21. Juni 2016

Woran liegt das wirklich?

Die Zeitung Die Welt glaubt die Antwort zu wissen auf die Frage, "Warum Senioren so häufig mit dem E-Bike verunglücken." Solche Antworten generieren sich sozusagen automatisch: zu schnell, Räder zu schwer, kein Helm getragen, zu alt halt.

Die Konsequenz auch: Ab 65 sollte man doch besser nicht mehr Rad fahren, und wenn, dann sehr langsam und mit Sturzhelm. Darauf hat die taz unter dem Titel "Rasende Rentner" genervt geantwortet: "Acht von zehn Fahrradfahrern, die tödlich verunglücken, sind älter als 65 Jahre. Was sagt uns das? In der Stadt sind zu viele Autos unterwegs!"
Zwei Standpunkte, die deutlich machen, dass statistische Zahlen keine Aussagen über die Ursachen machen. Der Welt-Artikel irrt übrigens schon im Titel: Es geht nicht um E-Bikes (das sind Motorroller mit E-Antrieb), sondern um Pedelecs, deren Kraftzufuhr ab 25 km/h aufhört. Damit sind Pedelecs auf ebenen Strecken oft langsamer unterwegs als junge Menschen auf Normalrädern. Sie sind aber bergauf schneller, was tatsächlich mehr Sicherheit bringt, weil das Rad eben nicht mit 5 km/h den Hang hochgetrieben werden muss, was meist mit einem ziemlichen Schlingern verbunden ist. Mit dem Pedelec kann man auch an der Ampel schneller antreten und Fahrt gewinnen, was ebenfalls Sicherheit im Stellungskampf mit gleichzeitig startenden Autos schafft.

Bergab sind Pedelecs und Normalräder gleich schnell, oder eben nur so schnell, wie es der Fahrer oder die Fahrerin zulässt. Männer rollen in der Regel sehr viel schneller die Steilstrecken runter als Frauen. Männer gehen in der Regel (Ausnahmen bestätigen die Regel) sportlich ein höheres Risiko ein. Wenn ich die Unfallgeschichten dieses Jahres in Stuttgart und die des vergangenen Jahres in Stuttgart und außerhalb passieren lasse, sehe ich, dass mit Rad deutlich mehr Männer als Frauen verunglücken. Die Zeit hätte auch die Frage stellen können: "Warum Männer so häufig mit dem Fahrrad verunglücken."

Ob die Leute Pedelec fahren oder Normalrad spielt dabei gar keine Rolle. Padler/innen mit Pedelecs verunglücken nicht häufiger als Menschen auf Normalrädern, zeigt eine Studie der UDV. Und insgesamt nehmen die Fahrradunfälle zu. Es fahren ja auch mehr Menschen Rad. (Und der Autoverkehr nimmt stetig zu.) Pedelecs bringen mehr Menschen zurück aufs Fahrrad, auch ältere, was an sich gesund ist, für die Radelnden selber, die nicht im Auto sitzen, sondern sich bewegen, und für die Stadt, die damit vom Autoverkehr entlastet wird. Und damit sind wir bei der Unfallursache, auf die auch die taz hinweist: Es sind zu viele Autos unterwegs, Fahrräder haben zu wenig Platz.

Und unsere Radrouten und Radwege sind oft provisorisch und damit von Amts wegen gefährlich. Gerade in Stuttgart müssen sich Radfahrende allen Alters ziemlich durchschlängeln, auch immer wieder Bordsteine rauf und runter. Und es gibt immer mehr Einbiegungen mit 3-cm-Bordsteinen, die nicht schräg angefahren werden sollten. Minimierung der Sturzgefahr sieht anders aus.

Auf den Radwegen stehen Hindernisse, Gullideckel liegen im Sicherheitsstreifen, die an geparkten Autos entlang führen, Radwege oder Brücken auf Radrouten sind vereist, die Streckenführung ist schlecht, geht durch enge Fußgängerbereiche, zwischen Pfosten, Masten und Baken hindurch, Kurven sind rechtwinklig angelegt, auch, wo sich Radler begegnen. Niemals würde man dem Autoverkehr so was zumuten.

An den meisten Ampeln in Stuttgart gibt es keinen Startvorlauf für Radler, Es gibt kaum Radstreifen, und Radwege (etwa entlang der Heilbronner Straße) werden von Ein- und Ausfahrten gekreuzt und produzieren damit zahlreiche schwere Unfälle, weil Autofahrer Radfahrer nicht sehen. Ähnliche als typisch bekannte Gefahrenstellen hätte man für Autofahrer längst entschärft, und zwar mit allen Mitteln, bei Radrouten nimmt man sie in Kauf, und damit eben auch Unfälle. Und die einzige Empfehlung, die man dann ausspricht, ist: "Fahrt mit Helm. Fahrt langsam. Übt." So was nennt man auch Victim-Blaming (das Opfer beschuldigen).


Die Antwort auf die Frage, warum so viele Radfahrer/innen verunglücken (und zwar Jugendliche, Männer und Senior/innen häufiger - wie unter Autofahrer/innen auch) kann also nur lauten: Weil der Radverkehr bei uns nicht so unterwegs sein kann, dass Unfallrisiken minimiert werden, ohne dass dabei das Vorankommen behindert wird. Unfallrisiken sind traditionell für junge Menschen höher, weil ihnen die Erfahrung und Gefahrenvorschau fehlt, und für ältere, weil sie nicht mehr so reaktionsschnell sind und manchmal nicht ganz den Überblick haben. (Und natürlich für Männer, weil sei ein höheres sportliches Risiko eingehen.) Und die Konsequenz kann dann nicht sein: Fahrt nicht Fahrrad, und wenn, tut es nur gepanzert.


Wenn das die Konsequenz wäre, müsste man das Treppensteigen für bestimmte Altersgruppen (eigentlich für alle Menschen) verbieten, zumindest aber dringend eine Helmpflicht für Treppen fordern. Denn durch Treppenstürze sterben in Deutschland im Jahr rund 12.000 Menschen, auf dem Fahrrad dagegen etwa 400.

Schutz des Radfahrers könnte übrigens auch ganz anders gehen. Nämlich durch Entschärfen der Gefahr durch den Unfallgegner: Und zwar nicht nur durch weniger Autoverkehr oder eine Zügelung der Geschwindigkeit in Mischverkehrsbereichen (dort wo Fußgänger, Radler und Autos zusammen kommen), sondern auch durch eine technische Ausstattung der Autos. Das stellt die UDV fest. Denn an der Hälfte der Unfälle, bei denen Radler schwer verletzt werden oder sterben, sind Autos beteiligt. Ein Notbrems-Assistent mit Radfahrer-Erkennung könnte hier Abhilfe schaffen. Auch ein Außen-Airbag für den Windschutzscheibenrahmen könnte schwere Kopfverletzungen bei Radlern verringern, die der Autofahrer auf den Kühler genommen hat. Schließlich sind die Autofahrer den Radlern physikalisch überlege: tonnenschwer und gepanzert. Außenairbags sind teuer und kompliziert, aber ein Brems-Assistent mit Radfahrererkennung sollte machbar sein in Zeiten, in denen wir vom automatischen Fahren träumen.


Und jetzt stellen wir die Frage noch Mal: Warum sterben so viele Radfahrer im Straßenverkehr? Weil die Autos immer noch keine Raderkennung haben, weil Autos immer noch zu schnell durch die Stadt fahren und weil es immer noch viel zu viele Radwege auf Gehwegen gibt, weil Radrouten immer noch kompliziert, verwinkelt und zu eng sind.




10 Kommentare:

  1. Danke!
    Ähnlich abstrus hat vor kurzem die FAZ über Unfälle von Senioren mit Pedelecs geschrieben und dabei einiges durcheinander gebracht. Ich frage mich, ob in den Redaktionen nicht ein einziger Mitarbeiter sitzt, der selbst mit dem Rad fährt und die Vorlagen, die vermutlich von irgendeiner Presseagentur kommen, besser überprüfen kann.
    Besonders lächerlich dann nach dem Senioren und E-Bike-Bashing, zwei Unfallsituationen zu beschreiben, die weder mit dem einen noch mit dem anderen etwas zu tun haben. Dafür aber in einem Fall nach meinem Dafürhalten durch den Busfahrer verursacht ist, der es nicht für nötig hält ausreichend Abstand zu halten. http://ka-radler.blogspot.de/2016/06/jetzt-sind-die-senioren-und-e-bike.html

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  2. Hervorragender Artikel, danke Christine! Gerade in einer Stadt mit großen Höhendifferenzen sind Pedelecs das richtige Mittel, das Senioren dennoch das Fahrrad genießen können. Und für Ungeduldige wie mich ebenfalls.
    Die Argumentation, das Fahrradunfälle durch weniger Radverkehr verhindert werden können, entspricht dem Argument das die Lebenserwartung länger wird wenn Betten abgeschafft werden - schließlich sterben die meisten Menschen im Bett. Es ist einleuchtend, und trotzdem falsch.

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    1. Im Gegenteil, je mehr Fahrräder auf den Straßen unterwegs sind. Desto geringer wird die Anzahl verunglückte Radler prozentual gesehen. Denn alle Verkehrsteilnehmer gewöhnen sich aneinander und Radfahrer werden nicht mehr so schnell über sehen, da jeder mit ihnen rechnet.

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    2. Genau. Je mehr Räder, desto größer die Sicherheit für den Einzelnen. Das ist ja auch der Sinn der Critical-Mass-Fahrten. Sich sicher in der Menge fühlen.

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  3. "Die Welt" ist ja auch Springer-Presse, man sollte also nicht soviel darauf geben, was dort publiziert wird. Gut ist, dass es solche Blogs wie diesen hier gibt, die dann seriös über die Thematik aufklären.

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    1. Leider erzählen mir derzeit alle Leute, dass ja die Alten mit ihren Pedelecs ständig verunglücken. Die Wirkung ist also durchaus da. Leider.

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  4. Christine, laut Wikipedia werden in Deutschland und Österreich die Begriffe E-Bike, Elektrofahrrad, und Pedelec synonym verwendet. In der Schweiz ist der Begriff E-Bike für Fahrräder mit tretunterstützung richtig. Ich finde daher, der gebräuchliche Begriff E-Bike im Welt Artikel geht in Ordnung, auch wenn er der Einordnung der Fahrzeuge im Behördendeutsch widerspricht.

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    1. Ja, die Begriffe werden synonym verwendet. Allerdings gibt es E-Bikes, und das sind elektrische Roller, die man ansonsten gar nicht mehr unterscheiden könnte. Ich benutze gern das Wort E-Rad für Pedelecs. Ich finde, dass die Presse sich da schon die Mühe machen könnte, zu unterscheiden. Wer, wenn nicht die Medien, geben vor, welche Begriffe wir verwenden und wie wir das eine vom anderen unterscheiden. E-Bike klingt halt schick, ist aber trotzdem nicht wirklich richtig.

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  5. Kurz vor der Landtagswahl outete sich im 1. Grünen-Hate-Slam der Verkehrsminister Baden-Württembergs als "Panther", seine Kollegin, die damalige Landtagsvizepräsidentin, als "Tiger".

    Die - im Plenum demokratisch legitimierte - Nachfrage, nach etwaigen verdeckten Andeutungen, vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es sich bei "Panther" und "Tiger" um leistungsstarke deutsche Kampfpanzer des 2. Weltkriegs handele, wurde unter Verweis auf persönliche Vorlieben verneint.

    Nach Studium o.g. Beitrags, der treffend die Situation innerstädtischer Radfahrer mit militärisch gefärbter Wortwahl beschreibt, war das Ganze vielleicht auch eine subliminale höchst-ministeriale Empfehlung zur Heransgehensweise im täglichen Mobilitätsalltag:

    "Bewaffnet Euch?"

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    1. Ich bin gegen Eskalation der Gegnerschaften. Es bringt niemandem was, wenn Autofahrer und Radfahrende sich hassen und einander auf der Straße zeigen, dass sie nichts voneinander halten. Ich stelle aber fest, dass Tempo aggressiver macht. Mich haben letzthin zwei Autofahrer angepampt, die ein paar Meter hinter mir auf der Fahrbahn fahren mussten. Einer sagte: "Das ist lebensgefährlich, was Sie machen." Ich antwortete ihm lächelnd: "Aber nein, Sie passen doch auf mich auf. Vielen Dank." Interessant finde ich, dass Autofahrer sich für sehr gefährlich halten. Und sich auch noch darin gefallen.

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