5. September 2020

Fahrradhelme sind nicht für Zusammenstöße mit Autos gebaut

Fahrradhelme sind nicht dafür ausgelegt, Zusammenstöße mit Autos abzumildern. Sie werden so auch gar nicht getestet.

Das sagt  Eric Richter, Entwicklungsmanager von Giro, in einem Artikel von Forbes (nur Englisch). Radfahrer sollten sich nicht auf Fahrradhelme verlassen. Helme würden nicht entworfen, um die Schwere von Unfällen zu mildern und die Chancen der Radfahrenden zu verbessern. Es gebe so viele Möglichkeiten und Variabln bei einem Unfallsgeschehen, etwa Geschwindigkeit des Autos, Aufprallwinkel und die Gestalt des Fahrzeugs, dass man nicht alle Eventualitäten berechnen könne.

Im vergangenen Jahr haben demnach Untersuchungen des Autoherstellers Volvo und des Fahrradhelmherstellers POC ergeben, dass die derzeitigen Prüfverfahren für Fahrradhelme ziemlich dürftig sind. Die Helme werden bei solchen Test aus verschiedenen Höhen auf ebene oder schräge Flächen fallen gelassen. Das aber bildet nicht wirklich die Dynamik eines Aufpralls des Kopfes auf ein Fahrzeug ab, das von hinten, von vorn oder von der Seite kommen kann.

Allerdings habe ich den Eindruck, dass die Kenntnisse über Fahrradhelme, Anforderungen und Materialien wachsen. Und wer sich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen möchte, welcher Helm dann wenigstens den meisten Schutz bieten könnte, dem könnte diese Seite vielleicht weiterhelfen

Beliebt sind als Werbung fürs Helmtragen Demonstrationsversuche mit ungeschützter und geschützter Wassermelone. Wie in diesem Video zu sehen, wird die Wassermelone mit Helm auf den Scheitel (also auf die oberste Seite) fallen gelassen.  Die Wassermelone geht nicht kaputt. Sehr schön. Die Polizei hat ein ähnliches Video veröffentlicht, hier mit einem wassergefüllten Luftballon. Und der deutsche Verkehrssicherheitsrat hat eimmerhin den Wassermelonenversuch in einer anderen Versuchsanordnung mit seitlichem Aufprall gemacht. Aber solche  Selbst-Versuche können wissenschaftliche Ungtersuchungen realistischer Unfallsituationen nicht ersetzen.

Der behelmte Kopf eines Radfahrers knallt beim Zussammenstoß mit einem Auto ja nicht zuverlässig mit dem Scheitel auf eine Windschutzscheibe oder eine A-Säule, sondern vielleicht seitlich oder mit dem Hinterkopf, mal mit größerer und mal mit weniger Wucht. Solche Unfälle werden offenbar aber gar nicht ernsthaft durchgetestet. Anders etwa als in der Autoindustrie, wo man seit Jahren intenstive Forschungen mit Dummys betreibt (freilich nur mit solchen, die männlichen Körpern nachgebildet sind, nicht solchen für den weiblichen Körper). Die meisten Helme schützen die sogenannte Hutkrempenzone des Kopfs, vorausgesetzt man setzt ihn auch richtig auf. Wie das Material einen Stoß abfängt, der gedreht oder schräg verläuft, ist unklar. Der Schaumstoff dürfte bei geringen Geschwindigkeit Vieles abfangen. Aber ab wann nützt er nichts mehr oder verstärkt Verletzungen? Das wissen wir nicht. Zudem kann der Aufprall, auch wenn der Schädel nicht bricht, immer noch ein Hirntrauma auslösen, also eine Blutung zwischen Schädeldecke und Gehirn. Solch lebensgefährlichen Blutungen entwickeln sich übrigens langsam. Man fühlt sich nach dem Unfall noch ganz gut und stirbt dann einige Stunden später.

Der Artikel führt aus, dass im Jahr 2016 in den USA die Hälfte der bei Unfällen getöteten Radfahrenden keine Helme trugen. Die andere Hälfte starb, obgleich die Radfahrenden Helme trugen. Leichte Fahrradhelme, so Richter, die meistens aus Polystyrol gemacht sind, böten wenig Schutz gegen schnell fahrende und tonnenschwere Fahrzeuge.

Gerne werden Radfahrende von Autofahrenden angemacht, weil sie keine Helme tragen. Das ist mir auch mal passiert als ich ausnahmsweise mal keinen Helm trug. Der Autofahrer, der viel zu knapp an mir vorbeifuhr, schrie mich an, ich müsse einen Helm tragen. Es scheint Autofahrende zu entlasten, wenn sie sehen, dass jemand einen Helm trägt. Sie scheinen zu glauben, dann könne dem Radler ja nichts passieren und sie müssten weniger Rücksicht nehmen. Dazu passt die Erfahrung, dass Radfahrende knapper überholt und eher bedrängt werden, wenn sie einen Helm tragen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie aus dem Jahr 2007, die vielen von uns bekannt ist. Der zufolge wurden Frauen ohne Helm in Alltagskleidung weiträumiger überholt als Radfahrende mit Helm oder sie wurden gar nicht überholt. Zusammen mit einem australischen Statistiker wiederholte er 2018 die Studie mit ähnlichen Ergebenis.

Ich spreche mich hier nicht gegen das Helmtragen aus. Gegen eine Helmpflicht war und bin ich allerdings. Denn bevor man überhaupt über eine Helmpflicht nachdenkt, was derzeit niemand tut, muss man wissenschaftlich fundiert dafür sorgen, dass sie ihre Aufgabe auch erfüllen. Radfahrende verlassen sich schließlich darauf, dass die Dinger ihren Kopf schützen.

Eine Alternative ist übrigens der Kopf-Airbag von Hövding, der inzwischen wohl auch den Sturz auf einen Autokühler wirkungsvoll abhängt. Das tat er anfangs nicht, weil die Zeit vom Auslösen bis zum Aufprall auf die Windschutzschreibe nicht reichte. Er schützt mehr Kopfpartien als ein Helm und auch den Hals, und der Aufprall ist weicher. Der kostet rund 300 Euro. Hat er ausgelöst, muss man einen neuen kaufen. Und man muss ihn elektronisch betreuen (also regelmäßig aufladen). Leute, die schon lange mit einem Hövding radeln, berichten, dass sie inzwischen aufgehört haben, sich darüber Gedanken zu machen, ob sie ihn durch eine blöde Bewegung auslösen. Ich habe aber auch ein Video gesehen (das ich nicht mehr inde), wo er sich aufbläst nach einem Hin- und Her des Kopfes während des Radelns.

Für Statistker:innen hier noch ein Link zu den Fehlern, die man bei Helmstudien machen kann, und warum die, die es bisher gibt, nicht aussägekräftig sind.

15 Kommentare:

  1. Hierzu auch ein Artikel (von vor ein paar Jahren, die allerletzten Erkenntnisse sind also nicht berücksichtigt, aber grundsätzlich hat sich ja nichts geändert) von Jan Heine, der wie immer die Sache grundlegend durchdenkt (auch nur auf Englisch, aber das ist ja in Zeiten von deepl etc. kein Problem mehr):

    https://www.renehersecycles.com/helmets-wars-missing-the-point/

    Seine Schlussfolgerung auf Deutsch:
    "1. Auf individueller Ebene ist das Tragen eines Helms eine gute Idee. Er wird wahrscheinlich Ihre Verletzungen bei vielen Unfällen verringern, und er scheint selten Schaden anzurichten. [...]
    Auf gesellschaftlicher Ebene ist das Beharren auf Helmen schädlich. Es verschleiertt die Tatsache, dass a) Radfahren relativ sicher ist und b) die Sicherheit mehr in der Vermeidung von Unfällen liegt als im Versuch, diese zu überleben.

    Tragen Sie einen Helm, wenn Sie ein "Optimierer" sind - der Typ, der sich um die letzten 5% in Leistung oder Sicherheit sorgt. (Ich trage einen Helm!) Aber sagen Sie niemandem sonst, dass er einen Helm tragen oder nicht tragen soll! Konzentrieren wir uns stattdessen auf die Vermittlung von Radfahr- und Verkehrskompetenzen."

    Selbst hinzufügen muss man "den Bau vernünftiger Fahrradinfrastruktur und vor Allem das Zurückführen des motorisierten Verkehrs auf ein erträgliches Maß". (Man muss dazusagen, dass er in Amerika lebt uns sein Thema hauptsächlich Randonneur-Radler sind, also sportliches Langstreckenradfahren, eher anseits von Hauptverkehrsadern.)

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  2. "Denn bevor man überhaupt über eine Helmpflicht nachdenkt, was derzeit niemand tut"
    Das stimmt so leider nicht 100%-ig . Vorstöße, Initiativen und Debatten dazu gibt es immer wieder, in der Politik, ob von Verkehrsministern, Scheuer erst wieder letztes Jahr, in Bundesländern, Berlin vor nicht allzu langer Zeit, alle Nasen lang von irgendwelchen Medizinervereinigubgen, Unfallchirurgen vorneweg (dass die Forschung dazu nicht zu deren Grundausbildung gehört, erstaunt einen immer wieder), von der Autolobby sowieso.
    Es gibt in einigen europäischen Ländren Helmpflichten, ob nun in Spanien außerorts, in Finnland oder Malta überall, und in einwr ganzen Reihe von Ländern für Kinder und Jugendliche.

    Und immer wieder gibt es Vorstöße zu allgemeinen Helmpflichten für Pedelecs in der Schweiz erst jetzt wieder. Wenn die erst kommt, ist der Schritt zur Pflicht auch für normale Räder nicht mehr weit.

    All dad natürlich immer auf völlig falschen Grundlagen, wie Sie, Frau Lehmann schon sagen, da die Helme einfach nicht so schützen wie man glauben (machen) will. Die unglaubliche Anzahl von Seiten im Netz, die nach über 30 Jahren die längst desavouierten 84% Verringerung bei Kopfverletzungen aus der Thompson-Rivara-Thompson-Studie kolportieren. Und sie dann in den Gesetzesvorlagen stehen und zur Grundlage der Helmpflicht gemacht werden sollen.

    Und Ees gibt noch andere Formen der Helmpflicht. Die, die die Versicherer immer wieder de facto schaffen wollen, indem sie (aus den fadenscheinigsten Motiven heraus) eine Mitschuld des Fahrradfahrers an seinen Verletzungen postulieren. Was ist, wenn das mal vor einem Geticht von einem autofahrenden Richter hochgehalten wird?
    Und die soziale Helmpflicht, wenn man immer wieder blöd angemscht, ja angeschr

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    1. angepöbelt, gar angeschrien wird, warum man, oder das Kind, keinen Helm aufhabe? Wenn bei Veranstaltungen Helmpflicht vorheschrieben wird, wenn Kinder bei Kursen oder organisierten Ausflügen zu Helm, Warnweste etc. verdonnert werden.

      Die Helmpflicht ist immer nur gerade um die Ecke. Irgendwer ist immer in der Versuchung sich damit zu profilieren, die Politin vorneweg, um von den eigentlichen Versäumnissen, vom eigenen Fehlverhalten abzulenken. Denn wirklich nachdenken übder den Verkehr und die wahren Ursachen der Gefahren für Radfahrer, das will so gut wie niemand.

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  3. "Radfahrende verlassen sich schließlich darauf, dass die Dinger ihren Kopf schützen. "
    Dazu lohnt es sich https://www.zukunft-mobilitaet.net/116906/analyse/wirksamkeit-radhelm-studie-thompson-rivara-kritik/?highlight=helm zu lesen

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    1. Danke für den Link, der sehr gut die Probleme der ursprünglichen Thompson Rivara Thompson Studie und ganz allgemein von Fall-Kontrolle-Studien (case-control-studys zeigt. Es gibt meines Wissens keine einzige Kohorten-Studie, die einen Sicherheitsgewinn durch Helmtragen belegen würde.

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    2. Speziell zu Fall-Kontrolle-Studien zum Nachweis der Schutzwirkung von Helmen gibt es auch noch : https://www.fietsberaad.nl/Kennisbank/Overestimation-of-the-effectiveness-of-the-bicycle

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  4. Irgendwie erinnert mich die reflexartige Diskussion zum Thema "bloss keine Helmpflicht" an die Einführung der Gurtpflicht. Die Aussagen waren ähnlich: soll jeder selbst entscheiden, ist ja das eigene Leben, bringt nicht immer was, ist lästig
    Bestimmt sind die Möglichkeiten eines Helms begrenzt, was ja das auch ein Produktentwickler bestätigt. Bei einem Aufprall gegen eine Autokante (A-Säule oder Dachkante) kann es sein dass er wenig nützt.
    Meine eigene subjektive Erfahrung ist, dass bei Konfrontationen mit Autos meist ich zu Boden gehe. Es ist selten ein frontaler Zusammenprall.
    Vor kurzem hatte ich einen Alleinunfall, wegen eines Fahrfehlers ist das Vorderrad weggerutscht und ich bin seitlich gestürzt. Schlüsselbeinbruch, Schürfwunden. Der Helm sah übel aus, eine Seite ausgebrochen und zerknautscht. Der hat sehr viel Energie aufgenommen und ich bin heilfroh, dass ich ihn aufhatte. Kann das Helmtragen nur empfehlen.

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    1. Es gibt da einen entscheidenden Unterschied: Nirgends wo man Helmpflichten eingeführt ( z.B in Neuseeland) hat, konnte durch Vergleich des Unfallgeschehens vor der Einführung und Danach nachgewiesen werden, das der Helm eine Schutzwirkung hat. Bei der Gurtpflicht ist das Anderst.

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    2. Das große Problem der Helmpflicht ist ihre Alibi-Funktion und das Victim-Blaming, das sie beinhaltet und ermöglicht. Wie C. Lehmann schon sagt, dem Radfahrer soll mit eiiener ungeeigneten Maßnahme die Haupt-Verantwortung für seine Sicherheit zugeschanzt werden, damit die Autofahrer sich nicht schlecht fühlen müssen, wenn sie ihn in gefahr bringen, bzw. damit über die eigentliche Gefahrenquelle, den motorisierten Verkehr ausgiebig geschwiegen werden kann.

      Zum vergleich: Im Arbeitsschutz-Bereich steht persönliche Schutzausrüstung an letzter Stelle der Maßnahmen, Beseitung der Gefahr an der Quelle hat absoluten Vorrang.

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    3. Danke für eure Hinweise. Ich bin selber auch nicht für eine Helmpflicht. Die kommt auch gar nicht direkt, sondern auf Umwegen: Ich wurde im Krankenhaus gefragt, ob ich einen aufhatte, gleiches passiert wenn die Polizei es aufnimmt. Statistisch wird es wohl erfasst.
      Ich persönlich finde eben nur, dass ein Helm nützen kann, auch wenn ein Auto beteiligt ist. Bei vier Unfällen mit Autos wurde ich nie direkt angefahren, sondern irgendwie zu Fall gebracht. Da kann es durchaus wertvoll sein einen zu tragen.

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  5. schon lustig: wir diskutieren über radhelme und passiven schutz, um uns gegen gefahren zu schützen, die technisch bereits gelöst sind. es gibt möglichkeiten, um kollisionen von MIV mit schwächeren wirksam zu verhindern oder abzumildern.
    eine der führenden verbrecherischen organisationen unserer stadt hat gerade seinen neuen köder ausgelegt. was dort beworben wird - oder vielmehr nicht - spricht eine eindeutige sprache.
    welcome2hell:
    https://www.youtube.com/watch?v=-4zsY28t76k

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    1. ergänzung:
      aquaplaning hat als einzige ursache zu hohe geschwindigkeit.
      gegen opfer hilft dort ein einfaches, rigoros durchgesetztes tempolimit

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  6. Man kanns auch anders formulieren: Die Energie eines Autos mit 50 km/h entspricht in etwa der eines Projektils einer modernen NATO-Bordkanone. Beim Durchradeln einer Stadt/Ortschaft befinde ich mich also mitten im Kugelhagel eines aktiven Artilleriekriegsgebiets. Um rauszufinden, dass Fahrradhelme keinerlei messbare Wirkung zeigen, sind Studien also eigentlich überflüssig?

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  7. Sorry, credentials vergessen: S. Schwager, Fürstenfeldbruck

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