27. Juli 2017

Stuttgarts City soll nach und nach autofrei werden

Das hat der Gemeinderat gestern beschlossen. Natürlich mit knapper Mehrheit. 

Innerhalb des künftigen Ciytrings zwischen Paulinenbrücke, Wolframstraße, B14 und Theo soll kein unnötiger Autoverkehr mehr herrschen. So das Ziel. Gegner beschwören den wirtschaftlichen Tod der Innenstadt. Doch der Aktonsradius von Fußgängern, die mit Öffentlichen kommen, und Radfahrern ist viel größer als der von Autofahrern. Das nützt dem innerstädtischen Handel.


Gegner der Idee konzentrieren sich derzeit auf die 150 Straßenrandparkplätze, die nach und nach wegfallen sollen (ausgenommen Behindertenparkplätze und E-Auto-Ladestationen). Denen stehen jedoch 11.500 Parkplätze in Parkhäusern gegenüber, die selbst samstags nicht einmal voll ausgelastet sind. Und die bleiben. Autofahrer werden mit einem neuen Parkleitsystem zu den freien Stellplätzen gelotst. Das soll den Parkplatzsuchverkehr eindämmen, der an Samstagen mehr als die Hälfte des Autoverkehrs in den Citygassen ausmachen dürfte. Sie kurven und kurven durch die Tübinger- und die Eberhardstraße, durch die Bolz- und durch die Lautenschlagerstraße. Abends wird hier dann mit lauten Autos durchgeorgelt.

Der Handel befürchtet schon mal schnell Millioneneinbußen, wenn 150 Straßenrandparkplätze wegfallen. Einem Bericht der Stuttgarter Zeitung zufolge hat der Geschäftsführer von Wittwer, eine Rechnung aufgemacht. Sie lautet: Nimmt man 200 Parkplätze weg, und geht man davon aus, dass jeder Parkplatz rund acht Mal besetzt wird, und gibt jeder, der da aussteigt, nur 20 Euro aus, dann gehen der Innenstadt im Jahr 10 Millionen Euro Umsatz verloren. Vorausgesetzt, kein einziger steuert dann ein Parkhaus an.

Ich vermute, er und die Gegner der erweiterten Fußgängerzone denken an jene Kund/innen, die nur eine Kleinigkeit kaufen wollen - ein Buch abholen, Zigaretten kaufen oder was Leckeres zum Abendessen - und denen die Einfahrt in ein Parkhaus dafür zu umständlich erscheint. Die kurven dann durch die Straßen rund um das Geschäft, das sie ansteuern wollen. Dass man einen Parkplatz direkt vor dem Geschäft findet, ist allerdings extrem unwahrscheinlich. Wenn sie keinen Straßenrandparkplatz finden, dann fahren sie wieder weg, falls sie sich nicht regelwidrig in eine Park- oder Halteverbot stellen. Ich vermute, dass solche Autofahrer bestenfalls fünfzig bis hundert Meter zu Fuß zum Laden gehen wollen.

Oder es geht um Leute, die nicht in ein Parkhaus fahren wollen, wenn sie auf dem Markt vor dem Rathaus einkaufen möchten. Die stellen sich dann in die Eberhardstraße  oder an die Markthalle oder auf die wieder neu geschaffenen Parkplätze in der Dortheenstraße, falls sie dort einen freien Parkplatz finden. Sonst eben ins Halteverbot an der Marktstraße oder auf die E-Lade- oder Behindertenparkplätze in der Eberhardstraße. Ja, das wäre dann allerdings nicht mehr möglich.

Aber Autofahrer, die auf der Suche nach dem einen feien Parkplatz am Straßenrand (auch heute schon) scheitern, fahren ja nicht alle wieder heim, sondern dann halt eben doch in ein Parkhaus. Und die sind derzeit (außer am Milaneo) nicht einmal samstags vollbesetzt. Nehmen wir an, die Hälfte der Autofahrer, die jetzt nur am Straßenrand parken wollen, kommt nicht oder fährt wieder heim. Dann reduziert sich der vermutete Verlust auf 5 Millionen Euro.

Nehmen wir ferner an, dass das Parkleitsystem so gut funktioniert, dass 11.000 Stellplätze in den Parkgaragen besetzt wären und gehen wir auch hier davon aus, dass ein Stellplatz acht Mal genutzt wird und die Leute nicht nur 20 Euro ausgeben, sondern 30 Euro (weil sie ja zum Einkaufen angefahren sind), so würde das beim Handel einen Jahresumsatz von 800 Millionen Euro erzeugen (zurückhaltend mit 300 Verkaufstagen im Jahr berechnet).

Rund 70 Prozent der Kund/innen kommen jedoch auch jetzt schon mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Wenn die auch nur 30 Euro ausgeben, dann sind das 530 Millionen Euro pro Jahr. Macht zusammen 1,3 Milliarden Euro.

Aber die Rechnung stimmt natürlich nicht. Wer nur kurz was besorgen will, gibt weniger Geld aus, als wer extra in die Stadt fährt, um einzukaufen. Von Radlern weiß man, dass sie öfter in lokalen Läden einkaufen als Autofahrer, denn für sie ist es ja bequemer, sie sehen mehr, sie suchen nie Parkplatz. Außerdem ist der Aktionsradius von Radlern größer. Sie können schnell von einem zum anderen Ende des Citybereichs gelangen. Einen großen Aktionsradius haben auch die, die mit Öffentlichen wieder heimfahren. Sie können woanders einsteigen als sie ausgestiegen sind und ebenfalls die Einkaufsmeilen durchqueren. Den kleinsten Aktionsradius haben Autofahrer, weil sie ja immer wieder zum Parkplatz zurückkehren müssen. Sie wandern vom Breuninger Parkhaus nicht zum Milaneo und zurück. Sie bleiben in der Gegend, wo sie geparkt haben. Und weil die meisten Autofahrer Stammparkhäuser haben (die sie gut kennen und immer wieder aufsuchen) oder Stamm-Gehgeimparklätze am Straßenrand gehen sie immer wieder in dieselben Geschäfte.

Und jetzt ist die große Frage, auf welche Personengruppen der Handel eigentlich setzten will. Auf eine kleine Gruppe (die Autofahrer mit geringem Aktionsradius) oder auf die große Gruppe derer, die nicht mit dem Auto kommen und die ganze Innenstadt durchstreifen können. Für die wird die Innenstadt um so attraktiver, je weniger Autos darin herumfahren. Diese Erfahrung haben viele europäische Städte und sogar US-Städte bereits gemacht. Wo Autos wegbleiben, kommen Menschen hin. Gegen die Umwandlung der Königstraße in eine Fußgängerzone hat man sich einst auch gewehrt, und heute ist sie die belebteste Einkaufsstraße Stuttgarts. Diesen Effekt könnten die Tübinger Straße beim Gerber, die Eberhardstaße, die Bolzstraße, die Schillerstraße und das gesamte Gerberviertel (das momentan darniederliegt) auch genießen. An der Tübinger Straße, die bislang nur Fahrradstraße ist, aber mit etwas weniger Autoverkehr als vorher, sieht man den Effekt: Sie entwickelt sich zu einem Fußgängerbereich mit Gastronomie. Die Läden profitieren.

Wenn der Handel klug ist, dann fordert er Fußgänger- und Radlerbereiche vor dem eigenen Laden.

Tut er aber seltsamerweise nicht. Am neuen Dorotheenquartzier sieht man die Schizophrenie der Haltung des Handels: Hier wurde zwischen den Konsumhäusern ein Fußgängerbereich mit Gastronomie geschaffen. Da darf kein Auto rein. Denn auch Breuninger weiß: nur wo keine Autos sind, fühlen sich Fußgänger wohl. Auf der dem Cityring zugewandten Seite gibt es die Einfahrt in die Tiefgarage. Und rund ums Dorotheenquartier sollen Autos noch kurven. Wirklich? Das würde ich mir anstelle der dort angesiedelten Läden nicht gefallen lassen. Es schmälert die Laufkundschaft. Denn die wandert in autofreie Bereiche.

Übrigens: In Neapel haben die Händler ebenfalls den Untergang der Geschäfte prognostiziert, als die Stadt beschloss, die lange Einkaufsstraße von Parkplätzen und Autos freizuhalten. Niemand werde mehr kommen und einkaufen. Nach einem Jahr sahen sie das total anders. Die Umsätze stiegen gewaltig, denn die Leute blieben viel länger in der Straße und die Atmosphäre war besser. Als die Stadtverwaltung den Versuch beenden wollte, protestierten die Händler vehement. Sie wollten ihre Fußgängerzone behalten. Und die Stadt gab nach. Zum Glück.



5 Kommentare:

  1. Sehr schön! Ich hoffe, dieses Konzept wird weiter ausgebaut, und noch andere Superblocks werden innen autofrei. Hier ist Stuttgart in guter Gesellschaft von Städten wie Kopenhagen und Barcelona, die ebenfalls ihren Weg zu mehr Lebensqualität durch Inseln im Autoverkehr begonnen haben.

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  2. Gibt es denn einen Zeithorizont? Vor dem Frühjahr 2019?
    Karl

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    1. Bei den Haushaltsberatungen für Stuttgart sollen im Herbst erste Maßnahmen beschlossen und finanziert werden. Möglich wäre, dass man zunächst die Bolzstraße für den Verkehr sperrt und am Anfang mit einer Schranke versieht, damit die, die zum Parkhaus wollen einfahren. Auch die Eberhardstraße könnte man endlich für den Autoverkehr sperren, was der Fahrradstraße enorm gut täte und der Straße überhaupt. Aber jede dieser Maßnahmen muss im Gemeinderat erkämpft werden, und nicht für jede dürfte die Mehrheit jetzt schon stehen.

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  3. Sollen auch mehr Fahrradständer aufgestellt werden? Daran mangelt es in Stuttgart noch dazu überall.

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    1. Es geht schon auch darum, die Innenstadt fahrradtauglicher zu machen. Aber das hier ist nur ein so genannter Zielbeschluss. Und die Mehrheit war knapp. Jede einzelne Maßnahme, jede Umwidmung einer Straße muss vom Gemeinderat beschlossen werden. Die konkrete Umsetzung geht nur Zug um Zug und Abstimmung für Abstimmung.

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