Die Critical Mass Ulm ist am 27. August von der Polizei aufgehalten und dann weg eskortiert worden und hat über Twitter nach den Erfahrungen gefragt, die andere CM-Ausfahrten in anderen Städten haben. Sie hat viele Antworten bekommen.
Hier ein kurzer Abriss der Entwicklung der CM in Deutschland:
Die Ur-CM ist ein zufälliges Treffen von Radfahrenden, die sich eine Regel zunutze machen, wonach ein Verband von mehr als 15 Radfahrenden zu zweit nebeneinander fahren und im Pulk weiterfahren darf, wenn die Ampel schon rot geworden ist. Auch darf ein geschlossener Verband nicht überholt werden. Solche Verbandsfahrtenregeln gibt es auch für Konvois des Technischen Hilfswerks oder Militärfahrzeuge. Sie müssen als Verband erkennbar sein. Davon ausgegangen wird, dass sie einen Verandsführer haben, auch die Radfahrenden. Ein Radverband braucht aber keine einheitlichen Westen soder so. Die Radfahrenden müssen allerdings dicht zusammenbleiben.
Fußgänger/innen durchqueren die CM |
Warum soll es nicht erlaubt sein, dass Hunderte Radfahrende auf einer Straße ungterwegs sind, auf der tagtächlich Hunderte Autofahrende fahren? Die Autofahrer müssen ihre Massenfahrt ja auch nicht beim Ordnungsamt beantragen. In einer Grauzone befinden wir uns trotzdem, denn Autos im Hauptverkehrszeitstau sind nicht im Verband unterwegs, die rote Ampel unterbricht die Schlange (auch wenn etliche trotzdem in die Kreuzung einfahren und alles blockieren). Und so zufällig ist das Treffen der Radfahrenden ja auch nicht. Sie haben sich über die sozialen Medien verabredet oder der Termin ist generell bekannt. Es gibt nur eben keinen Verbandsführer, keinen Veranstalter. Ein Verband - wie es über 15 Radfahrende sind - braucht allerdings sehr wohl einen Verbandsführer.
Die CM-Fahrten sind allerdings keine Demonstrationen. Es werden keine Parolen gebrüllt oder Transparente hochgehalten. Wenngleich man an Fahrrädern das eine oder andere Statement lesen kann. Deshalb muss sie Ausfahrt eigentlich nicht beim Ordnungsamt angemeldet werden. Eigentlich, aber so einfach ist es auch wieder nicht. Und deshalb gab und gibt es in verschiedenen Städten immer wieder Konflikte mit den Ordnungskäften.
So soll es nicht nur in Ulm, sondern auch in Heidelberg - einem von mir noch nicht verifizierbaren - Bericht zufolge bei der August-CM Probleme mit der Polizei gegeben haben. Eine "Order von Oben" in Baden-Württemberg sehe ich allerdings nicht. Zuständig dafür wäre das Innenministerium des CDU-Ministers Strobl. 2017, als es in Mannheim Probleme gab (siehe unten), habe ich aus einer glaubhaften Quelle, die ich nicht nennen kann, erfahren, dass es keine Bestrebungen gebe, gegen die Critical Masses im Land vorzugehen. In Karlsruhe wird, der Internetseite zufolge, ohne Probleme unangemeldet geradelt. Und in Esslingen geht auch alles gut, da wirbt die Stadt auf Twitter sogar damit.
Was bisher so geschah:
In Stuttgart gab es, diesem Pressebericht zufolge, 1999 die erste CM. Die Polizei stoppte sie und beschlagnahmte vorübergehend die Räder. Das wiederholte sich bei jeder Ausfahrt, und man gab erst einmal wieder auf. 2010 probierten es rund 25 Radler erneut zur Hauptverkehrszeit. Die Polizei beschlagnahmte zwar nicht mehr die Räder, hielt die Gruppe aber bis zu einer halben Stunde fest. 2011 entschied man sich, die Ausfahrt beim Ordnungsamt anzumelden, um Konflikte zu vermeiden, auch damit die Aufahrt für Alltagsradler/innen attraktiv wurde, die keine Konflikte mit der Polizei wollen. Seit vielen Jahren radeln wir nun als angemeldete Demo in Polizeibegleitung, anfangs hauptsächlich unter Begleitung der Motorradstraffel, inzwischen auch mit einem Polizeiauto an der Spitze, was die Tour zuweilen extrem langsam macht. (Ich vermute immer, die Polizei ist halt das Demonstrationstempo von Fußgänger/innen gewohnt.) Der CM tut das eher gut. In diesem Sommer haben wir die 2.000 Teilnehmer/innen geknackt. Und wenn am Rand ein Autofahrer austickt (einer fuhr mal einem Korker über den Fuß), dann ist die Polizei sofort zur Stelle. Es gibt eine schriftliche Vereinbarung. Wenn es beispielsweise einen großen Unfall gibt, kann der jeweilige Versammlunglseiter die Verantwortung sofort an die Polizei übergeben. Das ist eine Entlastung für die Organisator/innen der CM. Bislang lehnt es die Fahrradstaffel der Polizei ab, die CM zu begleiten und zu schützen. Man fürchtet, das werde so verstanden, als wolle sich die Polizei inhaltlich gemein machen mit den Radfahrenden von Stuttgart. Das irritiert uns ein bisschen.
In Mainz nimmt regelmäßig die Fahrradstaffel der Polizei an der CM teil. Die Polizei berät die Radfahrenden und ist sichtbar für die Autofahrenden, falls die ungeduldig werden. Die CM Mainz sagt, es sei ein wirklich gutes Miteinander, die Route werde aber nicht abgesprochen. Auch Pforzheim meldet die CM nicht an, die es seit Frühjahr 2018 wieder gibt. Auch hier herrschrt ein eher freundliches Miteinander mit den Ordnungskräften, die wohl oft gar nicht mitfahren.
In etlichen Städten holpert es wegen der Grauzonen-Situation der CM allerdings immer wieder mächtig.
In Leipzig wurde die große Schlacht mit der Polizei schon 2009 geschlagen. Wie die Leipziger Internet Zeitung im Rückblick (2019) erzählt, waren rund 100 Radler/innen unterwegs, als die Polizei auf Motorrädern auftauchte. Als der Tross bei grüner Ampel startete, griff die Polizei ein. Und dabei ging es wohl ziemlich gewaltätig zu, Radfahrende sollen vom Rad gerissen worden sein. (15 Verletzte), und 25 Radler bekamen hinterher Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Überfahrens einer roten Ampel. Wer widersprach, erreichte die Einstellung des Verfahrens. Danach gab es ein Katz- und Mausspiel zwischen CM und Polizei. Noch im selben Jahr einigte man sich mit der Polizei darauf, dass die CM nicht gefilmt wird. Im Gegenzug benannte die CM jeweils ein/e Ansprechpartner/in und gab die Route bekannt. 2010 einigte man sich in einem weiteren Gespräch darauf, dass die Polizei den Zug nicht mehr begleitet. Deshalb fährt in Leipzig bis heute nur selten Polizei mit. Wobei die CM dort bisher auf nicht mehr als rund 250 Mitfahrende kommt.
In Mannheim stoppte die Polizei 2017 eine CM. Das Ordnungsamt verlangte nach zweieinhalb Jahren freier und offenbar konfliktfreier Fahrt, dass die CM künftig immer angemeldet wird. Das zuständige Amt sah in der CM-Fahrt nämlich eine Versammlung (also eine Demo). Dem liegt der Gedanke zu Grunde, dass die gemeinsame Präsenz so vieler Fahrräder das Ziel hat, zur politischen Willensbildung in dem Sinne beizutragen, dass der Platzbedarf des Autoverkehrs hinterfragt wird. Hier ein Auszug aus dem Schreiben, das mir vorliegt: "Eine Versammlung besteht in der gezielten Zusammenkunft von Personen, die durch Meinungsbildung oder Meinungsäußerung in öffentlichen Angelegenheiten eine kollektive Aussage machen. Entscheidend ist eine beabsichtigte Gruppenbildung mit politischem Bezug und Überindividualität, die durch Diskussion und Demonstration ein "Wir-Gefühl" vermittelt. "* Und es wird darauf hingewiesen, dass auch ein geschlossener Verband von Radfahrenden einen Verbandsführer haben muss, der dafür Sorge trägt, dass alle in die gleiche Richtung fahren, alle gleich schnell sind, und dass die Lücken innerorts nicht größer als 50 Meter werden.
In Düsseldorf gab es 2018 Ärger mit der Polizei. Sie stoppte die Ausfahrt (von der Presse "Demo" genannt), es kam zu einem Wortwechsel, dann habe die Polizei den Trupp mit Martinshörnern begleitet. Das wirkte auf die Radler/innen alles ziemlich unsouverän. Die Polizei erklärte, es habe Verstöße gegeben, so seien Rotlichtzeichen missachtet worden, Teilnehmer hätten mit Smartphones hantiert. Mit Blaulicht und Martinshorn habe man die Radler, die auf Aufforderung nicht hätten anhalten wollen, dann durch die City begleitet, um die Autofahrer zu warnen. Klingt wirklich nicht souverän und so, als sei der Polizei dass Phänomen der Critical Mass gar nicht bekannt gewesen.
In Neuss versuchte die Polizei 2018 die erste dort stattfindende CM aufzuhalten. Sie erschien am Versammlungsort und fragte nach Versammlungsleiter und Route. Das gab es nicht, weil es das bei einer CM eben nicht gibt. Die Radler/innen ließen die Polizei stehen und fuhren einfach los.
In Berlin kam es schon 2014 zu einer ähnlichen, in den sozialen Netzwerken viel beachteten Konfronation einer CM von 3.500 Radlern mit der Polizei. Die Polizei war der Meinung, dass nach Paragraph 29 der StVO so ein Verband von Radfahrenden keine Erlaubnis habe, "die Straßen mehr als verkehrsüblich in Anspruch zu nehmen. Diese Erlaubnis müssten sie beantragen.“ Aber was ist schon verkehrsüblich? Nur weil sonst nur fünf Radler zwischen hundert Autos herumwuseln, sollen Tausend Radler verkehrsunüblich sein, die sich mal für eine Stunde alle die Fahrbahn nehmen? Kann man so sehen, muss man aber nicht. Denn die CM will gerade zeigen, dass die Straßen auch für Radler/innen da sind und man in einer Gruppe entspannt fahren kann.
Die Beamten versuchten damals, einen Verbandsführer ausfindig zu machen. Während sie mit einzelnen Radfahrern herumdiskutierten, fuhren die anderen seelenruhig vorbei und weiter. Dreitausend Radler/innen sind wie Wasser, es fließt und ist nicht aufzuhalten. Die Polizei gab auf und eskortierte die CM, weil sie der Meinung war, nur so könne sie "das Schlimmste" verhüten, was auch immer das ist. Daraus ergab sich das nächste Problem: Die Polizei wusste nicht, wohin sich der Tross bewegte. Knackpunkt auch hier: Ein Verband (der über rote Ampeln fährt) braucht einen Verbandsführer und einen Stellvertreter. Und das hat die Ur-CM regelmäßig nicht.
In Wuppertal kündigte die Polizei Ende 2018 an, dass sie den Tross nun begleite. Wie die örtliche Presse meldete, hatte es Beschwerden über Verschmutzungen gegeben. Wie es dort seitdem weitergeht, weiß ich nicht.
Hamburg hatte nach Einschätzung der Süddeutschen Zeitung 2014 da mehr Verständnis für die CM. Das Team Blau, also die Polizei, arrangierte sich mit den Radlern. Auch sie war der Meinung, die Radler müssten vor sich selbst geschützt werden, und begleitete den Trupp, damit keine Verkehrsunfälle passieren. 2015 seufzte die Zeit unter der Überschrift "Straßenkampf" dass Polizei und Autofahrer machtlos seien gegnüber diesen Radlern (über 5.000) und bruddelte: "Die junge, urbane Avantgarde ist auf dem Rad unterwegs, von Stadtplanern und Politikern hofiert. Manche Behörde verpflichtet Bauherren bei der Planung neuer Häuser schon, Fahrradstellplätze zu schaffen – Parkflächen für Autos sind zweitrangig." Die CM Hamburg erzählt auf ihrer Seite sehr schön, wie es mit wenigen Radfahrenden anfing, bis es im Juni 2011 zu einer krassen Aktion kam. Die Polizei rückte mit einem größeren Kommando an, errichtete behelmt und mit Schlagstöcken ausgerüstet, im Bereich Reeperbahn Straßensperren ein und verfolgte die rund 250 Radler durch den Kiez. Danach passierte nichts dergleichen mehr. Nur dass Polizeistreifen regelmäßig nach dem Versammlungsleiter fragten, wenn sie auf den Tross stießen. 2013 suchte die Polizei im Netz nach dem Treffpunkt und erschien, um die CM zu begleiten und Kreuzungen abzusichern. Seitdem läuft das so. 2017 fuhr ein Autofahrer bei einer CM zwei Radfahrer an, weil er nicht akzeptieren konnte, dass er warten musste. Die Polizei war gleich da. Er wurde 2018 zu eine Geldstrafe verurteilt. Zeugen für sein aggressives Verhalten gab es ja genug.
In Nürnberg, wo die Polizei die CM offenar auch konfliktfrei begleitet, fuhr im Juni dieses Jahres der Fahrer eines Kastenwagens drängelnd in die Menge, warf Fahrräder mit und ohne Radfahrende darauf um, bahnte sich einen Weg und flüchtete. Weil sich einer der Radler das Kennzeichen gemerkt hatte, wurde der Fahrer von der Polizei germittelt (Zeug/innen gibt es ja immer genug).
In Essen stoppte die Polizei eine CM, die schon fünf Jahre unbehelligt fuhr, im Jahr 2016 und löste damit bei der WAZ ein Pro und Contra über die Frage aus, ob das richtig oder falsch war.
2017 gab es in Marburg eine Polizeiaktion gegen die CM. Nach Darstellung der Bürgerinitiative Verkehrswende Marburg griffen sich die Beamten die Radler, die dem Verband folgten und weiterfuhren, als die Ampel auf Rot sprang, und stellten deren Personalien fest. Gefilmt hatten sie auch. Die Radfahrenden, die das Gespräch mit den Polizisten suchten, hatten sie den Eindruck, dass die Regeln über das Radeln im Verband nicht bekannt waren.
In Stuttgart kam es 2018 zu einer kurzen Krise, als der Fahrer des Polizeiführungsfahrzeugs anhielt und meinte, er könne nicht weiterfahren, der Zug müsse aufgelöst werden, denn es werde Alkohol getrunken. (Manche haben eine Bierflasche dabei, was nicht verboten ist, solange der Radfahrer sich nicht mehr als 1,5 Promille antrinkt.) Als der CM-Verantwortliche dem Polizisten erklärte, wenn die Fahrt jetzt aufgelöst werde, dann lege er sein Amt nieder und könne nicht verhindern, dass die Radler ungeregelt weiterfahren, gab der Polizist auf und fuhr weiter.
Als in Dresden die CM im Februar 2019 mit der Forderung für einen konkreten Radfahrstreifen unterwegs war, wurde sie von der Polizei gestoppt. Diese Forderung machte die CM aus Sicht der Polizei zu einer Demo, und man bemängelte, dass die Fahrt nicht als Demo angemeldet worden sei. Es wurden Videos gedreht, man versuchte Radfahrende zu identifizieren, die nicht anerkannten, dass dies eine Versammlung sei, und weiterfuhren. Bei den Radfahrenden kam das eher als Schikane an.
In Olching (Landkreis Fürstenfeldbruck) kamen die Grünen im April 2019 auf die Idee, eine CM zu veranstalten und fuhren mit 35 Leutchen. Wie der Mercur berichtet, riefen aufgeregte Autofahrer die Polizei (es sei zu dritt nebeneinander geradelt worden, man habe warten müssen). Doch als die Polizei kam, waren die Radler schon wieder weg (Na, so was auch!). Das Landratsamt sah das als meldepflichtige Demo an, künftige Veranstaltungen müssten angemeldet werden. In dem Zeitungsartikel triumphiert die Polizei, wenn das "Phänomen überhand" nehme, werde man einschreiten und habe noch "ein Ass im Ärmel, in Form der "übermäßigen Straßennutzung" in Paragraph 29 der StVO."** Da sind die Gegner ja klar definiert. Polizei, Politik und Öffentlchkeit lernen dort nun die CM kennen. Am 6. September findet nun die sechste CM in Olching statt. Offenbar klappt's.
In Bonn radelt die CM seit zehn Jahren ohne Veranstalter oder Verein dahinter, und die Polizei ist sich noch unschlüssig, wie sie damit umgeht. Ein Streifenwagen sei stets vor Ort, der Sicherheit wegen.
Und Karsten berichtet: Wobei ich am letzten Freitag auf der Critical Mass Wildeshausen (Ort mit rd. 20.000 Einwohnern, Kreis Oldenburg) auch noch eine Positive Sache ergänzen kann. Hier wurde die CM privat von Angehörigen der örtlichen Polizei initiiert, um auf die teils katastrophale Situation des Radverkehrs aufmerksam zu machen. Und sie benennen aus der Gruppe vor dem Start die vorne und hinten fahrende Person. Das klappt bei der noch kleinen Größe (20-40 Radfahrende) super. Das Führungsrad hat diesen Anhänger, der Autofahrenden klar macht, was das für ein Tross ist.
Und was bedeutet das nun alles?
Wenn ein kleiner Verband von zwanzig Rennradlern zum Training ausfährt, wirkt das nicht als Demonstration, sondern als Sport, und wird die Polizei eher nicht auf den Plan rufen. Auch Autofahrende verstehen das so. Wenn man mit 40 bis 100 Leuten unterwegs ist, fällt das schon mehr auf. Autofahrende müssen allerdings wirklich nur ein paar Minuten warten, bis alle durch sind. Und irgendwann scheint so manche Ordnungsbehörde einen Rappel zu kriegen und das "Phänomen" eindämmen zu wollen. Das geht aber nicht mehr.
Werden es aber 2.000 und mehr Fahrräder, dann dauert es gut 15 Minuten, bis alle über eine Kreuzung hinweggeradelt sind. Das stellt Autofahrende schon auf eine harte Probe, die nicht jeder aushält. Das Konfliktpotenzial steigt erheblich. Und wenn sich dann ein Blauer mit Motorrad an die Kreuzung stellt, wirkt das ganz anders, als wenn einer sein Rennrad vor den Kühler eines Autos legt.
Wenn ich mir die Entwicklung unserer Stuttgarter CM so anschaue, dann scheint es mir sinnvoll, dass die Polizei beispielsweise mit amtlicher Autorität Busse und Stadtbahnen aufhält und große Kreuzungen sichert, wenn ein Tross von rund 2.000 Radler/innen durchzieht. Wir fahren regelmäßig große und für den Autoverkehr wichtige Straßen, teils auch solche, die sonst für Radler gesperrt sind. Und vielleicht ist es eine nette Geste der Polizei gegenüber, wenn man ihr die Route vorher zur Kenntnis gibt.
Der Vorteil, wenn man die CM als Demonstration anmeldet, ist, dass das Ordnungsamt sie nicht verbieten darf. Denn das Demonstrationrecht ist ein sehr hohes Gut bei uns. Bestenfalls kann es darum gehen, ob die gewünschte Strecke verändert werden sollte. Darüber wird dann mit den Veranstaltern gesprochen. Ziel muss dabei sein, dass die Demo stattfinden und gut abgewickelt werden kann. Dass Autofahrende dabei aufgehalten werden, darf kein Thema sein. Wenn eine CM in Frieden mit Ordungsamt und Polizei abgewickelt wird, kann das auch die Attraktivität für Menschen erhöhen, die keine Konfrontationen mit der Polizei haben wollen, beispielsweise weil sie mit ihren Kindern mitradeln wollen.
Der Nachteil ist, dass man einen Verantwortlichen und einen Stellvertreter benennen und dass man pro rund 50 erwarteten Teilnehmer/innen einen Ordner oder eine Ordnerin (mit Kennzeichnung als Ordner durch Armbinde oder Weste) bereitstellen muss. Die CM-Teams müssen sich also mit einer entsprechnenden Menge von Leuten gut vorbereiten und organisieren. Das ist Aufwand. Auch muss die Strecke vorher genau geplant werden, denn die Veranstaltung muss spätestens 48 Stunden vorher beim Ordnungsamt (mit Strecke und erwarteter Teilnehmerzahl) angemeldet worden sein. Die Spontaneität geht flöten.
Vielleicht sollte man als CM die Hürde für eine Arrangement mit Polizei und dem Ordnungsamt nicht zu hoch schrauben. Es geht der Stadt meist nicht darum, sie zu verhindern (kann sie ja auch nicht, wenn sie als Demo angemeldet wurde), sondern darum, sie so abzuwickeln, dass es nicht zu Unfällen mit dem Autoverkehr kommt. Ordnungsämter müssen qua Amt für Sicherheit sorgen, und wollen nicht, dass Radfahrende zu Schaden kommen. Da ist für die Ordnungskräfte leichter, wenn es aufseiten der Radfahrenden einen Ansprechpartner gibt und vorhersehbar ist, wie die CM fahren wird.
Ich finde es wichtig, dass eine CM regelmäßig stattfindet und von Mal zu Mal größer wird. Diese Critical-Mass-Fahrten sind ein wunderbares Mittel, dass sich in einer Stadt die Radfahrenden, die oft als Einzelkämpfer unter Autos unterwegs sind, finden und gemeinsam herumfahren und der autobesessenen Stadtgesellschaft zeigen, dass es viele Menschen gibt, die Rad fahren wollen, und zwar auf der Straße, die allen gehört, nicht nur den Autofahrenden. Ein bisschen eine Demonstration ist es halt schon.
Nachtrag: Und wie es gar nicht laufen sollte, vor allem nicht als angemeldete Radlerdemo, zeigt Konstanz. Was hier geschehen ist, ist ein behördlicher Hohn auf die Demonstrationsfreiheit, offenbar nur, weil es Radfahrende waren, nicht Fußgänger/innen. Man lese den Bericht von Seemoz: Die Demo war für einen Sonntagvormittag angemeldet, Wochen vorher, kein Autoverkehr zu erwarten, die Polizei erschien zu spät und machte dann erst die Auflagen (die man im Vorfeld mit den Veranstaltern hätte besprechen müssen): Auf Radwegen fahren, nicht als Verband, immer an allen roten Ampeln warten, auch wenn der Zug auseinandergerissen wird. So geht das nicht. Auflagen kann man nur machen, wenn die öffentliche Sicherheit gefährdet wird, ansonsten darf jeder zu jeder Zeit genau dort demonstrieren, wo er will. Verkehrsregeln gelten dann nicht. Auch ein Trauermarsch muss sich nicht durch Ampeln auseinanderreißen lassen, keine Verdi-Demo lässt sich von Ampeln auf der Fahrbahn stoppen, und die Polizei darf das auch nicht verlangen. Vielmehr schützt sie den Zug. So muss das auch bei einer Radlerdemo geschehen. Das Verhalten der Polizei sollte in Konstanz ein Nachspiel haben.
____ Anmerkungen:
Die CM Hamburg hat auf ihrer Seite eine Sädteliste hinterlegt, die du hier anschauen kannst.
*Eine Versammlung i.S.d. Artikel 8 Grundgesetz (GG) ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen Erörterung oder Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung (BVerfG NVwZ 2011, 422, 423; BVerfG NJW 2011, 1201, 1204
**In diesem Paragraphen werden unter anderem Radrennen und Mannschaftsfahrten als "erlaubnispflichtig" aufgeführt.
Die CM anzumelden, hat den Vorteil, dass auch Fahrradbegeisterte mitfahren, die sonst den Verkehr eher scheuen würden. Der große Nachteil der Anmeldung wiegt in meinen Augen aber erheblich: Radfahrende erreichen nichts. Die Stadt lässt Radfahrer einmal im Monat für einen kurzen Moment auf die Fahrbahn- und im Gegenzug halten sie die restliche Zeit die Füße still. Und genau das ist eigentlich nicht das Ziel; ich möchte sicher und so komfortabel Radfahren, wie es Autofahrer dürfen, und zwar jeden Tag und nicht nur einmal im Monat.
AntwortenLöschenLieer Michael, das möchte ich auch. Die Frage ist, ob man das mit einer CM erreicht, egal ob beantragt oder nicht. Manchmal denke ich mir, wenn die CM-Radler/innen nicht im Verand radeln würden, sondern einfach nur zu Tausenden auf der Straße fahren und an den Ampeln auch halten würden, dann hätte man von Radlern beanspruchte (meinetwegen verstopfte) Straßen, ohne dass irgendwer von der Polizei einen Ansatzpunkte hätte, das Radfahren zu verieten. Kann sie ja nicht, alle sind ja völlig regelgemäß unterwegs, nur eben mal zu Hunderten gleichzeitig. Man würde gewissermaßen sich den Weg nicht durch die 16-Regel bahnen, sondern einfach nur massivst am Verkehr teilnehmen. Ich denke solche Arten von CM hätten durchaus eine Wirkung.
LöschenNachtrag: Sorry, mein "b" hat nicht richtig funktioniert. Es fehlt an einigen Stellen.
Löschen" Manchmal denke ich mir, wenn die CM-Radler/innen nicht im Verand radeln würden, sondern einfach nur zu Tausenden auf der Straße fahren und an den Ampeln auch halten würden, ..."
LöschenGenau das denke ich schon lange!
Das könnte dann auch häufiger als nur einmal im Monat stattfinden.
Z.B. jeden Freitag von 17-19 Uhr in einem definierten Gebiet. Einfach nur (regelkonform) kreuz und quer durch die Straßen cruisen ... Ein Stück mit anderen radeln und sich wieder trennen ... Schnell oder langsam, wie es einem gefällt.
Viele Grüße
Claus
Danke für die schöne Zusammenfassung. In Düsseldorf begleitet übrigens nach einem Gespräch mit der Polizei nur die Fahrradstaffel die cm mit einem Besenwagen. Sehr angenehm. Bei zwei Spuren wird meist nicht mehr überholt und Kinder können entspannt mitfahren. Wenn Kfz Fahrer Probleme machen ist die Polizei vor Ort und nicht selten erkennen sie die Polizei auf dem Fahrrad erst spät, dann ist das schlucken und ängstliche schauen der "Täter" um so heftiger. Strecke und Tempo ist weiterhin frei demjenigen, der vorweg fährt. Unfall ist mir bisher einer bekannt mit einer Schiene. Das ist das Leid in einer Stadt mit Straßenbahn. Hatte mit der cm selbst eigentlich nichts zu tun.
AntwortenLöschen"Wenn ein kleiner Verband von zwanzig Rennradlern zum Training ausfährt, wirkt das nicht als Demonstration,..."
AntwortenLöschenWird aber trotzdem angehupt, geschnitten, abgedrängt.
Das Thema Leistungsradler ist eh völlig vernachlässigt.
Die Radinfrastruktur ist bei Tempo >30 und 25er Reifen nochmal ungeeigneter, als für andere Radler und drängt uns nochmal tiefer in die Illegalität.
Dabei wollen wir doch nur schnell fahren - ohne schlechtes Gewissen...
Stimmt, ist aber ein anderes Thema. Danke für deinen Kommentar, aber nenn doch am Schluss einen Namen, damit du für uns nicht anonym rüberkommst.
LöschenEine Ergänzung zur Critical Mass in Mannheim:
AntwortenLöschenNachdem zwei Polizeibeamte die Mass im Juli 2017 angehalten hat haben Mitfahrende der CM anonym eine entsprechende Stellungnahme verfasst. In dieser wurde auf das Wesen einer CM hingewiesen und nochmals aufgezeigt, dass es keinen Veranstaltungsleiter geben wird. Danach kam es zu keinen Kontakt mehr mit Team Blau. Die Mass hat hierbei ihre Größe von 70 - 100 TeilnehmerInnen beibehalten.
Seit Juni 2019 wird die Mass jedoch wieder von Team Blau begleitet. Die Polizei hofft nach wie vor einen Veranstaltungsleiter zu erhaschen, da dieser aber bisher nicht aufgezeigt hat, wurde die Mass so von den Schutzmännern begleitet.
Es wurde der Gruppe verboten zu corken und der Knaller war bei der letzten Mass im August, dass eine Besucherin aus münchen aufgefordert wurde aus der Alstenradkiste des LaMa (Lastenvelo Mannheim) auszusteigen. Dieses hatte sie extra für die Mass gebucht.
Einigen MitfahrerInnen geht die "Behütung" der Polizei etwas auf die Nerven. Zumal nicht die bei der Stadt Mannheim verfügbaren eBikes eingesetzt werden, sondern Mopeds eines bajuwarischen Fabrikats. Diese haben bisweilen teils sehr sportliche Manöver durchgeführt. einige Radfahrende fühlten sich von dem Fahrverhalten der Polizeimopeds bedrängt und verunsichert.
Es bleibt also spannend und die kreative Motivation des zivilen Ungehorsams einiger RadlerInnen wird derzeit sehr beflügelt.
Es bleibt spannend...
Lieben Gruß aus Monnem
Markus
Danke, Markus, für die Schilderung. Was den Transport von Erwaschsenen in den Kisten der Lastenräder betrifft, ist das leider auch verboten (müsste dringend in der StVO geändert werden, fordere ich immer wieder), bislang dürfen nur Kinder auf Rädern transportiert werden. Auch die CM Stuttgart wurde von Motorrädern begleitet, die teilweise über Gehwege am Tross vorbei bretterten. Wir halten inzwischen links eine Gasse frei, auch für die Korker, die vorfahen müssen. Ob man Korken einfach so verbieten kann, ist eine Frage, der ich mal nachgehe. Immerhin sichern die den Tross. Bei uns tun das die Ordner (ist ja angemeldet) und es git keine Probleme. Vielleicht überlegt ihr euch doch mal, ob ihr mit der Polizei zusammenarbeitet. Denn so ganz eindeutig ist ja die Erlaubnis einer Verandsfahrt von Rädern in der StVO ohne Verandsführer nicht. Wenn ihr diesen Kleinkampf mit der Polizei liebt, müsst ihr natürlich so weitermachen. Ich selbst denke mir manchmal, effektvoller wäre eine CM (als freie Fahrt), wenn sie nicht als Verband aufträte, sondern als Hunderte RAdler, die wie Autos auf der Fahrbahn fahren (also Radlerstaus produzieren) und an roten Ampeln auch massenaft warten und dann wieder starten. Dann ist das kein Verand, es sind nur einfach sehr viele Radler, die gleichzeitig unterwegs sind und, weil sie alle regelkonform fahren, der Polizei keinen Angriffpunkt bieten.
Löschen»Danke, Markus, für die Schilderung. Was den Transport von Erwachsenen in den Kisten der Lastenräder betrifft, ist das leider auch verboten ...«
LöschenNicht unbedingt. Es gibt ein Urteil des OLG Dresden, das den Transport von Erwachsenen auf Fahrrädern erlaubt, die dafür geeignet und sicher sind. Leider ging es in dem Urteil um eine mehrspurige Rikscha allerdings hebt der Tenor nicht darauf ab, sondern um den sicheren Transport der Passagiere. Warum ein Erwachsener in einer Lastenkiste die für 100 Kilo und mehr ausgelegt ist, nicht ebenso sicher transportiert wüerde, wie ein kleines Kind auf einem Kindersitz, müsste ein klagender Staatsanwalt erstmal schlüssig darlegen.
Herbert
Wir haben uns in Hamburg gut mit der Polizei arrangiert, der Umgang ist meist freundlich und entspannt, obwohl es auch bei 3000-6000 Teilnehmern *keine* Anmeldung gibt (wofür auch?). Die Polizei ist mit einer Hand voll Motorrädern und zwei Autos mit "nicht überholen"-Schildern am Ende dabei. Eigentlich wird die CM im Normalfall nicht gebraucht. In der Praxis kommt es aber hin und wieder zu Situationen, in denen die Anwesenheit der Polizei eine positive Wirkung hat. Um Kampf-Motoristen zur Räson zu bringen oder um nach Platzregen zwei zerteilte und weit von einander entfernte CM-Schlagen wieder zusammenzuführen.
AntwortenLöschen"Der Verkehr" wird übrigens nie lahmgelegt, schließlich fließt der Radverkehr bestens.
We are traffic!
Sorry, es sollte heißen "eigentlich wird die Polizei im Normalfall nicht gebraucht"
LöschenDanke, Sean: Ja, Hamburg scheint inzwischen ziemlich enstannt mit der CM umzugehen. Geht ja. Vielleicht sollte man zugeben, dass der Radverkehr rollt (ewas sehr schön ist), in den Seitenstraßen der Autoverkehr aber warten muss. Was auch okay ist, bei dem Privileg, was der Autoverkehr sonst genießt.
LöschenNatürlich müssen auch Autofahrer warten. Das sind sie aber zum einen gewohnt, das machen sie sonst auch oft, wenn keine CM unterwegs ist. Und es handelt sich bei Autofahrern in keiner Weise um bessere oder wichtigere Verkehrsteilnehmer als Radfahrer. Wir sind alle teil des Verkehrs, inklusive Radfahrer und Fußgänger.
AntwortenLöschenEinige Autofahrer sehen das mit dem Warten aber recht entspannt oder freuen sich sogar. Oft stehen Anwohner begeistert auf dem Balkon oder am Fenster und freuen sich, wenn der Verkehrslärm zurückgeht.
Außerdem ist die CM bewusst nicht in der Rushhour, vermutlich auch, um die Akzeptanz durch Staus nicht allzusehr zu belasten.
Und, last but not least: wenn ich mir die Teilnehmerzahlen deutschlandweit anschaue, kann ich den Gedanken des "Lahmlegens" erst recht nicht ernst nehmen. Es gibt laut ISWAF wenige wirklich große CMs in Deutschland. Die Wartezeit sollte sich bei Zahlen wie
Essen – 55
Freiburg – 135
Halle – 250
sehr in Grenzen halten. In Wahrheit handelt es sich hier - wie so oft beim gemeinen Autofahrer - um eine Neiddebatte. "Was machen diese Radfahrer hier, auf *meiner* Straße?"
http://itstartedwithafight.de/2019/08/27/critical-mass-teilnehmerzahlen-august-2019/
Im Artikel steht: "Auch darf ein geschlossener Verband nicht überholt werden."
AntwortenLöschenDer Paragraph zu geschlossenen Verbänden in der StVO sagt dazu nichts aus, steht das woanders?
In diesem Paragraph steht übrigens auch " Geschlossene Verbände [...] müssen, wenn ihre Länge dies erfordert, in angemessenen Abständen Zwischenräume für den übrigen Verkehr frei lassen".
Eine übliche CM mit vielen Teilnehmern ist demnach also entweder kein geschlossener Verband, oder diese Regel wird einfach ignoriert.
Die Regelungen zu den Unterbrechungen in angemessenen Abständen kam in Hamburg bisher nicht zur Anwendung, sie wird weder von der Polizei eingefordert, noch von den Teilnehmern für praktizierbar gehalten, da der einzelne Radfahrer nicht beurteilen kann, wann ein angemessener Zeitpunkt ist.
LöschenAuch ignoriert wird der Punkt, dass in Zweierreihen zu fahren ist. Bei großen CMs würde rein zweireihiges Fahren zu einer sehr, sehr langen Schlange führen, die die Wartezeiten an den Kreuzungen nochmal deutlich steigern würde.
Zumal es erlaubt ist, seine Mitarbeiter auf der Ladefläche des Pritschenwagens zur Baustelle zu karren. Hier wird mit zweierlei Maß geurteilt.
Löschen"Der Nachteil ist"... dass durch die Anmeldung die Fahrt keine Critical Mass mehr ist, da sie grundlegende Eigenschaften der Bewegung nicht mehr erfüllt.
AntwortenLöschenGanz simpel.
Muss ja jede CM für sich entscheiden, welche Bewegung sie will und aufrechterhalten kann. Und worauf es einem ankommt. In Hamburg scheinen auch Tausende sich gut durch die Stadt bewegen zu können (mit Polizeibegleitung allerdings) woanders stößt ein Trupp von 30 schon auf allgemeines Entsetzen bei den Autofahrern, die die Polizeu rufen. Ich habe schon spontane CM-Fahrten in kleinen Gruppen gemacht (so 16 bis 20), da kann man relativ spontan herumradeln. Ab hundert wird es schon komplizierter. Man sollte korken, irgendwer sollte vorne Entscheidungen treffen. Und tatsächlich sind die Regeln für Verbandsfahrten in Deutschland nicht ganz so locker und erfordern eben eigentlich ein Mindestmaß an Organisation und einen Verbandsführer.
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