mir das noch kein wirklich neuer Denkansatz zu sein.

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    3. Werde mal weiter darüber nachdenken. Danke, Stefan.

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    4. Hallo Christine, für mich ist der innerstädtische Verkehr so eine Art "Minenfeld", meine Aufgabe ist es, den Minen auszuweichen. Die Behörden zählen aber nur die tatsächlich explodierten Minen, nur darauf beruhen all ihre Entscheidungen. Die (noch) nicht explodierten Minen betrachten sie als ungefährlich, bzw. nicht existent.

      Das ist eine sträfliche "a posteriori"-Betrachtung des Geschehens. Was wir bei der Verkehrsplanung bräuchten, wäre eine "a priori"-Minenräumtruppe, die die Unfallwahrscheinlichkeiten betrachtet, nicht die Unfallhäufigkeiten.

      Das ist aber mit Denken und evtl. mit Rechnerei verbunden, daher ggf. anstrengend :-)

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    5. Schon wieder vergessen: Stefan, Fürstenfeldbruck, Bayern

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  4. Jörg
    Das mit dem Hingucken und Aufnehmen ist schon faszinierend. So sind es "Magier" die Aufmerksamkeit auf ihre eine Hand lenken und mit der anderen den Trick ausführen.
    Daraus kam man ablesen, dass den Menschen geholfen werden muss das Wesentliche für die Sicherheit zu erkennen. Guter Radweg, Sichtbeziehungen, klare Linienführung und so weiter.
    Es wird oben eine Situation beschrieben Auto aus der Nebenstraße. Das ist der Grund, dass ich so früh aufstehe um deutlich vor 8 Uhr im Geschäft an zu kommen. Zu der Zeit wo die Schüler und viele andere unterwegs sind, kann ich nicht auf die vielen Autos aus Nebenstraßen achten. Ich muss hoffen, dass sich alle an die Regeln halten. Oder ich es rechtzeitig merke wenn es jemand nicht tut. Oder ich eben nicht an der blöden Stelle bin wo man abgeschossen wird. Dennoch haben mich 2 Autofahrer die vorher zum Vorfahrt gewähren standen beim weiter fahren mit dem Stoßfänger an meinen Hinterrad erwischt. Ihre Wahrnehmung hat mich, obwohl ich genau vor dem Auto war, als sie das Gaspedal drückten, unsichtbar gemacht.

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