1. August 2020

Ich wohne an einer Fahrradstraße ...

Der Mann kann viel erzählen und lässt sich  nichts sagen. Er redet, die anderen nicken nur noch. 

Rasende Radler und Schönwetterradler kommen in dem, was er erzählt, genauso vor wie Radfahrer (es sind immer nur Männer), die ihm absichtlich reingefahren sind (worein auch immer). Dabei, so sagt er, "Ich fahre ich selber Fahrrad, aber ..." Sie führen auf dem Gehweg, jeder vierte, nein jeder zweite nehme dem Auto, das von rechts kommt, die Vorfahrt. Und bei Regen, sei sowieso nur die Hälfte der Rafahrer unterwegs, und für die wolle man seine Straße in eine Fahrradstraße umwandeln und dafür Parkplätze wegnehmen. Die fahren doch sowieso alle auf dem Gehweg, er könne gar nicht mehr gefahrlos aus dem Haus treten, und in der Fußgängerzone am Spielplatz, wie die da rasen. Die könnten auch nicht einfach mal anhalten, wenn einer über die Straße gehen will. Man könne doch da einfach mal anhalten.


Dass die Parkplätze an den Ecke nicht für die Radfahrenden verschwinden, sondern für die Fußgänger:innen, hat man ihm schon oft erklärt, aber das kann er nicht in seinem Kopf behalten. Und es fällt ihm auch nicht ein, dass Autofahrende auf einer geraden Straße niemals einfach mal schnell anhalten, wenn ein Fußgänger rüber will. Er merkt nicht, dass schnelle Radfahrende auch nicht schneller sind als Autos in Tempo-30-Zonen. Und er sieht nicht, dass ein Parkplatz samt Grünstreifen die Radroute vom Spielplatz trennt und keine Kinder in Gefahr sind. Er hat in jedem Fall was an Radfahrern auszusetzen, egal, ob es viele sind, die durch seine Straße radeln, oder ob es wenige sind, weil es regnet. Er erkennt nicht, dass es immer noch besser ist, wenn an zwei Dritteln der Nicht-Regentage Menschen aufs Fahrrad steigen und nicht ins Auto. Straßen baut man ja auch für den Hauptverkehr, nicht für Sonntag-Vormittage, wo sie riesig und breit, aber gähend leer den Stadtraum blockieren.

Das alles kann er nicht sehen, vor allem aber nicht denken, wenn er seinen Lauf hat und sich über Radfahrer beschweren kann. Die Worte kommen von alleine und fabrizieren seine Gedanken, aus denen er dann nicht mehr rauskommt.

Es gibt in weiten Kreisen der Stadtbewohner:innen dieses automatisch ablaufendene Urteilsraster, sobald die Rede auf Radfahren kommt. (Gilt natürlich auch für andere Themen.)  Im Gemeinderat ruft es aus der Auto-konservativen Ecke immer "In welcher Welt leben Sie eigentlich?", wenn es um Maßnahmen zur Unterstützung des Radverkehr geht, für die Autos Platz hergeben müssen. Und die verbissensten Autoideologen werden den Radverkehrsbefürworter:innen immer Ideologie vor und gerne auch Realitätsferne.  Der eingefleischte Radgegner sagt fast immer: "Ich fahre ja selber Fahrrad, aber ..." Und dann kommt fast immer: "Kürzlich hat mich ein Radfahrer auf dem Gehweg fast umgefahren" oder "Die fahren immer auf dem Gehweg". Gerne werden dann noch E-Sooter erwähnt, die überall herumstehen. Und dann noch die Radfahrer!  Und natürlich: "Radfahrer halten sich ja an keine Regeln." Und immer fällt in Diskussionen die Behauptung, im Winter oder bei schlechtem Wetter fahre niemand Fahrrad. Und fast immer hören wir in so einer von Zorn gefütterten Rede, dass Radfahrer aggressiv seien, und zwar völlig unverständlicherweise.

Menschen reden sich gern in ihre einmal gefassten Urteile hinein und wiederholen sie wie am Schnürchen und ohne sich durch Argumente nachhaltig beirren zu lassen. Es kann gelingen, ein Vorurteil zu entkräften, aber das hält niemals lange an. Und so führen andere Menschen immer wieder dieselben Argumente an, um diesen Gedankenautomaten zu unterbrechen. Und es wird immer wieder dasselbe gesagt, von allen Seiten. Der Konflikt zwischen Parkplatz und Radabstellanlage, zwischen Radstreifen und Parkplätzen, zwischen Radweg und Autofahrbahnstreifen ist noch nicht entscheiden, er wird jedes Mal grundsästzlich diskutiert und mit immer denselben Argumenten.

Dessen müssen wir uns bewusst sein. Die Mobiltiätswende ist noch nicht beschlossen, ihre Notwendigkeit ist in einer Mehrheit oder knappen Minderheit der Köpfe noch nicht angekommen. Und die Fronten verhärten sich mit zunehmender Lust an empotionalem Reden.

Zonresreden fallen Menschen leichter als Reden, die auf Verständigung und Ausgleich zielen. Hass ist ein Gefühl, dass von alleine kommt, Verständnis muss man aus sich hervorholen, es ist anstrengender. Ich bin dafür, dass wir uns anstrengen. Mit Freundlichkeit  kommen wir Lösungen näher als mit Zorn.

13 Kommentare:

  1. Stoned:
    Sehr treffende Beschreibung. Stuttgart hat immer noch kein Gesamtkkonzept, immer wieder nur irgendwelche Absichtserklärungen mit anschliessenden Minimalmaßnahmen. Und das alles mit einem grünen (nicht präsenten) Oberbürgermeister, einem grünen Verkehrsminister, einem grünen Ministerpräsidenten. Das ist schon alles sehr, sehr bitter wenn man den heutigen Stand hier in Stuttgart bei uns sieht.

    Da klingt auch viel Frust bei Christine durch. Aber mach bitte weiter !
    Danke für Deinen bisherigen Einsatz.

    AntwortenLöschen
  2. ' jeder zweite nehme dem Auto, das von rechts kommt, die Vorfahrt. ' Der ist echt gut. Wie läuft es in der Realität ab wenn man ihm nicht die Vorfahrt nimmt?
    Als Radler komme ich an eine Kreuzung wo rechts ein Auto steht. Er hat Vorfahrt! In > 90% der Fälle läuft es wie folgt ab.
    * Radler lässt es rolen, verliert langsam an Geschwindigkeit -> Auto steht noch Fahrer schaut eigentlich kann man fahren.
    * Radler fängt an zu Bremsen -> Fahrer schaut
    * Radler bremst stärker -> Fahrer schaut
    * Radler steht oder steht fast -> Fahrer schaut oder winkt einem durch
    Frage an die Autofahrer: Warum fahren Sie nicht einfach raus? Warum warten Sie bis meine ganze Bewegungsenergie weg ist?
    Wenn gar keine Reaktion des Fahrers kommt, fahre ich normalerweise um das Auto herum um zumindest nicht anzuhalten.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. oh ja so ein radler auf der windschutzscheibe hinterlässt unschöne spuren am hochglanz. Nur wenn der radler staht ist diese gefahr sicher gebannt!

      Löschen
    2. haha, gut beschrieben. Ich radle an den wie gebannt auf den Radler starrenden Vorfahrtlern dann immer hinten ums Heck herum, wenn ich keine Lust habe, anzuhalten. Ist übrigens auch bei Fußgänge:innen beliebt: Der eine Tel rennt über den Zebrastreifen, ein Teil stampft selbstbewusst mit Todesverachtung für den Radler, ein dritter Teil steht zögerlich am Bordstein und hofft, dass ich zum Stillstand anhalte. Ich sage: "Gehen Sie doch (zügig), dann kann ich hinter Ihnen vorbeirollen." Antwort: "Ich hätte sie jetzt gelassen." (Ich verkneife mir zu sagen: "Aber dann über die Radlerin beschweren, die nicht am Zebrastreifen hält.") Kurzum: Es ist komplex. Ich schreibe noch mal was drüber.

      Löschen
    3. Auch immer gut, wenn man selbst den Zebrastreifen zur Überquerung der Fahrbahn nutzt. Vorrang hat man nur wenn man absteigt und schiebt, das nutze ich immer gerne aus und steige exakt vor dem Überweg ab und laufe mit dem Restschwung weiter. Böse Blicke und Kommentare erhält man, wenn man drüber fährt, obwohl dies explizit nicht verboten ist.

      Von Fahrradstaßen (mit KFZ-frei, Anlieger frei, etc) halte ich nicht viel, es gibt im Prinzip kaum einen Unterschied zur 30-Zone. Der ganze Schilderwald ist eigentlich überflüssig und verwirrt die Verkehrsteilnehmer nur noch. Eine richtige Fahrradstraße oder Fahrradzone dürfte bis auf wenige Ausnahmen wie Liefer- und Entsorgungsverkehr gar keinen KFZ-Verkehr aufweisen. Hier ist es leider umgekehrt, sämtliche Fahrradstraßen haben "KFZ-frei" und reine Fahrradstraßen existieren nicht.

      Ich halte mich bestimmt zu 95-99 Prozent an die Verkehrsregeln und erlebe immer wieder Besserwisser, die sich mir in den Weg stellen, sich beschweren, oder mich anhupen, weil sie einen vermeintlichen Vorfahrts-oder Rotlichtverstoß bei mir sehen.

      Löschen
    4. Stimmt nicht ganz, nicht sämtliche Fahrradstraßen haben Kfz-frei, in Stuttgart bisher nur eine. Die anderen haben Anlieger-frei und eine hat ein Verbot für den Pkw-Verkehr (und eine Einfahrtbeschränkung für den Lieferverkehr). Und obgleich ich mich auch immer wundere, was eine Fahrradstraße anders macht im Gegensatz zu einer Wohnstraße, so hat in der ersten langen Fahrradstraße, der Tübinger STraße, der Radverkehr sogleich nach Einführung zugenommen und sich der Charakter der Straße verändert, was Gasstro und Läden betrifft. Im Unterschied zu normalen Wohnstraßen (Tempo-30-Gebiete) haben Fahrradstraßen Vorrang vor Seitenstraßen. Das macht schon mal viel aus für Radfahrende, auch wenn es den meisten, die da radeln gar nicht bewusst ist. Komischerweise funktionieren Fahrradstraßen eben doch irgendwie.

      Löschen
    5. Neben Schildern müssen in Fahrradstrassen mit "Anlieger Frei" auch Maßnahmen vorgesehen werden sie für den Durchgangsverkehr unbrauchbar zu machen.
      So ist in Berlin die Linienstr. endlich für Radfahrer brauchbar, da durch umgekehrte Einbahnstrassenregelung für den Autoverkehr kein Durchgangsverkehr mehr möglich ist. Das kann man auch mit modalen Filtern machen.
      Ohne solche Maßnahmen bleiben diese Strassen für Autofahrer quasi normale Tempo 30 Strassen unabhängig ob da "Anlieger frei" steht.

      Löschen
  3. Zählen, messen, wiegen. Studien anschauen, Unfallzahlen anschauen, Statistiken mit Unfallursachen anschauen: neben den eigenen Überzeugungen und Ideologien auch objektive Fakten kennen und berücksichtigen, auch wenn sie nicht in das eigene Weltbild passen, auch das könnte helfen. Bei Corona sind wir in Deutschland damit vergleichsweise gut gefahren. Warum sollte das nicht auch in der Verkehrs- und Umweltpolitik klappen.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Bei Corona sind wir in Deutschland damit vergleichsweise gut gefahren. Warum sollte das nicht auch in der Verkehrs- und Umweltpolitik klappen.

      Falls sie dies ernst meinen sollten dann fangen sie Mal an die RKI-Berichte lesen. Ich glaube dann fangen sie an sich eiter in die Thematik zu vertiefen und glauben nicht unbedingt mehr was uns hier seit 5 Monaten gleichbleibend erzählt wird.
      Haben sie sich bsp. mal gefragt warum immer nur absolute Infektionszahlen präsentiert werden und dazu immer die jemals Infizierten und Toten.
      Was haben diese Zahlen für eine Bedeutung in einer epidemiologischen Lage?
      Würde dazu nicht auch die Zahlen der im Krankenhaus befindlichen Personen gehören, wäre die Infektionszahlen auch als Positivrate anzuzeigen,insbesondere wo die Gesamttests von 370.000 auf 570.000 gesteigert wurden?
      Für was sind die Gesamtzahlen in dieser Hinsicht nützlich?

      Löschen
  4. Ralph Gutschmidt2. August 2020 um 11:07

    Überall wird gerade darüber diskutiert, wie unfair es ist, wenn ein Autofahrer bei 21 km/h zu schnell den Führerschein abgeben muss (das heißt, in der Tempo 30 Zone zeigt der Tacho 60). Das sei eine Führerschein Vernichtungsmaschine.

    Politessen verteilen massenhaft Knöllchen, nur um die Kasse zu füllen.

    Aber die bösen Radfahrer halten sich nie an Regeln.

    AntwortenLöschen
  5. Im Gemeinderat ruft es ... immer "In welcher Welt leben Sie eigentlich?"

    Das kann ich sehr leicht beantworten:
    Seit Jahrzehnten mache ich das, von dem Alle sagen, dass es richtig und unausweichlich ist. Ich schaue, dass meine Wege im Alltag kurz sind, dass ich und meine Kinder selbstständig und eigenmobil diese kurzen Wege bewältigen können, ein Auto habe ich nicht und wenn's mit den Öffis nicht klappt, miete ich eins, ich suche regen Ausstausch mit Mandatsträgern aus Politik und Veraltung, bis hin zu aktivem zivilgesellschaftlichem Engagement in Partizipationsprozessen.

    Meine Welt ist schnell beschrieben: meine Interessen werden ignoriert oder ich werde wortreich vertröstet, dass solche Dinge eben Zeit brauchen und es Verständnis dafür braucht, das Veränderungen nicht von heute auf morgen geschehen.

    Wie gesagt.
    Seit Jahrzehnten.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Es leben verschiedene Menschen in ganz verschiedenen Welten, das ist offensichtlich. Wahrscheinlich ist es typisch, dass die Leute, die in der über Jahrzehnte alt hergebrachten Welt leben, meinen, dies sei die einzi9ge Welt, in der man leben könne und in der alle leben würden, andere Lebens- und Mobilitätskonzepte seien individuelle Ausnahmen und die, die Rad fahren, lebten in einer Parallelwelt oder so. Ich denke dann immer: "In welcher Welt lebt der eigentlich? Hat der noch nicht mitbekommen, dass wir in einer Klimakatastrophe stecken, nicht nicht mehr ihm, aber seinen Kindeskindern die Lebensgrundlagen nehmen wird.

      Löschen
    2. "Es leben verschiedene Menschen in ganz verschiedenen Welten, das ist offensichtlich."
      Das ist ka gerade der Wahnsinn, den Karl G. Fahr beschreibt, warum ist es möglich, dass die breite Mehrheit weiterhin so (vielfach bewusst und gewollt) uninformiert durch's Leben rennt und fährt? Ok, ich mache auch viel falsch und stecke in Sachzwängen und die gibt es auch bei allen Anderen, aber ich bemühe mich wenigstens. Eine Mehrheit der Leute aber tun nichts, und werden darin von Wirtschaft, Medien und Politik bestärkt. Besonders die Politiker laden sich durch ihr bewusstes Nichthandeln aktuell enorme Schuld auf.

      Löschen