7. Dezember 2013

Das Auto stammt vom Fahrrad ab

Und Stuttgart war einst Pionierstadt des Radfahrens. Das erklärt mir Markus Speidel vom Stadtmuseum Stuttgart. Ich habe ihn im Tagblattturm im Stockwerk 11, Kulturamt, Planungsstab Stadtmuseum besucht.

In Stuttgart gab es nämlich einen Turnlehrer, Johann Friedrich Trefz, der um 1869 ein Velociped baute. Und eines davon gibt es sogar noch, Markus Speidel hat es im Deutschen Museum in München gefunden. Dort steht es momentan im Depot und wartet darauf, herausgeholt und in Stuttgart im künftigen Stadtmuseum ausgestellt zu werden. Ein Foto durfte ich vom Fotos dieses Trefz-Rads nicht machen, aber eine Skizze habe ich gemacht.

Es hat Kurbeln am Vorderrad und ist der Vorläufer der Hochräder mit dem riesengroßen Vorderrad, die wir als Urform der Räder kennen. Denn, wenn man die Kurbel an der Nabe des Vorderrads hat, kommt man natürlich mit einem Tritt weiter, wenn das Rad größer ist.  Trefz hat diese Radform übrigens nicht erfunden, sie stammt aus Frankreich, vermutlich von Pierre Michaux (1861). 

Aber Friedrich Trefz hat wohl das Fahrrad in Stuttgart eingeführt und in seiner Turnhalle in der Böblinger Straße vermutlich auch Frauen im Radfahren unterrichtet. 

Er hat übrigens auch 1870 ein eignes Fahrrad zum Patent angemeldet, das die Kurbel, also die Pedale an der Stelle hat, wo wir sie heute haben. Zum Hinterrad gingen Stangen, die die Kraft auf die Nabe übertragen sollten. Trefz hat das Patent allerdings wieder zurückgezogen. Warum, ist nicht bekannt. Seine Patentzeichnung unterscheidet sich von einem ähnlichen französischen Patent wie mir scheint dadurch,  dass beim französischen Patent die Pedale am Vorderrad sind. 

Schon damals wurden Radvereine gegründet (nur für Männer), und es entstand die Erste deutsche Velocipedfabrik, wo heute das Haus der Geschichte steht. Doch die Radbewegung verschwand fast sofort wieder, und zwar mit dem deutsch-französischen Krieg 1870/71. Vermutlich galt das Radfahren den Deutschen in den ersten Jahren danach als zu französisch. Außerdem kamen damals gerade Rollschuhe in Mode. Und Trefz ging nach Schwäbisch Gmünd. 

Ende der 1880er Jahre ging es mit dem Radfahren dann wieder richtig los, und Stuttgart war ganz mit vorn dabei. Es wurden eifrig Fahrradvereine gegründet, hauptsächlich von Industriellen, die den Markt erkannten, es wurden Velodrome gebaut, damit Männer, aber auch Frauen das Radfahren auf Rundbahnen erst einmal üben konnten.

Für Frauen war diese verwegene Übung auch ein Element ihrer Emanzipation. Hier ist ein Bild des Stuttgarter Fahrradsalons für Frauen, das Braunbeck-Velodrom, im heutigen Haus der Wirtschaft. Da Frauen beim Radeln nicht Röcke, sondern Hosen trugen, kann man hier nur beim Zeitunglesen im Salon zeigen. 

1881 wurde in Stuttgart der Erste deutsche Radverein gegründet, und im im Hotel Silber in Stuttgart fand sich die Motorradvereinigung zusammen, aus der später der ADAC hervorging. 

Und wieso stammt das Auto nun vom Fahrrad ab und nicht von der Kutsche?
Das Benz'sche Auto, erklärt mir Speidel, geht aufs Triciclette zurück, ist also eigentlich ein Dreirad mit Motor. Die Feinmechanik stammte vom Fahrrad. Deshalb stammt das Auto eigentlich nicht von der Kutsche ab, sondern vom Fahrrad. Als die ersten motorisierten Mehr-als-Zweiräder auf den Straßen fuhren, konnte man auch noch Wettrennen zwischen Rad und Auto veranstalten, Muskelkraft gegen Motor, und es war ungewiss, wer gewinnen würde. 

In den 1890er Jahren begann dann die große Diskussion: Wem gehört die Straße? Man versuchte eine Ordnung au finden. Darauf geht beispielsweise zurück, dass Radfahrer auf der rechten Straßenseite, also am Rand zu fahren haben. Wegen der schlechten Bremsen gab es in Stuttgart sogar zeitweilig ein Verbot für steile Strecken, das aber nicht zu halten war, obwohl die Stadt damals noch nicht so wie heute die Hänge hinauf reichte.

1894 wurde dann ein komplettes Fahrradverbot für Stuttgart diskutiert. Die Fahrradvereine schlossen sich zusammen, um das zu verhindern. Allen voran die Arbeiterradfahrer. Sie waren die Sportgruppe der Sozialdemokraten und fuhren beispielsweise mit dem Rad auf die Dörfer, um Flugblätter zu verteilen. Stuttgart war nach Hamburg die Stadt mit der größten Gruppe von in Vereinen zusammengeschlossenen Radfahrern. Eine echte Radpionierstadt. 

Um diese Zeit wurden übrigens auch Führerscheine für Radfahrer eingeführt, die Radfahrkaten. 

Markus Speidel erzählt mir von einer weiteren öffentlichen Diskussion aus der Zeit: über die Befahrbarkeit von "Radwegen". Damals nämlich spritzte man die Straßen gegen Staub und Dreck mit Wasser ab, meistens den Rinnstein entlang. Das gab dann eine schmierige Rutschbahn für Radfahrer, die ja am rechten Straßenrand fahren mussten.  Aus der aktenkundigen Auseinandersetzung im Amtsdeutsch weiß man übrigens auch, wie viele Radfahrer es damals in Stuttgart gab: nämlich rund 5.000 bei einer einer Einwohnerzahl von 150.000. 

Das Stadtmuseum, das ab 2017 im Stadtpalais am Charlottenplatz seine Räume beziehen soll, plant Ausstellungen zu solchen Thema, die einst Stadtgespräche waren. Historische Aufreget mit Gegenwartsbezug. Dazu gehört auch das Radfahren in Stuttgart. Denn bis heute diskutieren wir: Wem gehören die Straßen von Stuttgart, nur den Autofahrern oder auch den Fußgängern, wohl gar am Ende sogar auch den Radfahrern? Bis heute ist das das nicht entschieden. Auch nicht, wie alle drei Verkehrsteilnehmer auf Stuttgarts Straßen nebeneinander zu ihrem Recht kommen und sich ihren Bedürfnissen entsprechend bewegen können. 

Das Fahrrad war um 1869 ein ganz neues Verkehrsmittel. Es war damals auch relativ schnell, verglichen mit Fußgängern, Kutschen und später sogar den ersten Autos. 

Einen ähnlicher Paradigmenwechsel im Stadtverkehr und Radverkehr könnten heute die Pedelecs darstellen, die die von steilen Hängen umfangene Stadt Stuttgart fürs Rad so gut befahrbar machen wie mit Autos. Einst haben Industrielle mit Velodroms, Leihrädern und Wettrennen das Fahrrad unterstützt, weil sie darin ein gutes Geschäft sahen. Und heute? Damals war Stuttgart Pionierstadt des Radfahrens. Eine Tradition, die uns gut steht und die wir doch weiter pflegen könnten. Oder nicht? 

Und wer für das künftige Stadtmuseum zum Thema Fahrrad noch etwas Historisches daheim hat - Radvereins-Nadeln, Fotos, Informationen oder was auch immer uralt ist -, der oder die darf  sich gern bei Markus Speidel melden. Er freut sich darüber (E-Mail).

Außerdem: Literatur zur Geschichte des Fahrrads: Hans-Erhard Lessing

2 Kommentare:

  1. Danke für den schönen Blogpost. Es war auch für mich ein sehr schönes und angenehmes Gespräch und ich freue mich über Hinweise, Ideen oder gar Objekte!

    Herzliche Grüße

    Markus Speidel

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  2. Ich hoffe auch, dass die Stuttgarter noch viele schöne antike Räder, Radteile, Urkunden, Nadeln und vielleicht auch Fotos daheim haben und sie Ihnen und dem Museum anbieten.

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