2. August 2018

Der fatale Mythos einer Gleichberechtigung auf den Straßen

Alle Verkehrsteilnehmer müssen einander mit Respekt begegnen und den Raum zugestehen, den sie brauchen. Einfach gesagt, aber zwischen Radfahrenden und Autofahrenden eine Illusion.

Wie gleichberechtigt sind eigentlich Radfahrende und Autofahrende unterwegs, fragt The Conversation in einem Artikel über Australien. Gleichberechtigung auf der Straße ist ein fataler Mythos. Das Auto dominiert. "Die meisten Radfahrer müssen nicht daran erinnert werden, ein zwei Tonnen schweres Fahrzeug, das mit Tempo 80 nur wenige Zentimeter vom Ellbogen entfernt vorbeifährt, mit großem Respekt zu behandeln." Radfahrer:innen haben nicht die Macht, den Platz, den ein Autofahrer beansprucht, nicht zu respektieren. Autofahrer:innen umgekehrt aber sehr wohl. Wir Radler:innen haben keinen Blechpanzer um uns herum, wir bewegen keine zwei Tonnen Überbreite, sondern vielleicht hundert Kilo ohne jeglichen Schutz für Haut und Knochen. Wir sind ohnmächtig. Wir haben de facto nicht die gleichen Rechte wie Autofahrende, denn wir können sie nicht durchsetzen. Es herrscht ein deutliches Machtgefälle.

Unsere Sicherheit liegt nicht  in unseren Händen, sondern weitgehend in den Händen der Autofahrer:innen.
Das Einzige, was wir für dafür tun können, dass wir nicht von Autofahrer:innen verletzt werden, ist, so vorausschauend zu fahren, dass wir die Fahrfehler und das Dominanzgebaren von Autofahrerenden vorhersehen und einem Konflikt, allemal einem Zusammenstoß, ausweichen.

Autofahrer stellt sich so hin, dass ich nicht
rechts vor zur Haltelinie fahren kann
Die tägliche Erfahrung, dass der Respekt der Menschen in großen, schweren Fahrzeugen uns gegenüber geringer ist als unserer ihnen gegenüber führt dazu, dass etliche Radler:innen auf Gehwege flüchten oder an Ampeln schon bei Rot starten, nur um dem Platzgerangel Auto gegen Fahrrad zu entkommen.

Politik und Medien verleugnen die tatsächliche Verantwortung für unser Sicherheit, die dem Autofahrer zukommt, gern und bauen die Fiktion einer Gleichheit der Verantwortung auf. Sie fordern Helme und Schutzwesten, so als hänge es eben doch von uns ab, ob wir Opfer aggressiver oder schusseliger Autofahrer:innen werden oder nicht. Sie fordern von uns "auch mal zu bremsen", "auch mal nachzugeben". Wenn ein Autofahrer über den Radweg abbiegt, ohne zu gucken, ist das meine einzige Überlebenschance. Wenn man uns zu Selbstschutzmaßnahmen auffordert ist das einerseits das Eingeständnis, dass wir nicht die gleichen Rechte haben wie Autofahrende, und andererseits der deVersuch, ein Teil der Verantwortung doch wieder auf uns abzuwälzen, so als müssten wir selbst mehr tun, um unverletzt durchzukommen. So als liege es in unserer Hand. So wird der Autofahrer von der Verantwortung für sein Handeln entlastet.

Rechtsabbieger schneidet Radlerin
Das Gerede von gleichen Rechten und Pflichten ist gerade im Straßenverkehr zynisch. In diesem Zusammenhang wird dann immer gern gefordert, Radfahrer müssten sich endlich und überhaupt und erst einmal an die Verkehrsregeln halten. Ja und dann? Ist das etwa die Bedingung dafür, dass man uns respektieren könne und werde. Immerhin geht es hier um unsere Gesundheit und unser Leben. Das klingt, als müssten wir uns Respekt (und Rücksicht) gewissermaßen erst verdienen durch besonders braven Regelgehorsam. Dann wären vielleicht die Autofahrenden etwas gnädiger.

Lkw auf dem Radfahrstreifen
Klar, dass das nicht funktioniert. Das Verhalten von Autofahrenden habe ich ja nicht in der Hand. Mit keinem Mittel kann ich verhindern, dass ein Autofahrer, eine Busfahrerin oder ein Lkw-Fahrer mich im Abstand von 30 cm überholt. Oft nicht einmal dann, wenn ich platzbehauptend mitten auf der Fahrbahn radle.

Es gibt keine Gleichberechtigung auf unseren Autostraßen. Die meisten Radler:innen verhalten sich in dem Gerangel grundsätzlich defensiv und  kooperativ. Sie akzeptieren die Hierarchie, weichen Konflikten aus. Es gibt aber in asymmetrischen Verhältnissen immer auch einige, die die Rolle der Unterlegenen nicht akzeptieren, sondern den Machtkampf aufnehmen (meistens junge Männer). Die nennen wir dann gern Kampfradler. Sie verhalten sich aber nur entsprechend der Rolle, die der Autoverkehr ihnen zuweist, nur dass sie sie nicht akzeptieren, sondern sich demonstrativ dagegen stellen, durch Missachten von Regeln, die sie als Benachteiligung empfinden, und durch Geschrei oder Gewalt gegen das Auto. Sie sind ganz unmittelbar ein Produkt des Machtgefälles auf der Straße.

Parken auf dem Radfahrstreifen
Weder die australischen Straßen (auf die sich der Artikel bezieht), noch die deutschen sind also ein neutraler Ort des gleichberechtigten Nebeneinanders. Vielmehr beherrscht das Auto den öffentlichen Raum. In Australien (und bei uns kaum weniger) sind mit dem Auto Vorstellungen von Autonomie, Freiheit und Dominanz verbunden. Hinzu kommt bei uns, dass wir der Autoindustrie ein Gutteil unseres Wohlstands verdanken, dem Auto also eine Art wirtschaftliches Vorrecht einräumen.

Wenn Radfahrende und Autofahrende sich auf der Straße treffen, dann sind sie nur ganz theoretisch oder fiktiv gleiche Individuen, die sich in einem demokratischen und eindeutig geregelten öffentlichen Raum begegnen. Aber eben nur, wenn der Autofahrer es so will und so macht. Wenn Autofahrer:innen nicht wollen, dann befinden sich Radfahrende in einer stark asymmetrischen Beziehung, sowohl physisch als auch kulturell.


8 Kommentare:

  1. Ich möchte den Gedanken einmal weiterspinnen.
    Wie verhalten sich denn Radfahrer Fußgängern gegenüber? Ich möchte keine Lanze brechen für Autofahrer und keinen Pranger aufstellen für Radfahrer. Das eigentliche Problem liegt im Missachten von Regeln durch alle Verkehrsteilnehmer.
    Ich finde weder die oben angeführten Situationen toll, noch wenn ich zu Fuß unterwegs bin, dass ich mir Gehwege mit dort nicht erlaubten Radfahrern teilen muss oder auf einem freigegebenen Gehweg mit einem Affenzahn von einem Radfahrer von hinten überholt werde oder man versucht mich wegzuklingeln.
    Das eigendliche Problem ist immer die Missachtung einer Regel, meist aus vermutlicher Unkenntnis.
    In Heidelberg wurden wir auf einem freigegebenen Gehweg von Radfahrern angecshrauzt, wir hätte an der Seite zu gehen. Die Entgegnung, sie wären nur zu Gast auf diesem Weg, haben die Herrschaften überhauptnicht verstanden.
    Unsere Verkehrsregeln sind zu kompliziert und wenn es einfache Regeln gibt, werden sie durch Ausnahmen ausgehebelt. Beispiel Einbahnstraße: eigentlich einfach, fahren nur die vorgegebene Richtung. Dann kam ein Schlauberger auf die Idee, geeignete(!) Einbahnstraßen per Schild(!) für den Radverkehr in Gegenrichtung freizugeben. Jetzt wird überall gegen die Richtung gefahren, weil man das Schild(!) gedanklich bereits vergessen hat.
    Warum die Regeln nicht einfach eindeutig und ohne Ausnahmen gestalten? Es wäre für alle einfacher sie einzuhalten.
    Übrigens ich bin als Autofahrer für die regelmäßige Nachschulung und Wiederauffrischung des Führerscheins. Besonders unter den Autofahrern herrscht nämlich in Punkto Verkehrsregeln kolletive Ahnungslosigkeit. Bei anderen auch, aber die mussten keinen Führerschein machen.

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    1. Lieber Anonyums oder liebe Anonyma, gerne lerne ich deinen Namen auch kennen, damit ich weiß, mit wem ich diskutiere. Es gibt schon einen sehr großen Unterschied zwischen Autofahrenden und Radfahrenden. Autos können töten und schwer verletzen, ohne dass ihr Fahrer auch nur einen Kratzer abbekommt. Das können Fahrradfahrer nicht. Sie sind für Fußgänger zwar oft äußerst unangenehm und stressig (und es gibt Rüpel), aber sie töten Fußgänger/innen nicht. Darüber hinaus vermeiden Radfahrende einen Zusammenstoß sehr viel konsequenter als Autofahrer, weil sie keinen Panzer um sich herum haben, und weil sie unweigerlich selbst stürzen, wenn sie einen Fußgänger streifen oder mit ihm kollidieren, und sich dabei selbst verletzen. Und leider ist es nicht so, dass Autofahrende Einbahnstraßen respektieren. ich kann dir Dutzende von Fotos zeigen, wo Autos gegen die Einbahnstraße fahren, obgleich die Regel doch ganz einfach ist: Das Schild lautet "Einfahrt verboten". Es ist keineswegs so, dass Radfahrende die Regelmissachter seien und Autofahrende und Fußgänger nicht. Beispielsweise gehen sehr viele Fußgänger bei Rot über den Fußgängerüberweg, sie missachten rote Ampeln mehr als Radfahrende. Und warum: Weil sie wissen, sie gefährden nur sich selbst, nicht den Autofahrer in seinem Panzer. Ich appelliere immer wieder an meine Leserinnen und Leser, mal kurz innezuhalten und die Argumente meines jeweiligen Themas mal kurz wirken zu lassen, ohne gleich "aber" zu sagen. Radfahrende helfen einer Stadt, sie verdienen eine sichere Infrastruktur, damit Fußgänger endlich ihre Gehwege wieder für sich haben.

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    2. Diese Konflikte mit Fußgängern kenne ich leider zur Genüge. Das es überhaupt zu solchen Konflikten kommt ist massiv der schlechten Infrastruktur hier in Stuttgart geschuldet! Wenn 98% der "Radinfrastrktukur" gemeinsame Fuß-/Radwege sind und fast jeder Fußweg aus mangelnder Kreativität ein "Radfahrer frei"-Schildchen trägt, ziehe ich mir meine Gehwegradler geradezu heran! Wie bitte schön soll ich mich den als Radfahrer richtiger verhalten, wenn vor mir auf dem
      Fuß-/Radweg Fußgänger gehen? Wenn ich klingle, um auf mich aufmerksam zu machen, werde ich geschimpft. Wenn ich nicht klinge und vorbeifahre werde ich geschimpft. Und dabei hab ich überhaupt gar kein Problem Rücksicht zu üben, langsam zu fahren und wenn es sein muss sogar mal anzuhalten. Wie übrigens die überwiegende Mehrheit der Radler. Wir Alltagsradler und Radpendler beherrschen unser Fahrzeug, da kommt mir manche Reaktion der Fußgänger oft als ziemlich übertrieben ängstlich vor. Manche Fußgänger Reaktion hinterlässt bei mir den Eindruck,
      ich wäre mit einem Panzer unterwegs, und nicht mit dem Rad.
      Das man Einbahnstraßen für den Radverkehr frei gibt finde ich sehr gut. Ich bin der Meinung, man sollte es denen leicht machen, die sich alternativ zum eigenen Auto fortbewegen. Das schließt auch Fußgänger mit ein! Eine Trennung zwischen Fußgängern und Radfahrern sollte überall zum Standard werden!
      Und was das leidige Thema Regeltreue angeht, da schenken wir uns doch alle nix! Die allermeisten wissen wie's geht und halten sich dran und die paar wenigen, die es nicht tun werden immer hergenommen um den Rest in Sippenhaft zu nehmen. Ich könnte Geschichten erzählen von ignoranten Autofahrern, gedankenlosen Fußgängern und rüpeligen Radlern.

      Grüße von Sandy,
      (die eigentlich sehr gerne Rad fährt, gelegentlich aber sehr genervt ist von den Zuständen hier in Stuttgart)

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    3. Danke Sandy. So erlebe ich das auch.

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    4. Entschuldigung, ich habe die Unterschrift vergessen.
      Karin
      Aber irgendwie hast Du mich missverstanden. Ich hatte eigentlich gemeint, dss die Fehler von allen begangen werden. Ich stimme Dir zu, dass die Auswirkungen von Fehlern beim Auto lebensbedrohlich oder lebensbeendend werden können. Wenn ich als Fußgänger bei rot über die Ampel renne, kann es sein, dass der Autofahrer, der mich dann überfährt, insofern unschuldig ist, weil der Bremsweg nicht mehr ausgereicht hat. (Auch schon erlebt, hat aber noch gereicht, war langsam genug).
      Es sind nicht die Fußgänger, die Radfahrer, die Autofahrer, die LKW-Fahrer. Es gibt bei allen Gruppen sehr viele, die sich vernünftig verhalten, aber auch Id..
      Es ist immer ein Individualfall und immer eine Person. Individuelles Fehlverhalten und nicht die... Keine kollektive Schuldzuweisung.
      Gruß
      Karin

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  2. Ja, wir müssen definitiv auf der Hut sein vor "Respekt"-Diskussionen, die auf fragwürdigen Prämissen beruhen und letztlich dazu dienen, die Verantwortung von Radfahrern übertrieben und die Verantwortung von Autofahrern untertrieben darzustellen. Im "Seid doch alle endlich nett zueinander" geht völlig unter, dass der Autofahrer vielleicht ein paar Sekunden gewinnt, wenn der Radfahrer nett ist, während der Radfahrer am Leben bleibt, wenn der Autofahrer nett ist.

    Wir müssen die Vorstellung energisch zurückweisen, dass die Grundrechte auf das nackte Leben bzw. auf körperliche Unversehrtheit überhaupt "verdient" werden müssen, und wir müssen erst recht die absurde Vorstellung zurückweisen,dass dieses "Verdienenmüssen" einem Kollektiv aller Radfahrer obliegt.
    Sehr gut dazu ist auch der Blog "Beyond the Kerb", z.B.
    https://beyondthekerb.org.uk/the-most-basic-respect/

    Der Sprung von einer Respektsdiskussion unter falschen Prämissen direkt zu einer Infrastrukturdiskussion finde ich allerdings ein wenig verkürzt. Auch bei einer ausgezeichneten Infrastrukturentwicklung in den nächsten Jahren wird z.B. Mischverkehr bei Tempo 30 eine wichtige Führungsform bleiben, die vielerorts sicherer und angenehmer werden muss.

    Und daher brauchen wir nicht nur eine reine Infradiskussion (plus entsprechende Aktivitäten seitens Bund, Land, Kommunen) sondern durchaus auch eine Grundrechtsdiskussion (plus entsprechende Aktivitäten), die das Problem "motorisierte Gewalt" und seine systematische Verharmlosung auch direkt und ernsthaft anpackt und langsam in den Griff bekommt. Momentan haben wir z.B. die Situation, dass gefährliches Überholen praktisch nie verfolgt wird, solange es gerade noch gut geht und der Radfahrer nicht "berührt", "gestreift", "touchiert" oder "erfasst" wird. Das muss sich ändern - das Vokabular sowieso, aber aber die Situation.

    Anderswo zeigen erste Ansätze schon Wirkung (die Links sind aus Großbritannien):

    https://west-midlands.police.uk/news/3951/serious-cycle-smashes-down-fifth-close-pass-first-year

    http://www.scotland.police.uk/whats-happening/news/2017/may/opclosepass-changing-behaviour

    http://www.happycyclist.org/?p=1817

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  3. Das Bild mit dem LKW auf dem Fahrradstreifen erinnert mich an das neuste Meisterwerk "Marbacher Str." in Ludwigsburg; jene Straße, die von den Verantwortlichen als Meilenstein gefeiert wird: Shared Space. Radfahrer teilen sich die Radspur und den Sicherheitsabstand mit tonnenschweren Panzern. Eine Radaktivistin meinte zu mir, SIE fände diese Spur toll, weil SIE sich da sicher fühle. SIE.

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  4. Das meine ich, wenn ich schreibe, dass ich dieses Fußgängerschild und das Schild "Für Radfahrer freigegeben" so hasse. Das würde ich nur für meine Kinder bis 15 gut finden. Alles andere ist Faulheit einer Stadt. So macht man es sich leicht. Und Fußgänger und Radfahrer dürfen dann übereinander herfallen. Ich finde immer noch rollender Verkehr gehört auf die Straße oder muss eigene Wege (siehe Niederlande) bekommen. Tipp, Youtube: BicycleDutch , Man muss nur wollen. Ab morgen..niederländische Grüße Beatrix Vrieze

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