29. Januar 2018

Notorisch blind für Radfahrende

Kürzlich bin ich auf einen Artikel in Spektrum der Wissenschaft übers Radfahren in Städten gestoßen. Er stammt aus dem Mai 1995 und lautet "Alltagsmobilität und nicht motorisierter Verkehr". 

Mir scheint, an der Diskussion hat sich binnen zwanzig Jahren nicht viel geändert. Immer noch wird Politik zugunsten des Autos gemacht, wenn auch der Fuß- und Radverkehr deutlich öfter zumindest in politischen Reden und Grundsatzbeschlüssen hervorgehoben wird.

"Wurde die Verkehrsplanung immer nur von Männern im besten Alter für Männer im besten Alter gemacht?"
Das fragt der Mobilitätsforscher von Socialdata, Erhard Erl und erläutert, dass die Verkehrssituation von Menschen gern nur aus der eigenen Perspektive wahrgenommen und dann verallgemeinert wird. Er schreibt "... die objektiven Bedingungen werden subjektiv wahrgenommen und individuell bewertet, von Verkehrsteilnehmern wie von Verkehrsplanern und politischen Gremien. Dabei wird der motorisierte Verkehr stark überbewertet, während dem nicht motorisierten für eine funktionierende und umweltverträgliche Verkehrsgestaltung oft wenig Beachtung geschenkt wird."


Etwa ein Viertel der Bewohner gehen in den damals untersuchten Gebieten zu Fuß (die Wege von und zum Parkplatz oder zur Haltestelle nicht mitgerechnet), der Radverkehr machte damals in Ballungsgebieten 10 Prozent aus. Wenn man die Verkehrsmittelwahl sozialdemographisch untersucht, dann "zeigt sich, dass in Ballungsgebieten von den erwerbstätigen Männern überdurchschnittlich viele einen Wagen fahren. Dieser Gruppe gehört aber auch der weitaus größere Teil der Meinungsbildner und Verkehrsplaner an. Die notorische Unterschätzung des nicht motorisierten Verkehrs entspricht also möglicherweise zum Teil einem Verallgemeinern des eigenen Verhaltens einer Untergruppe der Allgemeinheit."

Fahrradverkehr entlastet Stadtverkehr, wird aber kaum gefördert
Erls Institut hat viele nationale und internationale Untersuchungen durchgeführt. Dabei hat es festgestellt, dass ein Mensch, der das Haus verlässt, im Mittel zwei Aktivitäten pro Tag erledigt. Aber nur Dreiviertel der Bürger/innen gehen jeden Tag aus dem Haus. Daraus ergeben sich pro Person jeden Tag 1,6 Aktivitäten. Dafür sind rund drei Wege mit einer Gesamtdauer von einer Stunde notwendig (Siehe auch RiS: Das Fahrrad ist einfach zu schnell). Diese Werte hätten sich seit Mitte der 70er nicht verändert, schreibt er, aber die Strecke pro Person sei länger geworden (20 km mit dem Auto), und nur darauf hätten sich alle Diskussionen konzentriert. Dabei würden beträchtliche Wege im Nahbereich zurückgelegt. 25 Prozent sind nicht länger als ein Kilometer unterwegs, 50 Prozent nur drei Kilometer, 85 Prozent der Wege enden nach zehn Kilometern. Das war 1995 eine allgemeine Konstante in Städten und ist es so ähnlich bis heute. Siehe Foto ganz unten.

Die Hälfte der Autofahrten beschränken sich damals wie heute auf ein bis fünf Kilometer.  Während man heute sagt, mit dem Fahrrad ist man auf knapp 5 km immer schneller als mit dem Auto am Ziel (von Tür zu Tür), nannte Erl damals die Zahl von 2,7 km, auf denen ein Radfahrer schneller oder so schnell wie ein Autofahrer ankam. (Damals gab es weniger Autos auf den Straßen, die sich gegenseitig ausbremsen.) Fahrrad und Auto fuhren im Mittel mit 11 km/h vom Start zum Ziel. 60 Prozent der Autofahrten waren auch schon 1995 in Städten nicht unbedingt nötig. 30 Prozent der Autofahrten hätten sich durch eine Radfahrt oder den Weg zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln ersetzen lassen.

Ein fahrradfreundliches Klima fördert den Umstieg.
Zum Umstieg aufs Fahrrad bei solchen Strecken waren 1995 aber nur 24 Prozent der Befragten bereit. Die anderen fanden Gründe dagegen: dauere zu lang, Radfahren sei zu gefährlich, es gebe keine Radwege, das Klima in der Stadt sei fahrradfeindlich. Mit einer Verbesserung der Radinfrastruktur ließen sich nach Einsschätzung von Erl zusätzlich 12 bis 18 Prozent zum Radfahren bewegen. Wobei seiner Erfahrung nach die Infrastruktur samt Verkehrsberuhigung es nicht allein schafft. "Ein fahrradfreundliches Klima in unseren Städten zu schaffen, dürfte für eine verstärkte Nutzung dieses Verkehrsmittels die besten Chancen eröffnen."Von Pedelecs und dem Boom, die sie dem Radverkehr vor allem in Stuttgart verschaffen würden, hatte er damals noch keine Ahnung.

Just do it now!
Weglängen heute, 50 % unter 5 km
2004 veröffentlichte Erl zusammen mit Werber Brög eine Studie, die den Titel "Just do it! Wegweiser für Verhaltensänderungen" trägt. Sie zeigt auf, dass 74 Prozent der Deutschen in Städten die Folgen des Autoverkehrs inzwischen unerträglich finden und 81 Prozent eine Politik zugunsten leiserer und umweltfreundlicherer Verkehrsmittel erwarten, dass sie die Politik aber als ausgesprochen auto-freundlich und auto-orientiert erleben. Nach Ansicht von 70 Prozent hält die Politik die Stimmung der Bevölkerung fürs Auto für freundlicher als sie tatsächlich ist, täuscht sich also darin, was die Stadtbewohner/innen wirklich wollen: Rad fahren und zu Fuß gehen können und vor Autos Ruhe haben.





4 Kommentare:

  1. Sehr interessantes Fundstück, vielen Dank für den Artikel. Ich Frage mich, warum erst jetzt ernsthafter Druck durch Critical Mass etc aufgebaut wird wenn schon früher diese Fakten so offensichtlich waren. Ich bin auf dem Land aufgewachsen wo ohne Auto nichts ging, und beschäftige mich erst mit dem Thema seitdem ich in der Stadt wohne und war implizit davon ausgegangen, dass das Thema früher nicht so offensichtlich war.

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    1. Lieber Carsten, ich kenne Leute, die schon in den 80er Jahren in Stuttgart fleißig lange Strecken bergauf und bergab mit dem Rad gefahren sind. 1983 oder so soll es auch eine Radlerdemo gegeben haben, von der mir Teilnehmer erzählt haben, dass die Radler aus den Autos heraus beschimpft und natürlich angehupt wurden. Noch 2005 sind in Stuttgart nur die Rad gefahren, die das immer schon taten, erst mit den Pedelecs kamen ab 2006 neue hinzu, die wiederum jede Menge Menschen mit Standardrädern mitgezogen haben, sodass sich nach meiner Einschätzung die Menge der Radfahrenden innerhalb dieser Jahre gefühlt mindestens verdreifacht hat. Es gibt immer noch Politiker/innen, die behaupten, in Stuttgart könne man nicht Rad fahren wegen der Berge, und es würde auch kaum jemand Rad fahren. Die haben von Pedelecs noch nichts gehört oder halten sie für irrelevant. Die sehen keine Radfahrenden auf den Straßen. Sie sind blind dafür.

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    2. Druck aufgebaut wurde schon früher, Zitat aus einem SPIEGEL-Artikel von 1980 (!): ""Kieler Radler demonstrierten für den Ausbau ihrer Wege, Frankfurter für die Beförderung ihrer Stahlrösser in öffentlichen Verkehrsmitteln. Mittlerweile halten schon fünf Dutzend Initiativen, von der "Aktion Radfahren ohne Risiko" im hessischen Oberursel bis zur "AG der Radfahrer Volkshochschule Ludwigshafen", die Bewegung in Schwung.“
      Quelle: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14331570.html

      Vom Bundesbauministerium gab es 1986 die Broschüre "Stadtverkehr im Wandel". Darin das Kapitel "Rad ist in". Erster Satz darin: "Der Fahrradboom ist unübersehbar." Eine Zwischenüberschrift lautet: "Stiefkind Radverkehrsplanung".
      Quelle: http://www.verkehrsplanung.de/material_buero/StadtverkehrImWandel/

      Noch was wirklich ganz altes:
      Die "Festschrift zum vierzigjährigen Bestehen des Vereins Deutscher Fahrrad-Industrieller e.V.“ von 1928 hat ab Seite 88 ein ganzes Kapitel "Die Schaffung eines Radfahrwegenetzes in Deutschland“. Damals gab es eine "Arbeitsgemeinschaft zur Propagierung des Radfahrwegegedankens“. Abgedruckt werden auch die damaligen Empfehlungen zum Radwegebau, auch Radfahrstreifen gab es schon:
      http://www.digitalis.uni-koeln.de/Fahrrad/fahrrad_index.html

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    3. Vielen Dank, MarKo für deine schönen Hinweise. Wie lange es doch dauert, bis sich ein vernünftiger Gedanke wenigstens soweit durchsetzt, dass er Allgemeingut wird, auch wenn die Umsetzung dann immer noch mal 30 Jahre dauert.

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