21. März 2022

Die unsichtbare Mehrheit auf unseren Straßen

Fahrende Autos mit meist nur einem Menschen darin stellen in Stuttgart eine Minderheit dar. Dennoch glauben die Verteidiger der Autostadt immer, sie seien die Mehrheit. 

Tatsächlich bewegen sich in einer Großstadt an einem Tag nur rund 30 Prozent im eigenen Auto durch die Stadt, in manchen Städten auch weniger. In Stuttgart fuhren 2017 31 Prozent Auto, 29 Prozent gingen zu Fuß, 8 Prozent fuhren Fahrrad und 23 Prozent Bus und Bahn. Die rund 30 Prozent in Autos brauchen für ihre Art der Fortbewegung allerdings den meisten Platz, nämlich knapp 60 Prozent der Verkehrsflächen fürs Fahren und Parken. Ist jetzt keine Überraschung, wissen wir eigentlich. Nur, wir sehen es nicht. 

Menschen hinterm Lenker sehen sowieso keine Fußgänger:innen und auch die vielen Radfahrenden nicht, die in Seitenstraßen, auf Radwegen oder in Wäldern unterwegs sind. Aber auch wir alle sehen, wenn wir auf Kreuzungen gucken, nur die Autos, aber nicht die vielen Menschen an den Rändern, die nicht in Autos unterwegs sind. Deshalb habe ich mal gezählt. Die Fotos sind alle zufällig entstanden, also nicht zu ausgesuchten Uhrzeiten.

Das erste Foto (ganz oben) zeigt den Marienplatz. Menschen zu Fuß und auf Rädern haben einen grünen Punkt, fahrende Autos einen roten, geparkte einen rosafarbenen und abgestellte Fahrräder einen gelben Punkt. Wir sehen deutlich, dass abgesehen vom Bus nur drei Autos auf drei Straßen fahren, während vier Dutzend Fußgänger:innen unterwegs sind (abgesehen von denen, die im Bus sitzen). Es parken zwar auch viele Autos, aber es stehen auch viele Fahrräder herum (nicht mitgezählt, weil nicht auf dem Bild zu sehen, die unendlich vielen Fahrräder, die in den Radbügeln vorm Kaiserbau stehen). 

Auf dem Charlottenplatz ist am Samstagmittag viel los, viele Autos sind unterwegs, aber noch viel mehr Fußgänger:innen drängen sich auf den Gehwegen und der Fußgängerinsel und auf dem Überweg. 

Was wir niemals sehen, wenn wir diese riesige Autokreuzung betrachten, sind die Hunderte von Menschen, die unterirdisch durch die Etagen des U-Bahn-Knotenpunkts wuseln. Sie viele Autos können niemals über die Kreuzung fahren oder sich auf ihr stauen, wie unterirdisch Menschen unterwegs sind, unsichtbar für die Autowelt da oben. 

Auf dem Wilhelmsplatz in Cannstatt ist auch viel  los - autoverkehrsmäßig -, aber das täuscht. An den Rändern der Autospuren sind mehr Menschen zu Fuß unterwegs als in Autos. Sie warten an Fußgängerampeln, an Haltestellen (hier nicht zu sehen) und an Ampeln, sie gehen auf dem Gehweg, sie überqueren, wenn sie Grün bekommen, die Fahrbahn, sie sitzen im Bus, nutzen also den öffentlichen Nahverkehr. 

Wie viele Menschen an Haltestellen stehen, sieht man auf diesem Fotos von der Ecke Schloss-/Johannesstraße. Hier ist der Autoverkehr ja nicht so heftig, dennoch steht ihm sehr viel Platz zur Verfügung. Die meisten Menschen drängen sich auf  dem Bahnsteig der Haltestelle, dem schmalsten und beengtestem Verkehrsraum, nicht nur absolut, sondern auch in Relation zu der Menge der Menschen, die er fassen muss. 



Aber auch da, wo gerade viele Autos unterwegs sind, weil gerade Hauptverkehrzeit herrscht, nämlich am Schillerplatz in Vaihingen, sind die grünen Punkte doch nicht in der Minderzahl: Menschen, die wir kaum beachten, kaum sehen, nie zählen, wenn wir auf unsere für Autofahrende gemachten Kreuzungen blicken. Sie drücken sich am Rand entlang. Vor allem rechts bei den Häusern ist der Gehweg sehr schmal. Links wird er von kleinen Parkplätzen auch gleich wieder verkleinert. 

Auch wenn Fußgänger:innen und Radfahrende nicht so viel Raum um sich herum brauchen wie Autofahrende (ein Vorteil der selbstaktiven Mobilität), so ist er doch stellenweise erbärmlich für die Mobilitätsform der Mehrheit in einer Stadt, respektlos schmal, von Autos bedrängt, zugeparkt. Die Mehrheit der Menschen, die in einer Stadt unterwegs sind, wird schon arg verächtlich behandelt, ist immer das letzte Element in der Hackordnung, darf die breiten Fahrbahnen nicht betreten, muss an Fußgängerfurten lange warten. 

Tatsächlich dominiert eine Minderheit unser Verkehrssystem. Und das mit einer beachtlichen Ignoranz allen andern Verkehrsteilnehmenden gegenüber, die nicht im Auto sitzen. Fahrende Autos brauchen enorm viel Platz. Und die Leute, die sie benutzen, sind nicht einmal in der Überzahl. Glücklicherweise parken rund 90 Prozent der Autos, die es in Stuttgart gibt, gleichzeitig. Und es gibt in der Tat Straßen, nämlich reine Wohnstraßen, da sind die Autos immer heillos in der Überzahl, allerdings stehen sie nur, sie fahren nicht. Auch wenn geparkte Autos viel kostbaren Platz in einer Stadt verschlingen, so brauchen Autos, die gefahren werden, noch viel mehr, je schneller er fahren darf, desto mehr Platz braucht ein einzelner Autofahrer im Straßenraum für sich allein um sich herum, vor allem vor sich. 

Es wird Zeit, dass wir den Straßenverkehrsraum den Bedürfnissen der Mehrheit anpassen, nicht mehr ausschließlich denen einer Minderheit, die sich wegen der ungeheure Menge an Raum, auf dem sie sich in ihren Blechkapseln breit macht, für eine Mehrheit hält. 




6 Kommentare:

  1. Schöne Visualisierung, danke.
    Carsten

    AntwortenLöschen
  2. Jörg
    Im Auto sitzen laut Verkehrszählung in Stuttgart im Schnitt ca. 1,2 Personen. Das macht die Bilder nicht besser. Autos sind hinsichtlich Flächen- und Energieverbrauch extrem ineffizient, daraus ergibt sich die hohe Kostenineffizienz für die wir alle zahlen.

    AntwortenLöschen
  3. Schön. Gibt einen ähnlichen Post von Mark Treasure wo er so die Effizenz der Verkehrsmittel vergleicht: https://aseasyasridingabike.wordpress.com/2018/02/08/a-waste-of-space/

    Nur, wenn all diese Fragen was mit Wissen, Vernunft, Logik zu tun hätten, dann hätte man das doch eigentlich längst merken müssen...

    AntwortenLöschen
  4. Wenn wir nicht darüber reden und schreiben, immer wieder, merkt es niemand. 😊

    AntwortenLöschen
  5. Wir haben es ja noch nicht mal geschafft, den Teil der STVO von 1998 umzusetzen, der die Gleichheit von Fahrzeugen auf der Fahrbahn beinhaltet. Seitdem ist es eigentlich eine genuine Aufgabe der kommunalen Verwaltungen, dafür zu sorgen, dass alle Fahrzeuge gleichberechtigt und unter größtmöglicher Sicherheit die öffentlichen Fahrbahnen benutzen und Fußgänger auf ihren "Sonderwegen" gefälligst in Ruhe gelassen werden.

    Aber bei der Planung neuer Siedlungen existiert auch heute das Fahrbahnverbot für Fahrräder schon auf dem Papier, bevor die Siedlung überhaupt gebaut wurde.

    Von einer Gleichberechtigung von Fußgängern innerhalb geschlossenen Ortschaften sind wir geistig so weit entfernt wie die USA 1950 vom Civil Rights Act.

    Von einem Vorrang von Fußgängern/Fahrrädern/E-Rollern gegenüber dem MiV vermutlich noch viel weiter.

    Aber man soll ja die Hoffnung nicht aufgeben :-)

    S.Schwager, Fürstenfeldbruck, Bayern

    AntwortenLöschen
  6. Sehr schön dokumentiert. Das Auto ist stets dominant, weil es eben so viel Platz verbraucht- nach dem Motto: Wer am lautesten Schreit bekommt Recht.

    AntwortenLöschen